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Früher war alles besser - oder doch nicht? - Dr. Raphael Zager
Schwerter zu Pflugscharen - Wolfgang Blaich
Reformation und Demokratisierung - Prof. Dr. Werner Zager
»Jeder Einzelne hat das Recht auf ein Leben in Würde« - Interview: Katja Dorothea Buck
Klimagerecht - wie geht das? - Jörg Klingbeil
»Früher war alles besser!« Ja früher, da war alles noch schöner. Ich erinnere mich an meine Kindheit. Es waren die 1990er-Jahre, in einer kleinen Stadt im Ruhrgebiet. Mama, Papa, und wir drei Brüder. Wie viel Zeit wir Kinder da hatten. Spielen bis zum Abendbrot. Auf der Wiese liegen. In die Wolken schauen und träumen. Jeden Winter gab es genug Schnee zum Schlittenfahren. Und was der Tagesschau-Sprecher da aus dem Röhrenfernseher erzählt hat, das habe ich als Kind gar nicht so richtig verstanden. Unbeschwerte Zeiten waren das damals. »Früher war alles besser.«
Auch die Israeliten haben sich das gedacht. Damals, als sie in der Wüste waren. Moses und Aaron hatten sie aus der Sklaverei in Ägypten geführt. Doch was nützt das, wenn jetzt der Magen knurrt? Was bringt uns die Freiheit, wenn wir jetzt dem sicheren Tod entgegengehen?
Aus dem Magenknurren wird ein Klagen und Murren: »Früher war alles besser.« Viel lieber wären wir wieder bei den Fleischtöpfen und den vollen Brotkörben als hier in der Wüste. Wo habt ihr uns nur hingeführt?
Ich möchte den Leser*innen heute drei Gedanken zu diesem Bibeltext mit auf den Weg geben. Drei Perspektiven auf die murrenden Israeliten und wie sie satt wurden.
Erstens: Die Perspektive der Psychologie. »Früher war alles besser.« Manchmal stoßen wir diesen Seufzer selbst aus. Oder jemand anderes tut es.
»Früher war alles besser.« Vom Gefühl her kann ich dem Satz viel abgewinnen. Klar, ich forsche im Fach Kirchengeschichte und habe allein beruflich viel mit der Vergangenheit zu tun. Aber auch sonst staune ich über vieles, was frühere Generationen zustande gebracht haben.
Trotzdem ist der Satz: »Früher war alles besser« einfach falsch. Und das fängt schon an mit dem Wörtchen »alles«. Unmöglich kann alles schlechter werden. Es gibt immer verschiedene Entwicklungen, die zur gleichen Zeit verlaufen. Manches wird sicher schlechter, dafür wird aber anderes wieder besser. Deswegen stören mich im Moment auch die Populisten, die unser gesamtes Land schlechtreden wollen. Das ist mir zu platt.
Und wenn früher alles besser gewesen sein soll, welches »früher« meinen wir dann eigentlich? Wollen wir in das »früher« der Kaiserzeit, als Frauen noch nicht wählen durften? Wollen wir in das »früher« des geteilten Deutschlands, als 18 Millionen Deutsche in einem Unrechtsstaat unterdrückt wurden? Wir merken: Das »früher«, in dem angeblich alles besser war, ist wohl eher eine Wunschvorstellung als ein konkretes Datum.
Und hier kommt die Psychologie ins Spiel. Unser Gehirn hat nämlich die Angewohnheit, negative Dinge schnell wieder zu vergessen. Schöne Erlebnisse behalten wir dagegen gerne in Erinnerung. Psychohygiene nennt man das. Sehen wir von wirklich schlimmen Traumata einmal ab, dann erinnern wir uns viel lieber an das Schöne, das wir früher erlebt haben. Die unbeschwerte Kindheit mit Schlittenfahren und Abenteuern.
Die fünf in Mathe oder das aufgeschlagene Knie, das verdrängt mein Hirn dann lieber mal. Das macht unsere Psyche, damit wir grundsätzlich positiv nach vorne schauen. Wir sollen uns nicht mit all dem belasten, was schlecht gelaufen ist im Leben.
Ich komme zur zweiten Perspektive. Und die heißt: »Freiheit hat ihren Preis.« Die Israeliten murrten, obwohl sie in Freiheit lebten. Sie sehnten sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück. Haben sie so schnell vergessen, wie sie dort gelitten haben? Sie sehnen sich nach den vollen Brotkörben zurück, vergessen aber die Peitschenhiebe der Sklaventreiber.
Wie viel war ihnen die Freiheit wert, die sie gerade geschenkt bekommen haben? Würden sie die Freiheit eintauschen gegen einen vollen Magen?
Ich finde das eine hochaktuelle Frage: Wie viel ist uns heute unsere Freiheit wert? Sind wir bereit, dafür auf etwas zu verzichten? Vielleicht sogar mit leeren Magen weiterzulaufen, dafür aber als freie Menschen?
