Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 180/3 - März 2024

 

 

Argumente für die Osterbotschaft - Dr. Andreas Rössler

Vom Ährenraufen am Sabbat - Wolfgang Blaich

Göttinger Manifest 2024 - Netzwerk Reform des Christentums

Fastenzeit - heute - Karin Klingbeil

Oxfam-Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024 - Karin Klingbeil

Der Wert von Werten - Mark Herrmann

Buchbesprechung: Autobiographie von Johannes Seitz - Birgit Arnold

Argumente für die Osterbotschaft

Wo es um den christlichen Glauben geht - nehmen wir als Beispiel die Botschaft von der Auferstehung Jesu -‚ meinen manche, man solle auf Argumente verzichten und stattdessen die Botschaft einfach kräftig unter die Leute bringen. Schließlich komme man nicht durch Argumente zum Glauben, sondern durch den Geist Gottes. Aber das ist keine stichhaltige Alternative. Der Geist Gottes kann sich verschiedener Mittel bedienen: etwa einer glaubwür­digen, beispielhaften Lebenspraxis, einer überzeugenden christlichen Verkündigung; und nicht zuletzt eben auch gründlich durchdachter, plausibler Argumente. Eine Theologie und eine Verkündigung, die argumentierend geartet sind, statt bloß zu verlautbaren, können sich auf ein Grundwort des Neuen Testaments berufen: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist« (1. Petrus 3,15).

Viele Zeitgenossen halten die Auferstehung Jesu für nicht nachvollziehbar. Wird hier etwa behauptet, ein einziger Mensch habe die Sterblichkeit durchbrochen und den Tod hinter sich gelassen? Kann es das geben, dass ein Toter körperlich aus dem Grab aufersteht? Und wenn schon, dann muss er danach doch wieder sterben. Von Jesus aber heißt es bei Lukas, er sei vierzig Tage nach seiner Auferstehung in den Himmel aufgefahren. Ist das nicht bloße Mytho­logie?

Wir haben aber zwischen den Vorstellungen und der gemeinten Sache zu unterscheiden. Was ist mit der neutestamentlichen Osterbotschaft eigentlich gemeint? »Der Herr ist aufer­standen, er ist wahrhaftig auferstanden!« (Ostergruß in der Ostkirche); »Jesus lebt, mit ihm auch ich! Tod, wo sind nun deine Schrecken?« (Christian Fürchtegott Gellert): das ist der Sinngehalt, der natürlich auch anders formuliert werden kann. Aber auch an diesen noch so geistig formulierten Sinngehalt der Osterbotschaft ist die Wahrheitsfrage zu richten.

Was ist wahr an der Botschaft von der Auferstehung Jesu? Drei Vorbemerkungen sind zu machen: Erstens haben Menschen offensichtlich Jesus nach seinem Kreuzestod »gesehen«. Er ist ihnen erschienen (1. Korinther 15,3-7) - wie immer das auch zu deuten ist, ob als bloße Illusion und Fiktion oder aber als seelische Vorgänge, durch die sich Gott mitgeteilt hat. Zweitens ist die Sprache, in die jede gläubig-christliche Interpretation dieses Vorgangs gefasst ist, gleichnishaft-symbolisch. Dabei ist »Auferweckung« ein deutlicheres Symbol als »Aufer­stehung«: »Auferweckung« signalisiert, dass Jesus etwas von Gott her widerfahren ist. Drit­tens ist mit dem Symbol der Auferstehung Jesu auf alle Fälle gemeint: Gott hat Ja zu Jesus gesagt, zu seinem Leben, seinem Dasein für andere, seiner Verkündigung der unverdienten Gnade. Während jene, die ihn kreuzigen ließen, ihn zu vernichten meinten, hat Gott Jesus zu sich genommen. Er selbst lebt, nicht bloß in den Herzen derer, die ihm nachfolgen, sondern in Gott - wie wir das übrigens auch für uns selbst hoffen mögen. Und was in Jesu Verkündigung wahr ist, wird sich gegen alle Widerstände durchsetzen - auch über den Tod hinaus.

Für die Wahrheit der Botschaft, dass Jesus bei Gott lebt und dass seine Botschaft von der Liebe Gottes das letzte Wort behalten wird, gibt es keine strengen Beweise, aber auch keine eindeutigen Gegenbeweise. Das kann auch nicht sein, genauso wenig wie es strenge Beweise dafür geben kann, dass die »Gestalt« des Absoluten, des Unbedingten, der alles bestim­menden Tiefe der Wirklichkeit tatsächlich geistiger Wille ist, zu dem wir mit unserem Geist in innere Gemeinschaft treten können, und dass der wahre »Charakter« des Absoluten die Macht der Liebe ist und nicht etwa eine kalte oder gar blinde Schicksalsmacht.

