Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 178/5 - Mai 2022

 

 

Wie ist Jesu Gewaltlosigkeit zu verstehen? - Karin Klingbeil

Das Hohelied der Liebe - Peter Lange

Aus dem Land der Ausgestoßenen ... - Veit Schäfer

Schwedische Templer im Heiligen Land (Teil 1) - Jakob Eisler

Buchbesprechung »Im eigenen Feuer« - Katja Dorothea Buck

»Für dich trinke ich gerne einen Schluck Bier« - Katja Dorothea Buck

Wie ist Jesu Gewaltlosigkeit zu verstehen?

Die gegenwärtige Zeit, in der wir durch den Krieg in der Ukraine hautnah so viel Gewalt erle­ben, zwingt uns dazu, eine Position einzunehmen. Für die Ukraine, die als souveräner Staat von dem russischen Aggressor angegriffen wurde, hat sich die Frage gar nicht erst gestellt, sich dagegen nicht zu wehren. Dabei sei dahingestellt, was der politische und historische Hintergrund für dieses unentschuldbare Vorgehen gewesen sein mag.

Kinder malen Protestplakate gegen den Krieg (Foto: Stefan Müller,
 Wikimedia Commons)
(Foto: Stefan Müller, Wikimedia Commons)

Pazifisten setzen die Gewaltlosigkeit, die Jesus - in Bezug auf seine eigene Person - vertrat, absolut und fordern diese für jede nur denkbare Situation ein. Bezogen auf den Angriffskrieg auf die Ukraine würde diese Position bedeuten, dass man der Ukra­ine keine Waffen liefern, ja, dass sie gar keine Waf­fen einsetzen dürfe. Sicher, wenn man das nackte Überleben vieler Menschen als das oberste Ziel setzte, wäre das ganz sicher richtig, denn dann wä­re möglicherweise kein Beschuss erfolgt und wäre kein Leben bedroht worden, nicht bei den Ukrainern und auch nicht auf Seiten der russischen Soldaten. Auch wären den Menschen kriegsbedingte Traumata erspart geblieben, unter denen viele ihr ganzes Leben lang leiden werden.

Gewaltfreie Gegenmaßnahmen wie etwa harte Sanktionen werden von Pazifisten durchaus akzeptiert, natürlich auch das, was an unglaublichen Bildern eines gewaltfreien Widerstands um die Welt ging: unbewaffnete, zum Teil ältere Menschen, auch Frauen, die sich den anrol­lenden russischen Panzern mit ihren bloßen Körpern in den Weg stellten - und diese damit zum Stehen brachten. Allerdings war nicht anzunehmen, dass so auf breiter Front der rus­sische Angriff hätte gestoppt werden können. Wenn wir weiter denken, kommen wir schnell zu dem Ergebnis, dass die Ukraine ohne Gegenwehr bereits dem russischen Imperium einverleibt worden wäre. Und dass all die Ukrainer, die sich bis heute so unglaublich vehement gegen die russische Übernahme wehren, die, die schon zu Millionen aus dem Land geflüchtet sind, und die, die geblieben sind und vielfach Tag und Nacht in Schutzkellern zubringen, nicht mehr in einer freien Demokratie leben würden. Stattdessen hätten sie sich - verbunden mit allen Re­pressalien, die man heute aus der russischen Föderation kennt - dem russischen Machtan­spruch unterwerfen müssen. Die ukrainische Identität würde von der Landkarte und aus dem Leben der Menschen verschwinden. Ein echter Friede wäre also auch so nicht gegeben.

Außerdem wehrt sich auch in uns alles, wenn wir sehen, dass ein ungerechtfertigter Angriff auf ein souveränes Land, der grausame dauernde Beschuss vielfach auf Wohn- und Kranken­häuser und auf andere zivile und Versorgungseinrichtungen, die Verhinderung humanitärer Korridore, um Verletzte und Zivilpersonen aus der Gefahrenzone bringen zu können, und in­zwischen auch Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung ungeahndet bleiben sollten.

Das ukrainische Volk hat sich selber dafür entschieden, sich zu verteidigen und dabei Zer­störung und Tod in Kauf zu nehmen - aber das führte naturgemäß zu einer Spirale der Gewalt: um sich zur Wehr zu setzen, setzte die Ukraine Waffen ein und bat die Welt, mit weiteren Waffenlieferungen zu helfen. Die Europäer als direkte Nachbarn des Geschehens reagierten sofort entsprechend und auch Deutschland rückte von der Haltung ab, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Es liegt in der Natur der Sache, dass die russischen Angriffe heftiger wurden.

Das eigentlich Tragische daran ist meiner Meinung nach, dass die bislang geltende Frie­densordnung mittlerweile zerstört ist. Und auch die Auffassung, dass Abrüstung Frieden bringt und eine Welt ohne Waffen möglich ist, ist auf unabsehbare Zeit diskreditiert. Wir fühlen eine latente Bedrohung und versuchen nun, dieser zu begegnen. Zugleich wissen wir alle, dass die Unterstützung der Ukraine den weiteren Beschuss und unsägliche Grausamkeiten nach sich ziehen wird.