Schon seit einigen Jahren merken wir: So wie bisher können wir mit der Erde nicht umgehen. Wir verbrauchen viel mehr, als die Erde verträgt. Und die Weltbevölkerung wächst weiter. Das Versprechen vom ständigen Wachstum - es ist ein Irrglaube. Die vollen Fleischtöpfe, aus denen wir seit Jahren geschöpft haben: sie werden bald nicht mehr reichen.
In immer mehr Staaten macht sich daher Egoismus breit: »America first«, ruft Donald Trump. »Deutschland den Deutschen!« grölte vor kurzem eine Gruppe von jungen Menschen auf Sylt.
Doch was würden wir damit aufgeben? Was würden wir verlieren, wenn wir nur darauf schauen, dass es uns selbst gut geht? Die Idee vom freien Europa mit freien Bürgern? Unsere Demokratien? Sind die vollen Fleischtöpfe so verlockend, um dafür wieder in die Knechtschaft zu gehen? Oder ist uns unsere Freiheit so viel wert, dass wir dafür auch verzichten können?
Auch Jesus hat seinen Jüngern damals keine vollen Fleischtöpfe versprochen. Wer Jesus nachfolgte, hat Wohlstand und Sicherheit hinter sich gelassen. »Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.« Das hat Jesus seinen Jüngern in der Bergpredigt auf den Weg mitgegeben.
Und so war es auch mit den Israeliten in der Wüste. Sie haben erfahren: Wer sich auf Gott einlässt, der hat keine Garantie auf ein Leben in Hülle und Fülle. Doch wer sich auf Gott einlässt, der gewinnt die Freiheit.
Ich will die Not der Israeliten aber auch nicht kleinreden. Sie litten ja wirklich an Hunger. Ein Gefühl, das wahrscheinlich weder der Milliardär Trump noch die grölenden Wohlstandskinder auf Sylt wirklich kennen.
Die Israeliten hungerten. Doch es war mehr als der leere Magen, der sie plagte. Sie sind verzweifelt. Sie zweifeln an Gott. Sie zweifeln an dem, was er ihnen versprochen hat. Er wollte sie doch in ein Land bringen, in dem Milch und Honig fließen. So hatte es Mose ihnen jedenfalls gesagt. Doch jetzt drohen sie, in der Wüste an Hunger zu sterben.
Und damit komme ich zur dritten Perspektive: Gott gibt uns, so viel wir brauchen. Gott hörte also das Murren seines Volkes. Über Moses lässt er den Israeliten ausrichten: »Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden, und ihr sollt erkennen, dass ich, der Herr, euer Gott bin.«
Wachteln am Abend und ein besonderes Brot am Morgen. Das klingt ein bisschen nach Schlaraffenland, oder? Tatsächlich kann man beides ganz gut erklären. Wachteln zogen im Herbst in den Süden. Sie flogen in großen Schwärmen ziemlich tief über die Wüste, man konnte sie gut fangen.
Das sogenannte »Manna« erkannten die Israeliten selbst gar nicht richtig. Ma-nu? Was ist denn das? Sagten sie zu den Tröpfchen, die da morgens auf dem Boden lagen. Das könnte eine Art Sirup gewesen sein, der sich an Wüstenpflanzen bildet und mit dem Morgentau auf den Boden tropft.
Jedenfalls haben die Israeliten diese Speisen gefunden. Mitten in der Wüste. Gerade noch dachten sie, sterben zu müssen. Jetzt spüren sie: Gott lässt uns nicht im Stich. Gott stillt unseren Hunger. Er begleitet uns.
Und jeder Mensch bekommt genau so viel, wie er braucht. Da sitzt keiner an Fleischtöpfen und schlägt sich allein den Bauch voll. Die kleinen Wachteln und die Manna-Tröpfchen. Das war sicher kein All-you-can-eat-Büffet. Doch jeder und jede wurde satt.
Das Magenknurren hört auf. Das Klagen und Murren auch. Denn sie gewinnen wieder Vertrauen in Gott. So können sie ihren Weg weitergehen.
Ob wir in unserem Leben auch so etwas finden? Wo wir erstmal sagen: »Ma-nu«? Was ist denn das? Und dann merken: Das ist ein Geschenk von Gott! Davon werde ich satt. So gestärkt, kann ich meinen Weg weitergehen. Ich glaube fest daran, Gott lässt uns solches Manna finden. Nahrung zum Leben, so viel wir brauchen. Manna, das kann die Nachbarin sein, die nach mir schaut, wenn ich krank bin. Manna, das kann der geliebte Hund sein, der mich treu anschaut. Manna, das kann auch ein schönes Konzert sein, oder ein Gespräch mit Gott.
Lassen wir uns ein auf diesen Gott, der uns befreit. Hoffen wir auf diesen Gott, der uns alle satt macht.