Es kann in der Frage des Wesens und Willens Gottes keine Beweise geben, da sich prinzi­piell für alle Menschen nachvollziehbare Beweise nur in Fragen der uns direkt zugänglichen Welt erbringen lassen, nicht aber hinsichtlich des Hintergrundes, des Geheimnisses des Da­seins. Beweise kann es nicht geben, wohl aber Argumente, das heißt mehr oder weniger plau­sible Hinweise, Gesichtspunkte, Gründe, Belege. Wer argumentiert, muss aber um der besse­ren Wahrheitserkenntnis willen auch Einwände gegen seine Argumente, also Gegenargumen­te zur Kenntnis nehmen, bedenken, verarbeiten - wobei es im äußersten Fall sein kann, dass man durch Gegenargumente insgesamt eines Besseren belehrt wird und dann seine Grundüberzeugung revidieren muss.

Die Frage bleibt also: Ist die noch so sehr von zeitbedingten, welt-bildhaften, heute nicht mehr nachvollziehbaren Vorstellungen gereinigte Osterbotschaft denn auch wahr? Es sollen im Folgenden ein paar Argumente gesammelt werden, wie gesagt nicht als »Beweise« dafür, dass Jesus lebt, aber als Hinweise, als Gesichtspunkte, die für die Plausibilität der Osterbot­schaft sprechen.

Dabei sind manche Argumente stärker, andere schwächer. »Jesus ist auferstanden, weil es das Neue Testament einhellig bezeugt und voraussetzt«: Das ist für zweifelnde und suchende Christen, für Andersgläubige, für Atheisten und für religiös Gleichgültige ein schwaches Argument. Es setzt nämlich voraus, dass die Bibel einfach recht hat und Gottes Wort ist. Diese Voraussetzung kann aber nicht für selbstverständlich genommen werden, zumal es in der Bibel Widersprüche und auch höchst problematische Stellen gibt. »Jesus ist auferstanden, weil es die Kirche so verkündigt«: Auch das ist ein schwaches Argument, weil es eine Art Irrtums­losigkeit oder Unfehlbarkeit »der Kirche« voraussetzt. Wir wissen aber, dass »die Kirche« in allen ihren Konfessionen oft genug geirrt hat und irrt und in moralischer Hinsicht fehlgeleitet gewesen ist und nicht selten immer noch ist. »Jesus ist auferstanden, das weiß ich, weil ich fest davon überzeugt bin«: Auch das ist ein schwaches Argument, denn nicht jede Überzeu­gung, die irgendjemand mit voller Gewissheit vertritt, ist deshalb schon wahr.

Ein erstes stärkeres Argument kommt aus der Geschichte, und dafür ist das Neue Testa­ment das Dokument schlechthin. Etwas historisch Nachvollziehbares ist passiert. Jesu Jünger waren nach der Hinrichtung ihres Meisters zunächst verstört und geschockt. Dann aber trat eine Wende ein. Sie verkündigten Jesus als lebendig und gaben dafür, wenn es sein musste, auch ihr Leben hin. Diese Kehre setzt Begegnungen mit Jesus voraus, der als lebendig er­fahren wurde. Man kann solche Visionen dann verschieden deuten. Waren es lediglich inner­seelische Vorgänge? Waren es Halluzinationen, Spukerlebnisse? Oder entspricht den Erschei­nungen eine Grundlage in der Wirklichkeit (ein »fundamentum in re«)? Das übersteigt die hi­storisch-wissenschaftliche Kompetenz. Aber unbestreitbar hatten die Ostervisionen eine ganz außergewöhnliche religionsgeschichtliche und weltgeschichtliche Wirkung.

Ein zweites stärkeres Argument ergibt sich daraus, dass man einmal probeweise das Ge­genteil der Wahrheit der Osterbotschaft voraussetzt.

Jesus von Nazareth war ein durch und durch glaubwürdiger Mensch. Er lebte für andere und opferte sich für sie auf. Er heilte, sprach von der Last der Schuld frei, zeigte die Liebe als die einzig angemessene Lebensweise auf, kümmerte sich um Verachtete, Geächtete und Ausgestoßene, gab Menschen ihre Würde zurück und versicherte ihnen, von Gott angenom­men zu sein und zu Gottes Reich zu gehören. Dann wurde er, der vollkommen Unschuldige, hingerichtet durch den Machtwillen der Herrschenden, die enge Frömmigkeit derer, die mit ihrer eigenen Leistung vor Gott etwas gelten wollten, und die Gleichgültigkeit einer wankel­mütigen Menge. Einmal vorausgesetzt, man konnte ihn einfach so aus der Welt schaffen und der ganz und gar Wohlmeinende und auf Gewalt Verzichtende, der die Feindesliebe prakti­zierte, war gescheitert: dann ist es eben in der Welt so, dass die brutalen Täter über ihre hilflosen Opfer triumphieren. Ist Jesus im Nichts untergegangen, dann müssen wir für uns selbst und für unsere Lieben davon ausgehen, dass mit dem Tod alles aus ist. Zudem macht es dann letztlich keinen Unterschied, ob man wie Nero oder wie Franz von Assisi lebt, wie Hitler oder wie Albert Schweitzer, wie Stalin oder wie Gandhi. Es ist dann alles wie ein bloßer Hauch gewesen, und dann folgt das totale Nichts.