Als Christen fragen wir uns, welche Haltung zur Gewalt die richtige ist - und schauen zuerst auf das, was uns von Jesus übermittelt ist. Unser Bild von ihm ist das eines den Menschen zugewandten Lehrers, der seinen Jüngern in den unterschiedlichsten Situationen zeigt, wie durch Nächstenliebe und direkte Zuwendung alles möglich ist - für die Betroffenen und für sich selbst. Diese Zuwendung zum Anderen erfährt in den Forderungen der Bergpredigt ein Höchstmaß an ethischem Verhalten, das das Hinhalten der anderen Backe und die Fein­des­liebe einschließt. Jesus selber hat Gewaltverzicht geübt; die Bibelstellen, nach denen er unge­halten oder gar aggressiv reagiert (bei der sogenannten Tempelreinigung), sind selten. Selbst bei seiner Gefangennahme widersetzte er sich nicht und wies auch Petrus an, das Schwert nicht gegen die Truppe der Hohepriester zu erheben ( ... denn wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen). Viele Christen haben aus der Logik dieses Gewaltverzichtes versucht, ähnlich zu handeln: Franz von Assisi nahm z.B. an einem Kreuzzug teil ohne zu kämpfen, sondern traf sich zur theologischen Auseinandersetzung mit dem Sultan; der Wider­standskämpfer Franz Jägerstetter verweigerte im Zweiten Weltkrieg den Wehrdienst und wur­de wegen »Wehrkraftzersetzung« zum Tode verurteilt und hingerichtet. Solche Beispiele von Menschen, die bewusst für Ihre Überzeugung sterben, gibt es etliche, und auch Dietrich Bonhoeffer, der sogar den Tyrannenmord als vertretbar beurteilte, gehört dazu.

Aber es gibt keine Bibelstellen, nach denen Jesus dazu auffordert, sich so zu verhalten, oder verbietet, sich im Angriffsfall zu verteidigen. Obwohl er selber durch sein Handeln immer wieder gegen die rituellen jüdischen Gebote (Sabbatheiligung, Speisevorschriften) verstieß, dadurch provozierte und sich schließlich durch sein Erscheinen in Jerusalem sehr bewusst in die Hände der Hohepriester gab, ist seine Empfehlung für das menschliche Zusammenleben eher, direkte Gewalt durch Beschämen des aggressiven Gegenübers zu vermeiden (s.o.).

Dass Jesus am Kreuz mit Verbrechern gestorben ist, weist auf die Verurteilung und Durch­führung durch die Römer hin - wäre Jesus nach jüdischem Recht verurteilt und hingerichtet worden, wäre das durch Steinigung geschehen. Daraus wird auch eine Interpretation hergelei­tet, dass Jesus als aufständischer Aufwiegler verurteilt und hingerichtet wurde. In diesem Zusammenhang mag Jesu Aussage irritierend sein, er sei nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10,34 ff). Das hört sich nach dem Ruf zu den Waffen an, aber aus dem Zusammenhang ergibt sich zweifellos, dass es hier nicht um Waffengewalt geht, sondern dass das Schwert hier - wie so oft - metaphorisch zu verstehen ist (s. auch die Darstellungen von Justitia-Statuen) und zwar als Metapher für die Entscheidung (für Gerechtigkeit und Wahrheit). Auch kündigte Jesus an, dass das Bekenntnis zu ihm und zu seiner Lehre viele Menschen gegeneinander aufbringen und zu Streit führen werde, in den Familien, unter Freunden, unter Hausgenossen, denn es geht um eine grundlegende Entschei­dung, die das Leben fundamental prägt - zumindest zur damaligen Zeit.

Aus Jesu Verhalten geht einerseits Gewaltverzicht als Lebenshaltung hervor, andrerseits bleibt die Schlussfolgerung daraus für uns in den verschiedenen Lebenssituationen nach wie vor unklar. Wesentlich erscheint mir aber, dass Jesu Handeln und Verhalten ganz entschieden durch seine Naherwartung geprägt war. Noch kurz vor seinem Tod, den er als für sich be­stimmten Weg Gottes ansah und in den er sehr bewusst ging, sagte er zu seinen Anhängern, dass manch einer der Anwesenden den Tod nicht schmecken werde, bevor das von ihm ver­kündete Reich Gottes kommen werde. Eine solche Überzeugung verändert die Grundbedin­gung für manche Beurteilungen Jesu. Für uns heute, 2000 Jahre später, bedeutet das, dass auch der Glaubende nicht verallgemeinernd stur Gebote befolgen, sondern seinen eigenen Verstand benutzen und in fraglichen Situationen jeweils die Folgen für ein dauerhaft gutes menschliches Zusammenleben bedenken sollte.

Karin Klingbeil

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Das Hohelied der Liebe

(1. Korinther 13,1-13)

Wenn wir uns die Frage stellen, wo denn in den vielen Berichten und Glaubensbekundungen der Bibel der wirkliche Jesus aufscheint, sollten wir uns am besten an denjenigen wenden, der die frühesten Aussagen über ihn gemacht hat. Dieser »Zeuge« Jesu ist nicht etwa unter den Verfassern der Evangelien zu finden, die ihre Berichte meist erst mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod verfasst haben. Der wichtigste Bekenner Jesu ist zweifellos der Apostel Paulus, dessen spirituelles Erlebnis bei ihm eine fundamentale Änderung seiner geistigen Einstellung hervorgerufen hatte. Seinen Berichten über Jesus liegt ein erstes eigenes Erlebnis zugrunde, nicht etwas, über das vor ihm schon andere erzählt oder geschrieben hatten.