Raphael Zager in »Freies Christentum«, Nr. 5-2024
Der Text aus dem Buch Micha im Alten Testament enthält ein markantes Wort, welches besonders von Friedensbewegungen verwendet wird. Im 4. Kapitel, Vers 3 heißt es: »Er spricht Recht im Streit vieler Völker, er weist mächtige Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.«
»Schwerter zu Pflugscharen« - das ist ein starkes Bild und eine dringliche prophetische Verheißung, die uns sowohl vom Propheten Micha als auch vom Propheten Jesaja überliefert ist. Sie hat viele Menschen durch die Jahrhunderte begleitet, auch deswegen, weil auch Jesus diese Verheißung aufgenommen und in den Seligpreisungen neu formuliert hat.
Biblische Verheißungen wurden in früheren Jahrhunderten als Aussagen über das zukünftige Reich Gottes verstanden. Sie galten demzufolge auch als Aufforderung, dem kriegerischen Treiben unter den Völkern ein Ende zu machen, um zu einem friedlichen Nebeneinander zu kommen. Reich Gottes - Friede auf Erden!
Wer war dieser Prophet Micha? Er lebte und wirkte vermutlich um 700 v.Chr. und war ein Zeitgenosse der Propheten Jesaja, Hosea und Amos. Seine Prophezeiungen sind also über 2500 Jahre alt. Können seine Worte für uns Gültigkeit haben?
Alt muss nicht veraltet, d.h. überholt sein. Und seine Forderung »Schwerter zu Pflugscharen« ist nicht veraltet, weil sich unsere konkreten Lebensverhältnisse gegenüber den Lebensverhältnissen des Propheten nicht grundsätzlich verändert haben: Krieg und Gewalt erleiden zu müssen gehört zur Realität auf dieser Erde. Micha richtet seine Worte im Wesentlichen an Israel und bringt den moralischen Zustand des Volkes ans Licht - rücksichtsloses Gewinnstreben, Korruption, Ausbeutung der Armen, Rechtsbeugung zugunsten der Besitzenden und Machthabenden. Was der Prophet beschreibt, ist auch der heutigen Welt nicht fremd. Es geht bei ihm um einen sozialen Frieden im eigenen Volk, aber auch um den Frieden zwischen den Völkern.
»Schwerter zu Pflugscharen« ist wie eine Kurzformel eines friedensethischen Programms.
Die aus der Friedensvision des Micha verdichtete Forderung ist ein eindrucksvolles Bild. Ein Bild voller Trost und Hoffnung für diejenigen, die Kriege erlebt haben oder erleben und das durch sie verursachte Leid kennen.
Micha verheißt dauernden Frieden, wenn der Mensch seine prophetischen Worte befolgt (Kapitel 6): »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Recht üben und Gutes lieben und einsichtig mit Gott wandeln.«
Bei Martin Luther und Philipp Melanchthon demokratisierende Tendenzen festmachen zu wollen, wird gewiss zunächst befremden. Man braucht sich nur die ablehnende Haltung der beiden Wittenberger Reformatoren gegenüber den »Zwölf Artikeln« der Bauern wie überhaupt deren Positionierung im Bauernkrieg zu vergegenwärtigen.
Anders sieht es freilich aus, wenn wir uns die reformatorische Zielsetzung menschlichen Lebens vor Augen führen. Melanchthon zufolge ist das gesamte Leben auf »Frömmigkeit und Bildung« auszurichten. Im Sinne Luthers müsste man wohl eher von Glauben als von Frömmigkeit reden. Freilich hat hier auch der Begriff der Frömmigkeit seine Berechtigung, kann doch Glaube als Zielsetzung menschlichen Lebens nicht als punktuelles Geschehen verstanden werden. Glaube muss vielmehr täglich gelebt und bewährt werden.
Entscheidend ist nun, dass Glaube nicht verordnet oder einfach übergestülpt werden kann. Glaube ist Sache des Einzelnen, ist Gewissenssache. Ob oder wie beziehungsweise was einer glaubt, das gilt von anderen respektiert zu werden. Um mit Melanchthon zu sprechen: »Es ist keinem Menschen, weder Vater noch Mutter noch irgendeiner geistlichen oder weltlichen Obrigkeit, nicht dem Papst zu Rom noch dem Kaiser noch dem König, irgendeinem Menschen in seinem Glauben und in seinem Gewissen Gewalt anzutun.« (1)
So darf es als eine Sternstunde der Reformation betrachtet werden, als Luther am 18. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms unter Berufung auf sein Gewissen es ablehnte, seine Schriften zu widerrufen: »Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe (ratione evidente) überwunden werde - denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, sintemal es am Tage ist, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben - so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann ich und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.« Deutsch fügte er noch hinzu: »Gott helfe mir, Amen!« (2) Es war eine Sternstunde protestantischer Freiheit, als sich Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 weigerte, seine Schriften zu widerrufen, solange er nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe überwunden würde.