Die Kehrseite dieser negativen ist dann die positive Voraussetzung: Wenn Jesus durch Leiden, Kreuz und schreckliches Sterben hindurch in Gottes Ewigkeit eingegangen ist, dann dürfen wir auch für uns selbst und für andere hoffen, dass das, was wir erleben und was wir an Schlimmem erleiden mögen, was wir schaffen und was wir auf uns nehmen, und dass insbe­sondere die Liebe und die Wahrheitssuche nicht vergeblich sind. Wenn die Osterbotschaft in ihrem Kern wahr ist, dann haben wir die Freiheit, ganz im Diesseits unsere Aufgaben zu erfüllen, und haben zugleich die Erwartung, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern dass Gott uns halten und aufbewahren wird und uns in sein vollendetes Reich hineinnehmen wird.

Dieses Argument fasst »Ostererfahrungen« in sich ‚ die auch wir in der Gegenwart machen können. Der Geist Jesu ist wirksam, wenn wir auf Menschen treffen, die unsere Hilfe brau­chen; oder wenn wir Menschen begegnen, an denen in intensiver Weise Liebe, Opferbereit­schaft und Wahrheitsmut wahrzunehmen ist; oder wenn wir auf Menschen stoßen, die uns trösten, ermutigen, aufhelfen, oder die uns unerwartet und unverdient annehmen.

Oft genug haben wir Leiden und »Kreuz« durchzumachen. Wir scheinen am Ende zu sein. Auf einmal gewinnen wir neue Kraft, neuen Mut. Wege, Aufgaben, Perspektiven tun sich auf. Solche Erfahrung lassen sich im Licht der Osterbotschaft deuten. So lernen wir darauf ver­trauen, dass sich Gottes Liebe durchsetzen wird, ansatzweise jetzt schon in uns und in ande­ren, dann aber vollendet über den Tod hinaus in Gottes Ewigkeit.

Andreas Rössler in »Denkwege eines freien Christentums«

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Vom Ährenraufen am Sabbat

(Markus 2,23-28)

»Du sollst den Feiertag heiligen.« Ich kann mich an meine Kindheit erinnern, wo dieses 3. Ge­bot noch sehr viel mehr geachtet wurde, als wir es heute erleben. Tanzen, Kino, Gartenarbeit, Wäsche waschen, Auto waschen - das waren Tätigkeiten, die am Sonn- und Feiertag nicht erlaubt waren, und Zuwiderhandlung oft Anstoß bei der Nachbarschaft gefunden hat.

Davon erzählt auch die Begebenheit im Markusevangelium. Jesus und seine Jünger gehen über das Land. Die Jünger sind hungrig, wohl sehr hungrig, wenn sie bereit sind, trockene Getreidekörner zu sich zu nehmen. Ähren raufen ist wohl Mundraub, was durchaus geduldet wurde, und die Jünger wussten aus dem Gesetz, dass man sich für den akuten Eigenbedarf auf fremden Äckern bedienen darf. Aber sie haben auf den Tag nicht geachtet und wurden deshalb von Pharisäern ob ihres Verhaltens für die Missachtung des Sabbats gerügt. Dazu ist zu bemerken, dass den Jüngern das Einhalten der Gesetze durchaus wichtig war (Matthäus 11,28) und sie bemüht waren, diesen gerecht zu werden. Ihnen waren die Gesetzeslehren bekannt und ihnen waren die Worte aus der Schöpfungsgeschichte vermutlich vertraut, so wie es am Anfang steht: «Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte.« Und der Mensch soll es Gott gleichtun: «Du sollst den Tag des Herrn heiligen!«

Diese Begebenheit wird in den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas wiedergege­ben. Das lässt den Schluss zu, dass den Schreibern dieser Evangelien die Botschaft sehr wichtig gewesen sein muss. Und das wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Schilderung der Begebenheit identisch ist, auch einschließlich der Entgegnung von Jesus gegenüber den Vorwürfen der Pharisäer. Er erinnert sie nämlich an das Verhalten von David, der eben auch aus Hunger mit denen, die bei ihm waren, in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die nach dem Gesetz niemand essen durfte außer den Priestern. Bezeichnen­derweise aber weicht der Markustext hier von den anderen ab, wenn Jesus lehrt: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.«

Jesus sieht uns in unserer Bedürftigkeit, sieht, wenn wir leiden. Der Mensch kommt für ihn vor dem Gesetz. Er legt Gebote nach dem Maßstab der Barmherzigkeit aus und verhilft so zu mehr Freiheit bei der Anwendung des Gesetzes, ohne es auszuhöhlen. Für ihn steckt hinter allen Regeln ein Gott der Liebe.

Wolfgang Blaich

 

Seit einiger Zeit gibt es Bestrebungen liberaler christlicher Gruppierungen, sich besser zu ver­netzen. Unter der Bezeichnung »Netzwerk Reform des Christentums« kamen im Theologicum der Göttinger Universität Mitglieder mehrerer liberaler Gruppen zusammen; auch der Schrift­leiter des Bundes für Freies Christentum, Kurt Bangert, nahm daran teil. Ziel der Vernetzung ist, notwendige Reformen der Kirche anzustoßen bzw. voranzutreiben. Neben einer besseren Vernetzung wurde auch inhaltlich diskutiert: vor allem zu der Frage, was eigentlich den Kern des Christentums ausmacht und welche Aufgaben für die Kirche daraus folgen.