Mit Paulus begannen die Auslegungen darüber, welche Bedeutung der bittere schmähliche Tod Jesu am Kreuz für die Welt habe. Zunehmend kam es zu der Annahme, dass dieses Sterben als Heil für die sündige Menschheit aufgefasst werden könnte. Jesus habe sich für andere hingegeben, um sie von der Last ihrer Sünden zu befreien. Das Kreuz von Golgatha sei das äußere Zeichen dieser Befreiung gewesen. Gott habe diese Sündenvergebung in sei­nem Heilsplan bestimmt.

Heutzutage weichen immer mehr Christen von diesem Denken ab. Das Kreuz bedeute grausame Schmerzen für den an diesem Pfahl Gemarterten und nicht etwa ein Heil für die sündige Menschheit. Doch dieses Denken war immer noch in den Schriften des Neuen Tes­taments verankert. Mit einer Ausnahme: Im Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth ist ein völlig anderer Ton zu vernehmen. »Nichts geht über die Liebe« heißt es in der Überschrift über dem 13. Kapitel dieses Briefes. Nicht der Glaube an die seligmachende Wirkung des Kreuzes ist das Entscheidende für den Menschen, sondern Gottes Liebe. Der Apostel überschlägt sich geradezu in der Beschreibung der Auswirkungen dieser Liebe: »Wenn ich prophetische Eingebungen habe und alle himmlischen Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis besitze, wenn ich einen so starken Glauben habe, dass ich Berge versetzen kann, aber doch keine Liebe, dann bin ich nichts.« Kein Sünden-Bekenntnis solle den Menschen belasten, sondern die Freude am Dasein und an der Verbundenheit mit anderen: »Die Liebe gibt nie jemanden auf, in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere. Alles verträgt sie mit großer Geduld. Niemals wird die Liebe vergehen.«

Diese Zusage des Paulus ist herzerwärmend. Sie braucht kein Kreuzesdenken. Deshalb wird dieses Brief-Kapitel an die Korinther weiterhin als das »Hohelied der Liebe« Teil einer unvergänglichen biblischen Botschaft bleiben.

Peter Lange

Aus dem Land der Ausgestoßenen ...

Wie fühlen sich Russen nach dem Überfall ihres Landes auf die Ukraine?

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar wird dem Land und seinen vom Krieg bedrängten und vertriebenen Menschen eine großartige, internationale Solidarität zuteil. Der folgende Beitrag macht darauf aufmerksam, dass auch viele Russinnen und Russen, vor allen jene, die gegen den Krieg sind, oder auch jene, die im Ausland wegen ihrer Nationalität brüskiert oder angefeindet werden, des Mitgefühls, der Hilfe und des Verständnisses bedürfen.

 

Bekanntlich hat das russische Parlament den Bürgerinnen und Bürgern Russlands nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine einen Maulkorb umgehängt. Sie dürfen sich zu dem Geschehen nicht anders äußern, als es die regierungsamtlichen Sprachregelungen erlau­ben. Öffentlich jedenfalls nicht, andernfalls drohen drakonische Strafen. So darf, beispielswei­se, Krieg nicht Krieg genannt werden, obwohl für alle Welt offensichtlich ist, dass in der Ukra­ine ein Krieg tobt.

Es sind nur wenige Russinnen und Russen, die den Mut aufbringen, öffentlich ihre Stimmen gegen den Krieg zu erheben und die Konsequenzen dafür auf sich zu nehmen. Sie sind be­wundernswert. Man kann nur ahnen, dass es aber Unzählige sind, die genau so denken, es aber aus verständlichen Gründen für sich behalten. Freilich, es wird auch nicht wenige Rus­sinnen und Russen geben, die den Angriff auf die Ukraine billigen; die Gründe dafür sind viel­fältig, wenn auch aus westlicher Sicht oft wenig verständlich.

Es war etwa Mitte Februar, der russische Aufmarsch an den Grenzen der Ukraine in vollem Gange, ebenso wie der diplomatische Großeinsatz gegen den drohenden Krieg, als meine Frau und ich von einem gemischt russisch-ukrainischen Freundespaar, das teils in Russland, teils in Westeuropa lebt, einen Brief erhielten. Darin nahmen die Freunde kritisch Stellung zu dem Einfluss des Westens und der westlichen Medien auf die Ukraine, um sie Russland zu entfremden. Der Brief gipfelte in der Überzeugung: niemals werde Russland angreifen, nie­mals habe es angegriffen, sondern immer nur auf Angriffe reagiert ... Ein Blick in die europäi­sche Geschichte der letzten drei Jahrhunderte scheint das im Großen und Ganzen nahezu­legen.

Wenige Tage später hatte der russische Überfall auf die Ukraine die hochgemute Überzeu­gung unserer Freunde zunichte gemacht. Natürlich bat ich die Freunde um ihre Sicht auf die so dramatisch veränderte Lage. Mit keinem Wort hatte ich dabei angedeutet, dass sie den rus­sischen Einmarsch billigen könnten. Dennoch enttäuschte sie allein schon meine Frage bitter! Wie wir seien sie fassungslos, maßlos enttäuscht von der Regierung ihres Landes. Es bedurfte zweier weiterer Mailwechsel, ehe wir unter uns sozusagen wieder Frieden und Einigkeit herge­stellt hatten! Allein unsere vorangegangene Verurteilung jedes Krieges hatte bei den Freunden die Vermutung ausgelöst, wir würden sie in Bausch und Bogen zu den russischen Befürwor­tern des Einmarsches in der Ukraine zählen! Die Nerven liegen blank in solchen Zeiten.