Damit hatte Luther in Frage gestellt, dass irgendeinem einzelnen Menschen oder einer kirchlichen Instanz hinsichtlich des Glaubens eine letzte und in bestimmten Fällen zugleich unfehlbare Autorität zukomme. Und mit dieser Infragestellung löste er eine für die Kirchengeschichte des Abendlandes einzigartige Bewegung aus.
Martin Luther bestritt schlicht, dass menschliche Autoritäten verbindliche Glaubensinhalte für alle Christen festlegen und vorschreiben dürfen. Alle kirchliche Lehre sollte sich vielmehr allein an der Bibel ausrichten.
Natürlich war sich auch Luther bereits dessen bewusst, dass die Bibel nicht ein in sich stimmiges, widerspruchsfreies Buch ist. Er erkannte sehr wohl, dass die einzelnen Schriften der Bibel auch unterschiedliche, teils entgegengesetzte Botschaften beinhalten. Dennoch erklärte Luther die Bibel zu der alleinigen Autorität, mit deren Hilfe man Gottes Wort hören, erkennen und weitergeben könne.
Dadurch wurde dem einzelnen Christen eine große Freiheit eröffnet: Er sollte die Bibel selbst lesen dürfen, und zwar in seiner eigenen Sprache, genauso sollte er Gottesdienste feiern und Lieder singen dürfen, deren Sprache und Inhalt er verstehen konnte, und er sollte glauben dürfen, was er mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren konnte.
Zugleich gab Luther mit seinem Bekenntnis auf dem Reichstag zu Worms zu erkennen, dass seine Haltung nicht irreversibel sei. Für aus der Bibel geschöpfte Gründe oder Argumente der Vernunft zeigte er sich offen, diese zu prüfen und sich gegebenenfalls auch überzeugen zu lassen. Damit ist ein Wesensmerkmal einer jeden demokratischen Ordnung erreicht: Keiner sollte seine eigene Meinung absolut setzen und als unhinterfragbar ausgeben. Vielmehr entspricht es der demokratischen Idee, sich einer offenen Diskussion zu stellen, in der das Für und Wider unterschiedlicher Optionen untereinander ausgetauscht und abgewogen wird. Zwar ist auch in der Demokratie nicht gewährleistet, dass sich stets die am besten begründete Position durchsetzt, da die Mehrheit entscheidet. Aber derjenige, der überstimmt worden ist und daher die Mehrheitsentscheidung zu achten hat, darf weiterhin für seine Überzeugung eintreten.
Was die zweite Zielsetzung menschlichen Lebens nach reformatorischer Auffassung - die Bildung - betrifft, so maß Melanchthon ihr einen hohen Stellenwert für das menschliche Verhalten bei. Soll sich dieses nicht lediglich von unmittelbaren Eindrücken und Eingebungen leiten lassen, kommt es darauf an, sich mit dem auseinanderzusetzen, was Menschen vor uns dachten und lehrten, für bedeutend und wegweisend hielten, welche Hoffnungen und Erwartungen sie bestimmten. Dass es hier zunächst mühsamer Aneignungsprozesse bedarf, dies ist heute nicht anders als zu Zeiten der Reformation. Jedoch geht es dabei nicht um bloßes Kopieren und Nach-Sprechen. Das wäre noch keine Bildung - weder in humanistischem noch in demokratischem Sinne. Vorgegebenes sich anzueignen, schließt mit ein, dieses zu durchdenken. Und auf einer solchen Basis ist es möglich, selbst weiter zu denken, das heißt eigenständig zu denken und folglich auch dementsprechend zu reden und zu handeln.
Wie wichtig dies Melanchthon war, zeigt sich daran, dass er seine programmatische Wittenberger Antrittsvorlesung mit dem Horaz-Wort beschloss: »Sapere aude (Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen)!« (3) Hieran konnte die Aufklärung nahtlos anknüpfen. Es war kein Geringerer als Immanuel Kant, der 1784 eben dieses Zitat des lateinischen Dichters an den Anfang seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« stellte. (4)
Der von Reformation und Aufklärung eingeforderte Mut zum eigenen Denken hat an Aktualität nichts eingebüßt. Er ist meines Erachtens in unserem heutigen demokratischen Staat besonders aktuell - in einer Zeit, in der sich Menschen immer mehr aus der politischen Verantwortung in ihre private Nische zurückziehen, in der die etablierten Parteien häufig die Bereitschaft zu einem offenen Dialog über kontroverse Fragen vermissen lassen, sei es in den eigenen Reihen (so wird auf den einzelnen Abgeordneten häufig ein »Fraktionszwang« ausgeübt, während er laut Grundgesetz, Art. 38 »als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen« sein soll), sei es bei der Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in politische Entscheidungsprozesse. Die Demokratie wird da gelebt, wo die Mündigkeit des Einzelnen nicht untergraben, sondern anerkannt und zur Geltung gebracht wird.