Es waren rund 22 Theologen beiderlei Geschlechts sowie einige Laien anwesend, und auch unter liberalen Theologen ist es nicht leicht, einen Konsens zu erzielen. Aber man konnte sich auf einen Kompromiss einigen, der ein Anstoß sein soll für weiterführende Diskussionen in kirchlichen Kreisen. Benannt wurde das Papier:

Göttinger Manifest 2024

Das Wesen des Christentums und die Aufgabe der Kirche

Die Kirchen durchleben derzeit eine fundamentale Krise. Kirchenleitungen haben darauf bisher lediglich mit Strukturreformen, vor allem aber mit Ratlosigkeit reagiert. Sie erkennen nicht, dass die Krise nicht zuletzt auch dadurch zustande kam, dass die Kirche ihrem eigentlichen Wesen und Auftrag nicht in angemessener Weise nachgekommen ist. Viele Kirchenvertreter halten an traditionellen Praktiken und orthodoxen Lehrmeinungen unbeirrt und ohne Selbstkri­tik fest. Die Kirche muss dem Wesen des Christentums und den sich daraus ergebenden Auf­gaben für das Leben wieder entsprechen. Sie braucht dringend eine grundlegende Reform. Sie wird dazu aufgefordert, eine offene Diskussion über die Lage des Christentums in der Ge­genwart zu beginnen, an der auch die wissenschaftliche Theologie zu beteiligen ist.

So verstehen wir das Christentum

Das Christentum ist, so wie alle Religionen, eine Sichtweise des Lebens, die sich wesentlich aus tiefem Erleben und existenziellen Fragen speist und mit einer bestimmten Lebenspraxis verbindet. Es lässt sich nicht in der Form von lehrbaren Glaubensaussagen und Bekenntnis­sen darstellen. Gott ist die Benennung für den unverfügbaren Grund solcher Erfahrung. Spezi­fikum des Christentums ist die Orientierung an Jesu Lehre vom und Praxis des Reiches Got­tes, die das Göttliche in den Dingen des Lebens und der Welt gegenwärtig und wirksam sieht. Sie zielt auf eine Veränderung des Menschen und seiner Beziehungen zur Welt, die der Ehr­furcht vor dem Leben folgt. Die Bibel spricht von Gott als dem großen Geheimnis der Wirk­lichkeit in vielen Sinnbildern, die die Erfahrung der Geborgenheit und der freien Entfaltung des Lebens ausdrücken wollen (Liebe, Geist, Hirte, Burg, Schirm, Vater, Mutter usw.).

Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen

1. Die traditionellen Grenzlinien zwischen den Konfessionen und Religionen sind zu großen Teilen überholt. Alle Religionen sind auf ihre Weise auf der Suche nach einer Darstellung ihrer Sicht des Lebens und der Welt.

2. Religiöse Aussagen sind keine Tatsachen und keine lehrbaren Wahrheiten, sondern immer symbolische Deutung von Erfahrung. Statt einem wörtlichen Für-Wahr-Halten müssen Theolo­gie und Kirche erkennbar einem aufgeklärten symbolischen Religionsverständnis zuarbeiten. Das ist der Gemeinde zumutbar und von früh auf pädagogisch anzubahnen.

3. Religion ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Leben. Die Kirche darf die Menschen in der Bewältigung ihrer Lebenserfahrungen nicht allein lassen. Sie muss daher vor allem ande­ren Raum für die Lebensfragen und existenziellen Erfahrungen der Menschen heute bereitstel­len und ihnen Deutungsangebote zur Seite stellen. Sie ist der einzige öffentliche Ort, an dem das möglich ist, und wird hier dringend gebraucht. Sie muss Möglichkeiten tiefen Erlebens und der spirituellen Praxis (Meditation, Pilgern, Auszeiten usw.) pflegen und anbieten. Glaubens­lehren sind ebenso wie die kirchliche Praxis selbstkritisch darauf hin zu überprüfen, ob sie der Deutung des Lebens heute dienen. Wo nicht (z.B. Apostolicum, Sühnetodlehre usw.), sind sie aufzugeben. Gottesdienste sind auf diese Veränderungen einzustellen.

4. Die christliche Religion braucht Gottesbilder, die der gegenwärtigen Sicht des Lebens und den Erfahrungen der Menschen heute entsprechen: Tiefe des Seins, Inbegriff der Wirklichkeit, Kraftquelle, Resonanzgrund usw. 5. Die Kirche wird im Sinne der Reich-Gottes-Lehre Jesu für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintreten, das vorleben und die Ge­meinden entsprechend ermutigen.