»Unser Leben endete am 24. Februar« heißt es in einer Mail unserer Freunde, »Wir leben wie mechanisch, wir sind gestorben vor Scham und Schande, wir möchten glauben, das alles sei nur ein schrecklicher Traum«. Wie gesagt, sie leben zeitweise in Westeuropa und sind nun voll den massiven Vorwürfen gegen ihr Heimatland ausgesetzt, die sie, ohne direkt angegriffen zu sein, auch auf sich beziehen. »Es ist jetzt so beschämend, Russe zu sein«, bekennen sie. So wie ihnen wird es vielen ihrer Landsleute gehen. Angehörige in Russland und in der Ukra­ine sind es, die ihnen Nähe und Zuversicht vermitteln: »Unsere Verwandten sitzen in Charkiw im Keller und trösten uns am Telefon, obwohl ihre Lage ungleich schlimmer ist«.

Zugleich beteuern unsere Freunde, dass sie sich ungeachtet des Geschehenen niemals von Russland trennen könnten, ihrer geliebten Heimat, der sie auf ewig verbunden seien. Ge­fühle, die wenig Menschen fremd sein dürften.

Für die jetzt im Ausland lebenden Russinnen und Russen kommt hinzu, dass sie massiv von den westlichen Sanktionen gegen Russland betroffen sind, beispielsweise vom Aus­schluss von den internationalen Zahlungssystemen. So war es unseren Freunden nach dem Kriegsausbruch nicht mehr möglich, Geldgeschäfte abzuwickeln.

Von gestern auf heute verwandelte sich das Lebensgefühl unserer Freunde total. Selbst wenn man die dramatisch gestimmte russische Seele berücksichtigt, zeigt der letzte Satz ihres Briefes den verzweifelten Gemütszustand vieler russischer Menschen. »Unser Land braucht uns nicht, auch andere Länder brauchen uns nicht. Unser Traum war immer, uns in die Welt zu integrieren, von der wir solange isoliert waren. Wir wollten mit allen befreundet sein, alle lieben ... Nun haben wir keinen Platz mehr in der Welt. Wir grüßen Euch, jetzt aber aus dem Land der Ausgestoßenen«.

Veit Schäfer

Schwedische Templer im Heiligen Land (Teil 1)

Die Ideen des Tempels wurden im 19. Jahrhundert nicht nur in Württemberg verbreitet, son­dern auch in anderen Regionen Deutschlands wie in Sachsen, Hessen oder Bayern. Auch im Ausland wie z.B. in der Schweiz oder besonders in den USA und am Nordrand des Kaukasus wurden Templergemeinden gegründet. Weniger bekannt aber ist der Kontakt der Tempellei­tung nach Schweden, der vor genau 150 Jahren mit einer Reise von Georg David Hardegg begann. Am 4. Mai 1872 bestieg er - zusammen mit seinem Schwiegersohn, dem Lehrer Trau­gott Frei - in Haifa ein Schiff des Österreichischen Lloyd nach Triest, wie wir aus seinem später veröffentlichten Reise-Tagebuch wissen.

G. D. Hardegg und sein Schwiegersohn (Quelle: Archiv der Tempelgesellschaft)
(Quelle: Archiv der Tempelgesellschaft)

Bekanntlich waren Hoffmann und Hardegg schon im Jahre 1868 nach Palästina gezogen. Während Hoffmann sich in Jaffa niederließ, blieb Hardegg Leiter der Kolonie in Haifa. Trotz seiner erheblichen Inanspruchnahme durch den Aufbau und die Konso­lidierung der Kolonie wollte er weitere Kreise für die Auswande­rung nach Palästina gewinnen und plante deshalb eine Reise nach Europa. Sein Weg führte ihn 1872 von Haifa über Triest, Innsbruck, München, Dresden, Berlin, Schwerin, Lübeck, Kopen­hagen und Christiania (Oslo) nach Stockholm, wo er versuchte, eine Gemeinde zu gründen, die nicht nur das Kolonisationspro­jekt mit Geldern unterstützen, sondern auch tatkräftig am Aufbau des Tempels im Orient mitwirken könnte. Mit Hilfe des Stockhol­mers Johannes Lindquist (1835-1878) schaffte Hardegg es tat­sächlich, in Schweden eine Gemeinde zu gründen, die nicht nur seine Vorträge hörte, sondern auch eine Zeitschrift herausgab mit Beiträgen, die aus der deutschen »Warte« ins Schwedische übersetzt wurden; es wurden aber auch eigene Beiträge in Schwedisch beigesteuert. Die Zeitschrift hieß »Abend und Morgen« (Natt och Morgon). Außer in Stockholm entstand eine Gemeinde schwedischer Templer in dem Städtchen Piteå in Nord­schweden.