Das demokratische Prinzip wird verfehlt, wo an die Stelle eines wirklichen Dialogs zwischen Bürgern und Politikern ein Monolog der gewählten Volksvertreter tritt, die in leuchtenden Farben sowohl ihre bisherigen Erfolge preisen als auch ihre politischen Lösungskonzepte vorstellen, ohne echtes Interesse an den Bedürfnissen, Erfahrungen, Einsichten und Ideen der Bürger. Ein Dialog setzt vielmehr die Bereitschaft auf beiden Seiten voraus, eigene Positionen und Sichtweisen hinterfragen zu lassen, selbst zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu verändern. Bürgerinnen und Bürger müssen spüren, dass vonseiten der Abgeordneten ihre Meinung ernst genommen wird.
Das eigene Denken zu fördern, ist die vornehmste Aufgabe von Schule und Universität in einer Demokratie, welche sich - um mit Melanchthon zu sprechen - als »Gemeinschaft der Lernenden« (5) verstehen. Treffend formulierte der Praeceptor Germaniae (der Lehrer Deutschlands) in seiner »Rede über das Lob des schulischen Lebens« von 1536: »Zwei Werke sind besser und göttlicher als alles, das dem menschlichen Wesen zugehört: die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Beide zu erforschen und zu entfalten, ist den Schulen anvertraut.« (6)
Vgl. auch Werner Zager, Bildung - eine Aufgabe der Kirche? Überlegungen zum Bildungsverständnis in evangelischer Perspektive, in: Deutsches Pfarrerblatt, 104. Jg., H. 6 (Juni 2004), S. 316-319 = ders. (Hg.), Liberales Christentum. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn 2009, S. 179-188.
Anmerkungen
(1) Zit. nach: Melanchthon klug & weise. Seine besten Zitate, hg. v. Uwe Birnstein, Leipzig 2010, S. 36.
(2) Zit. nach: Walther von Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982, S. 185.
(3) Zit. Zitat stammt aus den Episteln (Briefen) des lateinischen Dichters Horaz (Epist. I,2, 40) und lautet dort: »Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe.« (Quintus Horatius Flaccus, Satiren = Sermones. Briefe = Epistulae. Lateinisch-deutsch, hg. v. Gerhard Fink, übers. v. Gerd Herrmann, Düsseldorf / Zürich 2000.
(4) »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« (Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften [Philosophische Bibliothek, Bd. 512], hg. v. Horst D. Brandt, Hamburg 1999)
(5) Hans-Rüdiger Schwab (Hg.), Philipp Melanchthon. Der Lehrer Deutschlands. Ein biographisches Lesebuch (dtv 2415, München 1997, S. 177)
(6) Philipp Melanchthon, De laude vitae scholasticae oratio (1536), in: Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Lateinisch/Deutsch, ausgew., übersetzt und herausgegeben von Günther R. Schmidt, Stuttgart 1989, S. 204.
Im Saint-Charles-Kindergarten in West-Jerusalem kommen arabische Kinder aus christlichen und muslimischen Familien aus der Westbank und Ost-Jerusalem zusammen - und das in einem Viertel mit überwiegend jüdischer Nachbarschaft. Schwester Oberin Daniela Gabor gibt die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung im Heiligen Land auch nach dem 7. Oktober nicht auf. »Als Ordensfrau glaube ich zutiefst an das Gute im Menschen«, sagt sie.
Frage:
Das »Deutsche Hospiz, St. Charles Borromeo«, wie die Gesamteinrichtung mit Kindergarten und Gästehaus offiziell heißt, hat in den letzten hundert Jahren schon viele Herausforderungen meistern müssen. Die Einrichtung hat alle Kriege und Intifadas miterlebt. Ist das, was am 7. Oktober passiert ist, nur ein weiteres Beispiel in einer langen Kette von Gewalt und Krieg? Oder haben das Massaker und der anschließende Krieg in Gaza etwas grundlegend verändert?
Ein so furchtbares Massaker, wie es durch die Hamas am 7. Oktober verursacht wurde, haben weder die Menschen in Israel noch ich selbst bisher erlebt. Panik, Angst und Verzweiflung machten sich breit. Viele Menschen wurden durch diese schrecklichen Ereignisse traumatisiert und leiden immer noch unter dem Erlebten. Nachdem offiziell der Krieg erklärt wurde, mussten viele ihr Heim verlassen und befinden sich immer noch auf der Flucht.
Inwiefern hat sich die Arbeit im Kindergarten seither verändert?
Zunächst fühlten wir uns alle wie gelähmt. Die Kinder mussten wir zuhause lassen und erteilten ihnen nach einigen Tagen Online-Unterricht. Zwei Wochen später erlaubte das Erziehungsministerium, die Kindergärten und die Schulen unter bestimmten Bedingungen wieder zu öffnen. Wir Schwestern kümmerten uns um die notwendigen Sicherheitsbestimmungen. Wir wollten durch unsere Fürsorge unser Bedürfnis zum Ausdruck bringen, dass die Betreuung unserer kleinen Schützlinge weitergeht.
Haben sich Ihre Beziehungen zu den jüdischen Nachbarn verändert?