Verfasst von Mitgliedern der Gesellschaft für Glaubensreform (GfGR), Gruppe Liberaler Christen, Wir sind Kirche, Bonhoefferverein (dbv), Bund für freies Christentum, Klartext Jesus, Aktion Kirche und Tiere (AKUT)

Fastenzeit - heute

Seit Aschermittwoch (14. Februar) befinden wir uns in der Fastenzeit, in der sich Christen seit Jesu Tod in den Wochen vor Karfreitag an das Leiden und Sterben Jesu erinnern und sich auf Ostern, das Fest der Auferstehung Jesu, vorbereiten. Symbolisch soll die Fastenzeit - ange­lehnt an das 40-tägige Fasten Jesu in der Wüste - auch 40 Tage dauern (die Sonntage werden als Feiertage seit dem 5. Jahrhundert ausgenommen). Bis zum Mittelalter hatte sich eine Fas­tenpraxis herausgebildet, nach der nur eine Mahlzeit am Tag erlaubt war und der Verzehr von Fleisch, Milchprodukten, Alkohol und Eiern verboten. Heute verbindet wohl kaum mehr jemand sein Seelenheil mit dem Einhalten derartiger Regeln. Aber dennoch haben viele das Bedürfnis, eine Zeitlang auf Gewohntes zu verzichten, um eine Zeit der Einkehr, Umkehr und Besinnung zu begehen. Im Alten Testament steht das Fasten für Übergänge zwischen unterschiedlichen Phasen und Sphären.

Nachdem von den Reformatoren das Fasten als gutes Werk (Stichwort Rechtfertigung) ab­gelehnt wurde, war der Brauch in den protestantischen Kirchen über die Jahrhunderte in Ver­gessenheit geraten. Anfang der 1980er Jahre beschloss eine Gruppe von Journalisten und Theologen, die Fastentradition vor Ostern wieder aufzunehmen. Ein Aufruf in der Kirchenzei­tung sorgte für immer mehr Teilnehmende, so dass heute etwa 3 Millionen, bei Verzicht von gewissen Nahrungs- und Genussmitteln sogar über 11 Millionen Menschen teilnehmen. Die Aktion hat also die ursprünglich allgemeine christliche Tradition im deutschen Protestantismus wieder populär gemacht und wird heute vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik organisiert, betreut und unterstützt.

Nach protestantischem Verständnis darf heutzutage jeder, der auf etwas verzichten möchte, selbst entscheiden, was ihm gut tut - seit über 20 Jahren hat das Motto »7 Wochen ohne ...« nichts mehr mit dem Verzicht auf Essen oder Trinken zu tun, sondern befasst sich mit Verhaltensmaßregeln (ohne Lügen, Ausreden, Geiz, Pessimismus ...), die für diese 40 Tage durchgehalten werden sollen. In diesem Jahr heißt das Motto »Komm rüber! 7 Wochen ohne Alleingänge«, wobei sowohl an das Alleinsein als auch an den Aufbruch gedacht wird, man soll »neue Gedanken wagen, der anderen Meinung ohne Furcht begegnen - das macht reich!« Es geht nicht um den Verzicht um des Verzichts willen, sondern soll zu neuen Erfahrungen führen, im Alleinsein und im Miteinander. Dabei steht jede Woche unter einem anderen Aspekt wie »Miteinander gehen«, »Mit den Liebsten«, »Mit denen da drüben«, »Mit der Schöpfung« und zuletzt »Mit Gott«. Es gibt viel Material zum Thema und den Wochenthemen, das man sich schicken lassen kann.

Parallel dazu hat sich bereits im zehnten Jahr eine andere Fastenaktion etabliert, nämlich zum »Klimafasten und klimafreundlichen Handeln« in den sieben Wochen vor Ostern. Sie wird von einer Initiative von 24 Partnerorganisationen, Evangelischen Landes- und Freikirchen, evangelischen und katholischen (Erz-)Bistümern, Diözesanverbänden und den großen Hilfs­werken misereor und Brot für die Welt getragen. Auch hier gibt es für jede Woche ein anderes Thema wie »Das richtige Maß«, »Andere Ernährung«, »Energie-Bewusstsein«, »Neue Mobili­tät«, »Finanzen und Politik«, »Lokales Handeln« und »Nachhaltige Veränderungen«. Auf ihrer Internetseite klimafasten.de kann man sich unter dem Motto »So viel du brauchst ...« (Motto des Kirchentags 2013) informieren; hier gibt es eine Broschüre, die die Teilnehmenden durch die gesamte Passionszeit begleitet - und die heruntergeladen werden kann, ebenso wie das ganze übrige zur Verfügung stehende Material. Woche für Woche gibt es zu jedem Thema einen einleitenden Text, ein Zitat oder Bibelspruch und Tipps für den Alltag.

Karin Klingbeil

Oxfam-Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024

»Oxfam ist ein internationaler Zusammenschluss von 21 Organisationen und erreicht Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Gemeinsam bekämpfen wir Ungleichheiten, um Armut und Ungerechtigkeit zu beenden, jetzt und auf lange Sicht - für eine Zukunft auf Augenhöhe.« Auf www.oxfam.org kann sich jeder durch etliche Berichte über die Folgen von Katastro­phen (Erdbeben, Hunger, Krieg), aber auch viele andere Themen, auch den humanitären Ein­satz von Oxfam informieren.