Lindquists Veröffentlichungen führten der Gemeinde in Stockholm weitere begeisterte An­hänger zu. Von dort und aus Piteå versuchten rund zwei Dutzend Personen nach Palästina in die Templerkolonien auszuwandern. Außer Lindquist waren dies die Familien Winroth, Skans und Anderson, der Arzt Dr. Erich Nyström, dessen Bruder Josef und weitere Einzelpersonen. Die Liste der von mir bislang ermittelten Personen samt Lebensdaten liegt dem TGD-Archiv vor. Der erste, der nach Haifa auswanderte, war Johannes Lindquist im Jahre 1875. 1876 und 1878 folgten weitere Gruppen, zunächst die große Familie von Ernst August Winroth aus Piteå, der am 15. Oktober 1876 in Jaffa ankam. Das erste Jahr verging mit der Suche nach einem geeigneten Platz für eine schwedische Templersiedlung im Orient. 1877 zog Winroth mit seiner Familie von Sarona nach Beirut weiter, um sich in den Bergen des Libanon niederzulas­sen. In Broumana, einem arabischen Gebirgsdorf zweieinhalb Stunden nordöstlich von Beirut, mietete er eine Wohnung, um von dort aus im ganzen Land nach einem erschwinglichen grö­ßeren Gut zu suchen. Da die angebotenen Güter für die wenig bemittelten Brüder in Schwe­den aber zu teuer waren, verzichtete er auf den Ankauf eines Grundstücks im Gebirge.

Allerdings bot sich ihm nur wenig später die Gelegenheit, eine am Fuße des Libanongebir­ges, an der Mündung des Flusses Kasimie zwischen Tyros und Saida gelegene türkische Be­sitzung von 381 Hektar für einen annehmbaren Preis zu kaufen. Da die Lage im Flusstal we­gen des feucht-warmen Klimas berüchtigt war, wurde zwar von verschiedenen Seiten vom Kauf dringend abgeraten. Winroth - ganz von der biblischen Weissagung durchdrungen - entgegnete jedoch, Saida und Tyros seien einst blühende Städte gewesen und das Land herum sei fruchtbar und gesund; insofern habe er den festen Glauben, dass es Gott gefallen würde, durch ihn als Werkzeug das Land wieder empor zu bringen und für die Brüder einen ertragsfähigen gesunden Aufenthaltsort im Lande der Weissagungen zu gründen. So kaufte er die Besitzung schließlich für einen Preis von 2200 Napoleon d‘or, samt Gebäuden, vollständi­gem Inventar und Vieh. Im Herbst 1877 siedelte Winroth mit dem ein Jahr früher angekomme­nen, teilweise in Beirut bei Gustav Bulling, teilweise in Jaffa beschäftigt gewesenen Schweden Johannes Lindquist nach Suedije über, während Winroth seine Familie in Beirut einquartierte. Winroth betrieb das Gut mit Arabern und war teilweise dort und teilweise in Beirut. Lindquist hingegen war ununterbrochen auf dem Gut und arbeitete mit voller Kraft und Gottvertrauen teils auf dem Acker, teils in den vorhandenen Gebäuden. Als gelernter Schreiner konnte er Türen, Fenster und andere Holzarbeiten selbst anfertigen. Der deutsche Maurer Gottlieb Fried­rich Gohl (1859-1912) vergrößerte die Wohnräume. Zusammen wollten sie für die große Fami­lie des Bruders Winroth eine gesunde und geräumige Wohnung schaffen.

Im Juli 1878 wünschte Winroth seine Familie in der Nähe zu haben und wählte als deren Aufenthaltsort das nur eineinhalb Stunden von Suedije gelegene arabische Dorf Scheich Sekije aus. Denn Winroth fühlte sich durch die strapaziösen Ritte von Suedije nach Beirut stets sehr erschöpft und litt zudem unter Fieberattacken. Er hatte vor, mit Johannes Lindquist eben­falls nach Scheich Sekije umzuziehen und von dort aus das Gut zu bewirtschaften. Bulling in Beirut, der dort schon längere Zeit ansässig war, besorgte der Familie ein Boot, welches mit der Frau von Ernst August Winroth, Carolina, mehreren kleinen Kindern, einer Magd und einer Amme unter seiner Begleitung nach Suedije in See stach. Bei günstigem Wind hätte das Schiff nach zwölf Stunden dort Anker werfen können; wegen ungünstiger Wetterverhältnisse dauerte die Fahrt aber 48 Stunden. Die Reisenden konnten zudem wegen der hohen Wellen nur in einer entfernten Bucht anlegen und mussten nachts noch einen dreistündigen Fußmarsch ab­solvieren, bevor sie in Suedije eintrafen.