Nach wie vor stehen wir zueinander in guten nachbarschaftlichen Beziehungen. Wir sind offen für Gespräche und versuchen uns gegenseitig zu unterstützen, wenn Hilfe nötig ist.
Die Kinder, die Ihnen anvertraut sind, kommen aus palästinensischen Familien. Im Fernsehen und über die sozialen Medien bekommen sie mit, was derzeit mit Kindern in Gaza passiert. Wie gehen Sie als Leiterin des Kindergartens damit um?
Natürlich bin ich mir bewusst, wie sehr die Kinder täglich den schrecklichen Nachrichten ausgesetzt sind. Mit unseren Erzieherinnen versuchen wir für sie eine Atmosphäre der Geborgenheit und menschlichen Zuwendung zu schaffen. Gemeinsame Spiele und Lieder wie auch persönliche Gespräche sorgen für die erforderliche Ablenkung und bringen etwas Licht in das Dunkel ihres Alltags.
Wie gehen die Erzieherinnen im Kindergarten damit um? Sie kommen zum Teil ja selbst aus der Westbank.
Die Situation ist für sie genauso wie für alle anderen zutiefst bedrückend. Jede von ihnen versucht, die furchtbaren Ereignisse, die zum Teil auch ihre Familien direkt betreffen, auf ihre Weise zu verarbeiten, ohne die damit verbundenen Probleme demonstrativ nach außen zu tragen.
Thematisieren Sie das alles auch mit den Eltern der Kinder?
Dies ist ein außerordentlich sensibles Thema. Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und wird von ihm geliebt. Jeder Einzelne hat das Recht auf ein Leben in Würde. Wir konzentrieren uns auf unsere pädagogischen Aufgaben und versuchen dabei, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Der St-Charles-Kindergarten war von Anfang an ein Projekt der Versöhnung zwischen allen, die im Heiligen Land leben. Kann man angesichts der aktuellen Lage in Israel und Palästina überhaupt noch an Versöhnung denken?
Wir halten trotz der momentan nahezu aussichtslosen Lage die Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft für die Menschen dieser Region aufrecht, wissen aber dabei um die Fülle von Schwierigkeiten, die sich einer dauernden Versöhnung entgegenstellen.
Können Sie persönlich sich noch vorstellen, dass es eines Tages Frieden zwischen Israelis und Arabern geben wird, dass diese beiden Völker versöhnt mit- und nebeneinander leben können?
Als Ordensfrau glaube ich zutiefst an das Gute im Menschen und bin davon überzeugt, dass bei einem entsprechend guten Willen von beiden Seiten das unmöglich Scheinende durch Gottes Beistand doch einmal möglich wird.
Wo sehen Sie derzeit Ihren Beitrag als katholische Schwesternschaft, die aus einer deutschen Tradition kommt, in Jerusalem?
In der langen Tradition unserer Präsenz im Heiligen Land war es für uns immer selbstverständlich, unsere Türen für alle, die in Not sind, unabhängig von ihrer Religion, Nation oder sozialen Herkunft, offen zu halten und ihnen Beistand zu leisten, soweit uns dies möglich ist.
Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck
Schwesternkonvent, Pilgerhaus und Kindergarten - der Orden der Schwestern des Hl. Karl Borromäus ist seit mehr als hundert Jahren in Jerusalem vertreten. Gemäß ihrer Berufung kümmern sich die Schwestern sowohl um Pilgerinnen und Pilger, die ins Heilige Land kommen, als auch um Menschen vor Ort. Zum Deutschen Hospiz, St. Charles Borromeo gehört deswegen neben dem Gästehaus auch ein Kindergarten.
Schwester Maria Daniela Gabor SMCB ist seit 2008 Oberin des Konvents, zu dem derzeit sieben Schwestern gehören. Sie ist ausgebildete Erzieherin und leitet den Kindergarten, der 1989 gegründet wurde. Heute werden dort etwa 140 Kinder, zumeist Mädchen, im Alter von drei bis sechs Jahren betreut und auf die Schule vorbereitet. Viele der Erzieherinnen und Helferinnen leben in der Westbank und kommen jeden Tag zur Arbeit im St-Charles-Kindergarten nach West-Jerusalem.
Die Kinder werden in Deutsch, Englisch und ihrer Muttersprache, dem palästinensischen Arabisch, unterrichtet. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Qualifikation zur Schmidt-Schule in Ostjerusalem, mit welcher der Kindergarten zusammenarbeitet. Die Schmidt-Schule gehört zu den weltweit 140 deutschen Auslandsschulen. Gegründet wurde sie 1886 als private Mädchenschule in katholischer Trägerschaft. Heute liegt die Trägerschaft beim Deutschen Verein vom Heiligen Land.