Am 15. Januar 2024 publizierte Oxfam den o.g. Bericht, aus dem hervorgeht, dass die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen von 405 Milliarden US-Dollar seit 2020 auf 869 Mil­liarden mehr als verdoppelt haben - das entspricht einem Gewinn von 14 Millionen US-Dollar pro Stunde -, und gleichzeitig fast fünf Milliarden Menschen ärmer geworden sind. Der Bericht macht deutlich, wie Superreiche und Konzerne von Inflation, Kriegen und Pandemie profitie­ren, während die meisten Menschen unter den Folgen leiden.

Diese zunehmende soziale Ungerechtigkeit verstärkt geschlechtsspezifische und rassisti­sche Diskriminierungen, sie untergräbt die Demokratie und trägt maßgeblich dazu bei, dass die Gesellschaften vor immer größere Zerreißproben gestellt werden und die Klimakrise sich zu einer Katastrophe ausweitet.

Oxfam fordert daher eine Besteuerung großer Vermögen, um in den Klimaschutz, den Aus­bau von Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit zu investieren. Das schreibt Serap Altinisik, die geschäftsführende Vorsitzende von Oxfam Deutschland.

Außer den schon oben genannten Fakten fasst der Bericht folgende Ergebnisse zusammen:

Alle MilliardärInnen zusammen sind heute um 3,3 Billionen US-Dollar (34%) reicher als 2020. Ihr Vermögen wuchs damit dreimal so schnell wie die Inflationsrate.

Die ärmsten 60% der Menschheit, fast fünf (4,77) Milliarden Menschen, haben seit 2020 zu­sammen 20 Milliarden US-Dollar verloren.

Das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen ist seit 2020 inflationsbereinigt um rund drei Viertel (73,85%) gewachsen, von etwa 89 auf etwa 155 Milliarden US-Dollar.

2023 haben Konzerne irrwitzige Gewinne angehäuft. 148 der weltweit größten Konzerne ha­ben in den 12 Monaten bis Juni 2023 insgesamt 1,8 Billionen US-Dollar an Gewinnen einge­fahren. Das entspricht einem Anstieg von 52,5% gegenüber den durchschnittlichen Nettoge­winnen im Zeitraum 2018-2021. Ihre Übergewinne, definiert als Gewinne, die den Durch­schnitt von 2018-21 um mehr als 20% übersteigen, stiegen auf fast 700 Milliarden US-Dollar an.

Der Aktienbesitz kommt in erster Linie den reichsten Menschen der Welt zugute. Das welt­weit reichste Prozent besitzt 43% des gesamten Finanzvermögens. In Deutschland besitzt das reichste Prozent 41,1% des gesamten Finanzvermögens.

Daher fordert Oxfam eine Besteuerung hoher Vermögen, damit auch die Superreichen ihren gerechten Beitrag zum Gemeinwohl leisten: Oxfam fordert die Regierungen auf, die Kluft zwi­schen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft schnell und radikal zu verringern. D.h., sie müssten große Vermögen und Übergewinne dauerhaft besteuern. Eine Vermögens­steuer für die Multi-MillionärInnen und MilliardärInnen der Welt könnte jährlich wichtige Finanz­mittel für das Gemeinwohl generieren.

Oxfam schlägt konkret folgendes Steuer-Modell vor: zwei Prozent auf Vermögen von über fünf Millionen US-Dollar, drei Prozent auf Vermögen von über 50 Millionen US-Dollar und fünf Prozent auf Vermögen, die eine Milliarde US-Dollar übersteigen. Allein in Deutschland könnten so nach Oxfam-Schätzungen 93,6 Milliarden US-Dollar (85,2 Milliarden Euro) pro Jahr gene­riert werden. In Deutschland müssten nur etwas mehr als 200.000 Menschen die Abgabe ent­richten, das sind gerade mal 0,24% der Bevölkerung.

Dieses Geld könnte in den Klimaschutz, den Ausbau von Bildung, die Gesundheitsver­sorgung und die soziale Sicherheit investiert werden; anstelle die Mittel im Bundeshaushalt für die Unterstützung einkommensschwacher Länder und soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu kürzen, könnten diese Leistungen konsequent erhöht werden.

Karin Klingbeil

 

Immer wieder wollen wir kürzere oder längere Beiträge aus der Sammlung 10 Jahre Templer Re­flections der TSA der »Warte« veröffentlichen. Da die Sammlung Beiträge aus 10 Jahren umfasst, können die Texte auch älter sein. Wir beginnen mit »The value of values« von unserem Tempelvorsteher.

Der Wert von Werten

Unsere eigenen Werte zu erkennen, anzuerkennen und zu verstehen hilft uns, ein glückliche­res, vollständigeres und authentischeres Leben zu führen. Wenn wir so leben, dass wir unse­ren eigenen Werten zuwiderhandeln oder sie gefährden, sind wir unglücklich. Wir sind zufrie­dener, wenn unser Lebensstil und unsere Handlungen unseren persönlichen Werten entspre­chen. Dasselbe gilt für eine Gemeinschaft; wenn wir fähig sind zu erkennen, welche Werte wichtig sind, erlaubt uns das, einen entsprechenden Zugang zu allen Aktivitäten, Entscheidun­gen und Antworten auf Herausforderungen zu finden. Im Rahmen einer von den Ältesten durchgeführten Kommunikationsübung im Jahr 2011 wurde intensiv darüber nachgedacht, welche Schlüsselworte die Werte der Temple Society Australia auf den Punkt bringen würden. Man einigte sich auf die vier Begriffe Akzeptanz, Vertrauen, Respekt und Gemeinschaft. Seit­her werden diese Werte im Informationsmaterial verwendet und auch berücksichtigt, wenn wir in der Gemeinde Gespräche führen. In Wirklichkeit lassen sich die Werte einer Gemeinschaft oder auch eines jeden Einzelnen nicht vollständig in vier Worten zusammenfassen, aber sie bilden einen festen Rahmen, auf dem wir aufbauen können.