Besonders Carolina Winroth strengte diese Reise sehr an, da sie erst im Juni von Zwillingen entbunden hatte und mithin noch sehr schwach war. Da Winroth in Scheich Sekije noch keinen festen Mietvertrag hatte, mussten alle noch in Suedije bleiben. Auf dem sumpfigen Areal des Hofguts gab es viel Ungeziefer, zudem waren die Gebäude noch nicht richtig bewohnbar und für eine Familie mit Personal nicht eingerichtet. So musste die Mutter mit den kleinen Kindern das Gut nach drei Tagen wieder verlassen. Auf Pferden, Kamelen und Eseln wurden sie mit dem notwendigsten Hausrat nach Scheich Sekije geführt, wo sie eine arabische Wohnung bezogen. Mit der zunehmenden Hitze wurde die Luft schlechter und schlechter. Johannes Lindquist, der ständig auf dem Gut gewesen war, bekam Fieber, so dass man ihn schließlich auf einem Pferd nach Scheich Sekije führen musste, um ihn dort pflegen zu lassen. Auch Ernst August Winroth wurde fieberkrank; seine Familie litt zudem unter Augenkrankheiten. Das Gut war nun ohne Aufsicht und dem Zugriff von Arabern aus der Umgebung ausgesetzt. Lindquist wurde so schwer krank, dass man ihn nach Saida brachte, wo der schwedische (arabische) Honorarkonsul für ärztliche Hilfe sorgte. Winroth folgte ihm bald dorthin, da er eingesehen hatte, dass der weitere Aufenthalt seiner kranken Familie in dem entlegenen ara­bischen Dorf ohne ärztliche Betreuung zu riskant sein würde. Er mietete in Saida ein Haus, welches er mit seiner Familie bezog. Durch richtige ärztliche Behandlung und liebevolle Pflege durch Winroth genas Lindquist bald. Während dieser Zeit kam die nächste Familie aus Schweden in den Libanon, und zwar die Familie von Matthias Skans aus Stockholm, der die Aufsicht über das Gut übernahm. Leider konnte sich Johannes Lindquist seiner Arbeit im Gut nicht mehr lange zuwenden; er erkrankte wieder an Dysenterie und verstarb im Dezember 1878. Er wurde zunächst auf dem Protestantischen Friedhof in Saida beerdigt; seine sterblichen Überreste wurden einige Jahre später nach Haifa überführt. (wird fortgesetzt)

Dr. Jakob Eisler

BUCHBESPRECHUNG

Im eigenen Feuer

Vielen Irrtümern aufgesessen

Im eigenen Feuer (Quelle: Dietz-Verlag)
(Quelle: Dietz-Verlag)

Ami Ajalon ist ein ungewöhnlicher Schriftsteller. Aufgewachsen in einem Kibbuz, erzogen im patriotischen Geist der Gründerväter des jungen Staates Israel, wurde er erst Kampfschwimmer beim Militär, später Kommandeur der Marine und ab 1996 schließlich Chef des israelischen Geheimdienstes Shin Bet. Man brauche dort jemanden, der Palästinenser nicht nur als Terroristen, son­dern auch als Partner im politischen Prozess sehen könne, sagte ihm damals Schimon Peres.

Ajalon übernimmt bis 2000 diese Aufgabe. Er sucht sich Part­ner auf palästinensischer Seite, beginnt, palästinensische Auto­ren, Dichter und Philosophen zu lesen und nimmt Kontakt zu pa­lästinensischen Soziologen auf. Schritt für Schritt arbeitet er sich in die Gedankenwelt »der anderen Seite« ein, um das Narrativ der Palästinenser zu verstehen. Er beginnt zu begreifen, dass die israelische Seite nicht nur Anforderungen an die Palästinenser stellen kann, sondern auch Vertrauen aufbauen muss. Denn, so seine Überzeugung, alle Waffen und selbst die klügsten Strate­gien des Geheimdienstes können den Terrorismus nie beenden. Auch die Politik müsse mitzie­hen.

Nach seiner Zeit beim Shin Bet geht Ajalon in die Politik, wird in die Knesset gewählt und auch Kabinettsminister. International bekannt wurde er aufgrund seiner Friedensinitiative mit dem palästinensischen Philosophen Sari Nusseibeh, mit dem er 2002 die Organisation Peo­ple’s Voice gründete, die auf beiden Seiten für die Zweistaatenlösung wirbt.

Doch Ajalon hat mehr zu bieten als die Memoiren eines geläuterten Falken. Er fragt nach der Zukunft Israels und stellt nüchtern fest, dass die Politik der letzten Jahre nicht nur die palästinensischen Nachbarn erniedrige, sondern auch die israelische Zivilgesellschaft unter­grabe. Damit stehe nicht nur die Sicherheit Israels auf dem Spiel, sondern auch seine Identität als demokratischer Staat. Warum eine große Mehrheit der Israelis dies offenbar zulasse, will Ajalon wissen und beginnt, sich selbstkritisch mit den eigenen Wurzeln zu befassen. Die Generation seiner sozialistischen Eltern habe ein Narrativ konstruiert von der Rückkehr in ein Land, das ihnen geraubt, geplündert und von anderen besetzt worden sei. Sie habe die zwei­tausendjährige jüdische Geschichte in der Diaspora ausgelöscht und scheinbar nahtlos an das heldenhafte Zeitalter der israelitischen Königreiche und Kriege gegen Griechen und Römer an­geknüpft.

Niemals sei ihm in den Sinn gekommen zu hinterfragen, »inwieweit die Erzählungen, mit de­nen alle Israelis großgeworden sind, unser Handeln und unsere Sichtweise der Zukunft be­stim­men«. Es reiche aber nicht, nur die Ungerechtigkeit der Besatzung zu erkennen und mit den Palästinensern ein gemeinsames Bild von der Zukunft zu entwerfen. Man müsse auch die nationalistische Geschichtsschreibung hinterfragen, mit der alle Israelis aufwüchsen. Die isra­elischen Juden müssten »die Vergangenheit neu erfinden«, fordert Ajalon.