Aus: Schneller-Magazin Nr. 1/2024
In der Juni-Ausgabe der »Warte« hatten wir über eine Veranstaltung über die Herausforderungen durch die Klimakrise berichtet, die am 16. Mai in den Räumen des Landeskirchlichen Archivs in Stuttgart stattfand. Inzwischen gab es in diesem Zusammenhang weitere Aktivitäten. So startete am 21. September in Degerloch im Rahmen der bundesweiten »Fairen Woche« eine STADTRALLYE, die Teilnehmern die Gelegenheit bot, an 15 Anlaufstellen verschiedene Aspekte von fairem Handel, Klimakrise und Nachhaltigkeit kennenzulernen und entsprechende Fragen zu beantworten. Auch die Tempelgesellschaft hat sich beteiligt und im Schaukasten eine Frage zum Thema Klimagerechtigkeit platziert. Darin wurde Bezug genommen auf die bundesweite Aktion des Ökumenischen Netzwerks »Klimagerechtigkeit für ein gutes Leben für alle«. Das Motto dieser Aktion lautet in diesem Jahr: »Es reicht. Mehr Mut zu Suffizienz.« Hierauf bezog sich auch die in unserem Schaukasten gestellte Frage an die Teilnehmer der STADTRALLYE: Welche Redensart könnte zu diesem Motto passen? Die möglichen Antworten lauteten: 1. Weniger ist mehr! 2. Mehr ist das Salz in der Suppe! und 3. Wer zu spät kommt, hat mehr vom Leben! Unschwer zu erraten, dass eigentlich nur die erste Antwort in Betracht kam.
Ernsthafte Fragen aber bleiben: Was versteht man überhaupt unter dem schillernden Begriff Klimagerechtigkeit? Treffen Wetterereignisse oder Klimaveränderungen nicht unterschiedslos alle Menschen auf der Welt, mal mehr oder mal weniger? Was bedeuten überhaupt Gerechtigkeit und »Suffizienz« im Kontext der Klimakrise?
»Klima« bedeutet gemeinhin den mit meteorologischen Methoden ermittelten Durchschnitt der langfristigen dynamischen Prozesse in der Erdatmosphäre, bei dem globale und regionale Wettererscheinungen zusammengefasst werden (so der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme vom 13. März 2024 zum Thema »Klimagerechtigkeit«). Es bestünden mittlerweile keine vernünftigen Zweifel daran, dass es seit Beginn der Industrialisierung durch menschliche Einflüsse, vor allem durch Verbrennung fossiler Brennstoffe, zu einer globalen Klimaerwärmung gekommen ist. Ebenso sicher sei davon auszugehen, dass eine ungebremste weitere Erderwärmung katastrophale Folgen haben wird, wie zunehmende extreme Wetterereignisse (Starkregen, Überschwemmungen, Hitzewellen, Waldbrände und Dürren) bereits zeigen. Mittelbar könnten hierdurch Armut, Flüchtlingsbewegungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen ausgelöst werden. Als Gegenreaktion werden bekanntlich u.a. Maßnahmen zur Minderung der Erderwärmung durch Reduzierung der Treibhausgasemissionen diskutiert.
Sowohl die kausale Verantwortung für den Klimawandel als auch die durch ihn verursachten Gefahren, Schäden und Verluste sind offensichtlich ungleich verteilt; die reichen Länder emittieren viel mehr Treibhausgase und verbrauchen viel mehr Ressourcen als die armen Länder des globalen Südens. Umgekehrt sind die dort auftretenden klimabedingten Schäden in der Regel gravierender als in den Industrieländern. Dies zeigt sich auch an der Bilanz des sog. Erdüberlastungstages, auf den die Medien alljährlich hinweisen; in diesem Jahr war es für Deutschland der 2. Mai. Er besagt: Wenn alle Menschen auf der Welt so leben würden wie die deutsche Bevölkerung, dann wären ab diesem Tag alle nachwachsenden Rohstoffe, die in diesem Jahr bereitgestellt werden können, aufgebraucht. Für uns befindet sich die Erde also bis zum Jahresende für 244 Tage im ökologischen Defizit, d.h. ab diesem Tag leben wir auf Kosten anderer Länder oder künftiger Generationen. Den frühesten Erdüberlastungstag hatte in diesem Jahr übrigens das reiche Katar (11. Februar), den spätesten haben Ecuador und Indonesien (24. November). Gemessen am deutschen Ressourcenverbrauch müssten wir also eigentlich drei Erden haben. Erdüberlastungstage werden bereits seit 1970 gezählt; damals lag das ökologische Defizit allerdings noch bei drei Tagen!
Damit geht es bei dem Thema »Klimagerechtigkeit« vor allem darum, wie die mit dem Klimawandel verbundenen Lasten und Verantwortlichkeiten angemessen und fair verteilt werden können, zwischen Staaten (global), zwischen Generationen und innerhalb der eigenen Gesellschaft.