Mark Herrmann, Übersetzung Karin Klingbeil

BUCHBESPRECHUNG

Erinnerungen und Erfahrungen

Autobiographie von Johannes Seitz (1839-1922)

Der Verlag Linea aus Bad Wildbad hat vor kurzem die Autobiographie von Johannes Seitz neu herausgegeben. Da der Verfasser zeitweise als Missionar für die Tempelgesellschaft tätig war, aber auch als Mitgründer der Karmelmission weithin bekannt ist, hat sich Birgit Arnold bereiter­klärt, das Buch vorzustellen.

Johannes Seitz (Quelle: Landeskirchliches Archiv Stuttgart)
Quelle: Landeskirchl. Archiv Stgt.

Johannes Seitz wurde 1839 als ältestes von neun Kindern in einer armen Bauernfamilie in Neuweiler/Schwarzwald geboren. Sein Vater schloss sich schon früh den »Jerusalemsfreunden« (JF ist im Kirchenbuch vermerkt) an. Seine Mutter starb 1854. Der Vater leb­te danach unverheiratet mit der 20 Jahre jüngeren Anna Proß - ei­ner Halbschwester der nach Haifa ausgewanderten Templer Jo­hannes Proß (geb. 1845) und Johann Friedrich Proß (geb. 1840) - zusammen und wurde »wegen Hurereisünden« aus der Gemeinde ausgeschlossen, wie im Familienregister vermerkt ist. Er wanderte 1864 mit der jungen Frau und fünf Kindern nach Amerika aus, wo heute noch Nachfahren leben; zwei Schwestern schlossen sich den Templern in Palästina an. Anna Proß kehrte ca. 1873 mit einer 1867 in Amerika geborenen Tochter - also einer Halbschwester von Johannes Seitz - nach Neuweiler zurück.

Johannes Seitz’ Kindheit war geprägt durch den Pfarrer Johan­nes Blumhardt in Möttlingen. Im Alter von 21 Jahren wurde er von Martin Blaich, einem Evangelisten der Tempelgesellschaft, wäh­rend einer Erweckungsstunde in Zwerenberg aufgefordert, eine vierjährige Ausbildung zum Evangelisten auf der Missionsschule der Tempelgesellschaft, dem Kirschenhardthof, zu absol­vieren. Er stimmte zu, wurde aber schon nach zweieinhalb Jahren in die Mission geschickt, zunächst fünf Jahre lang im Murrhardter Umland. In dieser Zeit geriet er - wie auch Blaich - durch Versuche von Gesundbeten und Geistheilungen sowie von Teufelsaustreibungen auf eine von Christoph Hoffmann abgelehnte Spur. Vermutlich, um ihn zu halten, wurde er 1871 in den »Ausschuss des Tempels für Württemberg« berufen und weiterhin in Stuttgart eingesetzt.

1872 trat Johannes Seitz seine erste Palästinareise an. Große Zweifel befielen ihn dort, was die Denkweise Hoffmanns betraf, der in seinen Augen »ein fadenscheiniger Realist« geworden war. Zurück in Württemberg ließ er sich - unterstützt von Martin Blaich - dazu bewegen, in Schlesien einen Neuanfang für die Sache des Tempels zu wagen. Das 1. Sendschreiben Hoff­manns von 1877, in dem Taufe und Abendmahl abgelehnt wurden, führte zum endgültigen Bruch, und Christoph Hoffmann setzte Seitz als Prediger der Tempelgesellschaft ab. Gemein­same Auswanderungspläne mit Blaich nach Amerika scheiterten. Im Juli 1878 wirkten beide in Posen an der Gründung des »Reichsbrüderbundes« mit (heute noch bestehend als »Chris­tusbund« mit dem Hauptsitz in Friolzheim) und verließen die Tempelgesellschaft.

1881 reiste Martin Blaich für acht Monate nach Palästina und betrieb dort die schon mehrere Jahre angestrebte Gründung einer Missionsstation auf dem Karmel. 1886 folgte Johannes Seitz’ zweite Palästinareise und 1903 nach Blaichs Tod die dritte, bei der es zur endgültigen Gründung der Missionsstation zusammen mit Konsul Keller kam. Mehr als 20 Jahre lang hatte dieses Vorhaben auf der Kippe gestanden und konnte nun endlich umgesetzt werden.

In der Zwischenzeit war Seitz in Ost und West reisend unterwegs und widmete sich der Gründung von christlich ausgerichteten Erholungsheimen: zunächst 1893 das »Evangelische Gemeinschafts-Brüderhaus« in Preußisch-Bahnau (bei Königs­berg), anschließend 1898 in Limbach bei Zwickau und schließlich 1900 in Teichwolframsdorf/Vogtland. Dort wirkte er als Seelsorger und Erweckungspredi­ger bis zu seinem Tod 1922.