»Im eigenen Feuer« ist ein Buch, das nicht kalt lässt. So schonungslos, wie Ajalon mit eige­nen Fehleinschätzungen umgeht, so deutlich fordert er einen Perspektivwechsel. Damit richtet er sich an alle, die nichts lieber sehen würden, als dass zwischen Mittelmeer und Jordan endlich ein gerechter Friede herrscht.

Katja Dorothea Buck

Ami Ajalon mit Anthony David: »Im eigenen Feuer. Wie Israel sich selbst zum Feind wurde und die jüdische Demokratie trotzdem gelingen kann - Erinnerungen eines Geheimdienstchefs«, Dietz-Verlag, Bonn 2021, 360 Seiten, 26 Euro

Aus: Schneller-Magazin Nr. 1/2022

»Für dich trinke ich gerne einen Schluck Bier«

Ein Gespräch über Humor, die Liebe zu Deutschland und die Sonne Ägyptens

Bischof Anba Damian ist offizieller Vertreter der Koptischen Kirche in Deutschland. Dass er im schwarzen Habit auffällt, nutzt er als Möglichkeit, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sogar mit der schwäbischen Kehrwoche kennt der 66-Jährige sich aus, der sich Deutschland so verbunden fühlt, dass er hier einmal begraben werden möchte.

 

Sie selbst vereinen unterschiedliche Identitäten in sich: Koptisch, ägyptisch, deutsch und vielleicht auch noch andere. Welche hat die Oberhand?

Keine. Ich bin ein Kind Gottes!

Okay, dann formuliere ich meine Frage anders. Sie leben seit 40 Jahren in Deutschland. Würden Sie sich als ein koptischer Deutscher oder als deutscher Kopte bezeichnen?

Meine religiöse und konfessionelle Identität ist eindeutig: Ich bin Mitglied und Diener der Kopti­schen Kirche und bin sehr dankbar dafür. Ich fühle mich sehr bereichert durch das Leben in der Kirche. Dass ich in Deutschland leben kann und darf, sehe ich wiederum als Privileg. Ich liebe dieses Land, ich liebe die Deutschen und ich möchte hier begraben werden. Meine Grab­stätte habe ich bereits im Kloster Brenkhausen ausgesucht.

Was lieben Sie an Deutschland?

Ich habe Hochachtung vor diesem Volk, seiner systematischen Denkweise, der Ehrlichkeit, seiner Klarheit, die eigenen Grenzen zu erkennen, seiner Wissenschaft, seinem kultivierten Ver­halten. Ich fühle mich nirgends auf der Welt so wohl wie hier.

Das ist ein deutliches Bekenntnis. Wir Deutschen neigen ja eher dazu, unser Land zu kriti­sieren.

Mein Bekenntnis kommt von Herzen. Ich schätze an den Deutschen, dass sie keine falsche Übertreibung kennen. Sie haben in meinen Augen eine emotionale Reife, sind fair, helfen und ermutigen, damit Talente zur Geltung kommen können.

Das war nicht immer so ...

Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt. Als ich vor 40 Jahren als junger Arzt hierhergekommen bin, war ich ein Exot. Heute ist Deutschland viel internationaler geworden. Euer Schicksal als hochgebildetes Volk ist, dass ihr immer nach Perfektion strebt. Deswegen seht ihr die eigenen Schattenseiten deutlicher. Was den Deutschen vielleicht fehlt, ist ein bisschen Humor.

Dafür gibt es davon mehr als genug in Ägypten. Da können die Menschen über alles und je­den lachen.

Aber man muss das richtig verstehen. Papst Schenuda hat seinerzeit bei seinen wöchentli­chen Ansprachen, zu denen Tausende von Menschen kamen, viele Witze erzählt. Da wurde in der Kathedrale oft schallend gelacht. Er hat aber auch gesagt: »Auch mein Lachen ist Aus­druck meines Weinens.« Mit Humor lässt sich viel Elend aushalten und Konflikte lassen sich lösen. Humor ist der Stil eines Volkes, dessen Bildungsgrad nicht sehr hoch ist. In meiner Heimat sind 40 Prozent der Erwachsenen Analphabeten. Mit Humor kann man ihnen vieles verständlich machen. In Witzen steckt oft viel Weisheit.

Als koptischer Bischof fallen Sie in Deutschland immer auf. Ihre Kleidung wirkt für die meis­ten befremdlich. Welche Reaktionen haben Sie schon erlebt?

Alles Mögliche, ich könnte Bücher damit füllen. Gerade in der Adventszeit denken manche Kin­der, ich sei der Nikolaus. Deswegen habe ich auf Reisen immer kleine Kreuze oder Schokola­de bei mir, die ich dann weitergeben kann. Manche sind aber auch überfordert, wenn sie mich sehen. Kurz nach dem 11. September 2001 war ich im Zug von Stuttgart nach Tübingen. Eine Gruppe Jugendlicher saß im gleichen Waggon und ich hörte, wie sie anfingen zu lästern. Osama Bin Laden sei im Zug, mit so einem langen Bart, in dem Köfferchen sei sicher eine Bombe usw. Plötzlich drehte sich einer mit einer Bierdose zu mir um und sagte provozierend, dass ich das ja wohl nicht trinken würde. Ich sagte freundlich, dass ich ehrlicherweise Bier nicht so gerne mag. Für ihn würde ich aber einen Schluck nehmen. Das hat ihre Herzen geöffnet und wir hatten ein wunderbares Gespräch bis Tübingen. Beim Aussteigen wollten sie unbedingt ein Foto mit mir machen. Sie haben mich liebevoll verabschiedet und sich für ihre erste Reaktion entschuldigt.