Menschen mit durchschnittlichem deutschem Konsumverhalten können nach Einschätzung des Deutschen Ethikrats ihre persönlichen Emissionen durch Verhaltensänderung etwa halbieren. Weitere große Einsparpotenziale liegen im Bereich der Industrie und Infrastruktur, z. B. Investitionen in klimafreundlichere Prozesse, Produkte für eine klimafreundlichere Bauwirtschaft, Verkehr etc.). Diese können aber nicht oder nur eingeschränkt durch individuelle Entscheidungen realisiert werden. Hier ist in erster Linie der Staat gefordert, zum Beispiel durch das Setzen entsprechender Rahmenbedingungen.
Auf internationaler Ebene wird seit Jahren insbesondere darüber diskutiert, in welchem Ausmaß die reichen Länder der nördlichen Erdhalbkugel zu den weltweiten Treibhausgasemissionen beitragen und inwieweit Emissionsrechte auf die ärmeren Länder übertragen werden können. Dabei stellen sich etliche zum Teil grundsätzliche Fragen: Wie können die (historischen) Emissionen der Industrieländer in der Vergangenheit berücksichtigt werden? Würde es eine klimagerechte Emissionspolitik nicht vielen ärmeren Ländern (theoretisch) erlauben, ihren Treibhausgasausstoß (zunächst) erheblich zu steigern, bis das angestrebte (einheitliche) Niveau erreicht, also der zweifelhafte »Vorsprung« der Industriestaaten eingeholt ist? Und welche Auswirkungen hätte eine entsprechende Reduktion auf die industrialisierten Staaten, die gemeinhin als Hauptverursacher des Klimawandels gelten, insbesondere welches Ausmaß an Deindustrialisierung ist zu erwarten (mit Arbeitsplatzabbau, Kollaps der Sozialsysteme und sozialen Konflikten)? Wenn man sich die bisherige Diskussion in Deutschland um die soziale Abfederung hoher Energiekosten betrachtet, dann ahnt man, welche Verteilungskämpfe bereits auf nationaler Ebene ausbrechen würden, wenn ein globaler Ausgleich unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell eines stetigen Wachstums in Frage stellen würde.
Kein Wunder, dass sich die Weltgemeinschaft mit einer Lösung dieser schwierigen Fragen schwertut. 1992 haben die Vereinten Nationen eine Klimarahmenkonvention verabschiedet, wonach die Vertragsstaaten »auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen sollen«. Die reicheren Länder verpflichteten sich zur Zahlung »gerechter und angemessener Beiträge«. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 beinhaltet fast wortgleiche Verpflichtungen. Geschehen ist seither wenig. Auch der Deutsche Ethikrat fordert aktuell weiterhin, dass die wohlhabenden Industriestaaten die Länder des Globalen Südens darin unterstützen, die notwendigen Investitionen zur Emissionsreduzierung und Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren. Sinnvoll wäre es jedenfalls, wenn alle Staaten koordiniert den Wandel zu einer klimaneutralen und zukunftsfähigen Wirtschafts- und Lebensweise vollziehen würden. Für die Industriestaaten kann dies eine grundlegende Transformation des Wirtschaftens und Konsumierens bedeuten. Ziel müsste dabei sein, die sozialen Sicherungssysteme und den Arbeitsmarkt von einem Wachstum des Energie-, Boden- und Rohstoffverbrauchs zu entkoppeln.
Der Gedanke der »Suffizienz« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass in allen Ländern Mindeststandards für ein »gutes, gelingendes Leben« erreicht werden sollten und dass bei Ausgleichsmaßnahmen zunächst diejenigen zu bevorzugen sind, die noch am weitesten davon entfernt sind. In der Lesart des Ökumenischen Netzwerks bedeutet suffiziente Klimagerechtigkeit vor allem für die reichen Länder die bewusste und beabsichtigte Verringerung des Bedarfes an Energie, vor allem fossiler Herkunft, an endlichen Rohstoffen und an Flächen. Eine entsprechende Politik strebt eine Begrenzung dieses Bedarfs in erster Linie durch fördernde und regulierende Maßnahmen der öffentlichen Hand an. Die EKD hat bereits mehrfach eine »Ethik des Genug« gefordert, d.h. es soll darum gehen, dass alle genug zum Leben haben. Damit wird die Erwartung verbunden, dass ein »Weniger« an Überfluss zu einem »Mehr« an Gesundheit, Lebensqualität und verfügbarer Zeit führen kann.
Bis dieses gesamtgesellschaftliche Fernziel erreicht ist, ist aber niemand daran gehindert, seinen eigenen Konsum an Energie und Ressourcen zu reduzieren, beispielsweise
beim Stromverbrauch durch den Umstieg auf erneuerbare Energien und den Einsatz von Energiespartechnik,
beim Verkehr durch den Umstieg auf ein kleineres, emissionsärmeres Auto, das Fahrrad und den ÖPNV,
bei der Ernährung durch die Reduzierung des Fleischkonsums,
durch bewusstes Einkaufen (nachhaltigere Artikel, Reparieren statt Wegwerfen, Second-Hand-Shops usw.).
Zahlreiche Anregungen finden sich hier.