In seinem 80. Lebensjahr schrieb Johannes Seitz seine Autobiographie »Erinnerungen und Erfahrun­gen mit meinem wunderbaren Gott«. Der Titel weist darauf hin, dass es vorwiegend um die religiöse Innerlichkeit in seinem Leben geht. Unzählige Male lesen wir die Wörter Gott, Herr­lichkeit, Erweckung, Segen, Evangelium, Gericht, Bibelstunde, Fügung, Evangelisation, Sün­de, Kreuz, Gebet, Bekehrung, Heilung, Jesus Christus, Christentum, Kämpfe, Satan, Gemein­schaft, Geist, Seligkeit, Wort, Herr, Mission, Glaube, Kraft, Sieg, Gewissheit, Gnade, Frieden, Heiligkeit, Seele ... ....

Viele drastisch und detailliert beschriebene Träume weisen den zukünftigen Weg der Za­genden wie der Gläubigen. Erscheinungen führen zu Bekehrungen, und mehrfach wird im Wald um die Wahrheit gerungen, stunden- und nächtelang. Einmal ist die Rede auch von »Wahrheitspfeilen«. Krankheiten werden durch Gebete und Bibelsprüche sowie manches Mal auch durch Handauflegen geheilt. Wenn das nicht hilft, wird wenigstens leichte Besserung oder das Annehmen des Leidens erreicht. Gebete sorgen auch für genügend Mitarbeiter und vor allem für das nötige Geld, das dadurch immer im rechten Moment eintrifft.

Wovon ist nicht die Rede? Wir erfahren wenig über seine Herkunftsfamilie, vor allem nicht über den Vater, der mit fünf Kindern nach Amerika entschwand. Nicht erwähnt werden zwei Schwestern, die nach Palästina auswanderten. Die Tüchtigkeit seiner Frau Luise, einer ehe­maligen Diakonisse aus dem Kaiserswerther Verband, die er 50-jährig heiratet, rühmt er, aber ihre genauen Lebensdaten (1867 - 1919) sowie ihr Nachname bleiben im Dunkeln. Seine Kin­der und Enkelkinder erwähnt er ebenfalls nicht.

Johannes Seitz berichtet über den Konflikt zwischen Christoph Hoffmann und Georg David Hardegg. Auch schildert er den Streit um den Bau der Straße hinauf zum Karmel sowie das Schicksal der Familie Bannwarth. Alles allerdings nicht aus eigener Anschauung, sondern aus Berichten Dritter. Wir erfahren als wichtiges - und von ihm mehrfach betontes - Detail, dass er mit dem späteren Vizekonsul Keller in Haifa, mit dem er gemeinsam die Schule in Neuweiler besucht hatte, zusammenarbeitet.

Johannes Seitz (Quelle: Linea Verlag)
Quelle: Linea Verlag

Die Weltpolitik während dieses langen Lebens bleibt außen vor, ebenso wie der 1. Weltkrieg, den er noch miterlebt hat. Seitz be­richtet allerdings, dass er hin und wieder in den größeren Städten Württembergs Vorträge gehalten hat, »zum Beispiel über die Lö­sung der schon in den sechziger Jahren brennenden sozialen Fra­ge«. Es ist zu vermuten, dass ihm eine Art Urchristentum vor­schwebte.

Angesichts dieses Lebens überrascht es nicht, dass Johannes Seitz mit Christoph Hoffmann schwer ins Gericht geht. Schon in seiner Murrhardter Zeit schreibt er: »Eine weitere Frucht dieser Gebetswochen und unseres Gebetslebens überhaupt war, dass wir nicht mitgerissen wurden, als der Leiter Christoph Hoffmann, der sich zum Bischof gemacht hatte, in den vulgärsten Rationalismus verfiel und dadurch den größten Teil der Gemeinschaft mit sich hereinriss. So wurden wir vor diesem Abfall bewahrt und konnten uns trennen.« (S.46)

Gut 100 Jahre nach seinem Tod wurde nun die 1923 erschiene­ne und erweiterte Auflage der »Erinnerungen und Erfahrungen« neu herausgegeben. Interessant als Glaubenszeugnis eines Erweckten und als historisches Zeugnis eines aktiven Lebens im Glauben im 19. Jahrhundert. Interessant auch für Leser, die etwas über die Entwicklung der Tempelgesellschaft, so wie Seitz sie - recht einseitig - gesehen hat, erfahren möchten. Dagegen eher befremdlich und wenig hilfreich für mich als heutige Leserin, die der evangelischen Kirche in Württemberg in der heutigen Gesellschaft und in deren heutiger Ausrichtung angehört.

Birgit Arnold

Johannes Seitz: Erinnerungen und Erfahrungen mit meinem wunderbaren Gott, überarbeitete 3. Auflage, Linea-Verlag Bad Wildbad, 2023, 262 Seiten, 12,95 Euro,

ISBN-13: 9783939075752

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