Wer als Deutscher nach Ägypten kommt, staunt, welch wichtige Rolle die Religion - egal ob muslimisch oder christlich - im Alltag der Menschen spielt. Kann man in Deutschland wirklich Kopte sein?

Ich habe eine komplette Gemeinde aus gebürtigen Deutschen. Mit ihnen könnte ich eine gan­ze Kirche füllen.

Wer sind diese Leute?

Menschen, die eine tiefe Beziehung zur koptischen Kirche aufgebaut haben. Manche waren vorher keine Christen, hatten keine Religion. Andere sind in einer anderen Kirche aufge­wachsen. Mir geht es aber nicht darum, andere Christen abzuwerben.

Warum nicht?

Weil man sonst die Ökumene kaputt macht. Die Einheit der Kirchen braucht als Basis das Ver­trauen untereinander. Wenn also jemand ein Problem mit seinem Pfarrer hat und gerne zu uns kommen möchte, versuche ich, zu schlichten. Wer sich uns anschließen will, muss deswegen nicht seine Kirche verlassen.

Dann bieten Sie gewissermaßen die doppelte Kirchenzugehörigkeit an.

So könnte man das nennen. Wenn jemand 40 Jahre in seiner Kirche war, kann ich doch nicht verlangen, dass er diese Identität einfach ablegt, um mit uns die Kommunion feiern zu können. Man kann niemanden auf Knopfdruck zu einem orthodoxen Christen machen.

Doch die meisten Menschen in Ihren Gottesdiensten haben eine sogenannte Bindestrich-Identität, sind Deutsch-Ägypter oder Deutsch-Kopte. Welche seelsorgerlichen Fragen ergeben sich daraus?

Egal, in welchem Kontext die Menschen leben, wir sind immer für sie da und suchen die Nähe zu jedem einzelnen. Wir begleiten sie in allen Lebensphasen, besuchen sie zuhause, bei der Arbeit, wenn sie im Krankenhaus oder im Gefängnis sind. Wenn jemand Sorgen hat, kann ich ihn oder sie nur beraten, wenn ich das ganze Umfeld kenne. Das muss ich als Seelsorger mit einbeziehen, sonst taugt mein Ratschlag nichts.

Wenn Menschen aber ihre Heimat verlassen und sich in einem fremden Land und in einer fremden Kultur ein neues Leben aufbauen, bringt das spezifische Probleme mit sich, unter de­nen die Menschen leiden.

Natürlich. Da gibt es Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung, mit der Akzeptanz, mit der Sprache oder der Bereitschaft zu lernen, mit der Gesundheit, der Bildung, der Beziehung zu Familienangehörigen in Ägypten, oder mit der Sauberkeit.

Mit der Sauberkeit?

Ja, klar. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In meinen ersten Jahren als Arzt in Deutschland teilte ich mir mit meiner Schwester in Stuttgart-Ost eine kleine Wohnung. Unsere Mutter aus Ägypten besuchte uns. Und als ich an einem Samstag anfing, in dem Haus die große Kehrwoche zu machen, brach sie in Tränen aus. Sie konnte nicht verstehen, dass ihr einziger Sohn, der es bis zum Arzt geschafft hatte, jetzt in Deutschland für andere das Treppenhaus wischte. Das hat sie als Entwürdigung empfunden. Dabei ist in Schwaben die Kehrwoche ganz normal.

Sie leben seit Jahrzehnten in Deutschland. Was fehlt Ihnen?

Mir fehlt die Sonne. Je älter ich werde, desto mehr merke ich, welche Auswirkungen das auf meine Gesundheit hat.

Und wenn Sie in Ägypten sind, was fehlt Ihnen dann?

Sehr viel. Zuallererst meine Freunde. Aber auch die Würde, die Freiheit, die Ordnung, die Dis­ziplin, das saubere Leitungswasser, die frische Luft, die grüne Natur, die Ruhe, die Spa­zier­gänge im Wald. Und ich vermisse mein Fahrrad. In Ägypten könnte ich nie mit dem Rad fah­ren, ohne ausgelacht zu werden.

Das Gespräch führte Katja Dorothea Buck

 

Zur Person:

Bischof Anba Damian wurde 1955 in Kairo geboren. Mit zwölf Jahren verlor er seinen Vater. Damian studierte Medizin in Kairo und ging 1981 nach Deutschland, wo er erst in einem amerikanischen Militärkrankenhaus in Stuttgart arbeitete und später seine Facharztausbildung zum Radiologen in Lud­wigsburg machte. Ab 1988 war er Oberarzt in Mühl­acker (Enzkreis). 1991 ging er zurück nach Ägyp­ten, trat ins Kloster Anba Bishoy im Wadi Natrun ein, empfing 1992 die Mönchs- und 1993 die Pries­terweihe. Im selben Jahr wurde er nach Deutsch­land gesandt. 1995 wurde er zum Generalbischof der Koptisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland ge­weiht. Sein Bischofssitz ist das Kloster Brenkhausen bei Höxter.

Aus: Schneller-Magazin Nr. 1/2022

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