Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 178/4 - April 2022

 

 

Ostern - im Dialog mit John Shelby Spong - Mark Herrmann

Das Gebet in Gethsemane - Wolfgang Blaich

Die Verrückung - Constantin Wissmann

Warum wir Risiken falsch einschätzen - Georg Vielmetter

Mal wieder »Kein Tod auf Golgatha«? - Jörg Klingbeil

Ostern - im Dialog mit John Shelby Spong

Da wir eine christliche Gemeinschaft sind, ist es nur natürlich, dass wir zu Weihnachten die Geburt Jesu feiern. Sein Tod - an den wir uns zu Ostern erinnern - ist allerdings eine etwas an­dere Sache.

Die meisten Christen halten Leiden, Tod und Auferstehung Jesu heute für ebenso wichtig, wie sie es vor 2000 Jahren gewesen sind. Einer der wesentlichen Lehrsätze der Christenheit ist, dass Jesus gestorben sei, um uns zu retten, uns von unseren Sünden zu erlösen. Als ich kürzlich an einer anglikanischen Kirche - der Kirche von England - vorbeikam, bemerkte ich ein Schild, auf dem zu lesen war: »Jesus starb, damit du leben kannst.« Das glaube ich nicht und es würde mir außerordentlich schwerfallen, zu einer christlichen Gemeinschaft zu gehören, die solche Meinungen vertritt.

Daher denke ich, dass das Ostergeschehen fremdartig, übernatürlich oder gar als Fäl­schung wirken kann. Die Tempelgesellschaft jedoch hält sich an Jesu Lehren, die uns als Füh­rung dienen bei dem Leben, das wir führen, und dabei, wie wir uns verhalten. Müssen wir also Jesu Tod von den historischen, lehrreichen und erhellenden Perspektiven her besser verste­hen?

Auch wenn ich mich selber nicht als Mathematiker bezeichnen würde, so habe ich doch eine starke Affinität zu Zahlen. Ihre Struktur, Form und Ordnung faszinieren mich. Zu jeder gestell­ten Aufgabe gibt es eine Vorgehensweise, der man folgt, um die Antwort zu erhalten. Alles kann rational durch Logik und Verstand erklärt werden. Vor diesem Hintergrund suche ich, for­dere ich geradezu Lösungen. Das ist meine Natur.

Indem ich Antworten suche, die mit meinem Denken einhergehen und mein Verständnis befriedigen, habe ich mich dem Schrifttum von John Shelby Spong zugewandt. Der Theologe, religiöse Kommentator und bekannte Autor starb im September 2021 mit 90 Jahren.

Da ich glaube, dass Spong »wie ein Templer« denkt, interessierte ich mich für seine Inter­pretation des Ostergeschehens. Würde ich Spongs Argumentation folgen, sie akzeptieren können und, ganz wichtig, würde sein Standpunkt mir befriedigende Antworten liefern? In zwei Kapiteln seines Buchs - »Jesus für Nicht-Religiöse: das Göttliche im Herzen des Menschen zurückgewinnen« (Jesus for the Non-Religious: recovering the divine at the heart of the hu­man, 2007) - stellt er zuerst kurz seine Einschätzung von Jesu Tod dar, bevor er auf das My­sterium der Auferstehung eingeht.

Spong fragt danach, wie viel Historie in der Geschichte von Jesu Kreuzigung zu finden ist. Paulus, dessen Schriften die frühesten im Neuen Testament sind, die wir haben, stellt fest, dass Jesus gekreuzigt worden ist. Er bezieht sich vielfach auf das Kreuz, den Akt der Kreuzi­gung und den Tod Jesu. Jedoch füllt selbst im ausführlichsten Bericht, den Paulus gibt, - er be­gegnet uns im 1. Korintherbrief 15, der etwa 25 Jahre nach dem Ereignis selbst geschrieben wurde - die Kreuzigung buchstäblich nur eine Zeile: »dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift«.

Da ist nichts von dem Verrat des Judas, Gethsemane, Gefangennahme und Prozess. Nicht die geläufigen Einzelheiten, die die Passionsgeschichte der Evangelien schmücken. Keine Er­wähnung von Pilatus, den Anschuldigungen gegenüber Jesus, dem Druck der jüdischen Men­ge, ihn zu kreuzigen, dass er geschlagen wurde, der Dornenkrone, dass er sein eigenes Kreuz hatte tragen müssen, dem Calvarienberg, Soldaten, die die Nägel einschlugen, oder Verbre­chern, die mit ihm zusammen gekreuzigt worden sein sollten, der Dunkelheit am Mittag und keinerlei Hinweis auf irgendeine Aussage, die Jesus am Kreuz gemacht haben soll. »Er starb.« Das ist alles, was Paulus sagt.

Ebenso handelt Paulus Jesu Grablegung mit nur drei Worten ab: »Er wurde begraben.« In dieser ersten biblischen Geschichte von Jesu Tod wird kein Grab erwähnt, kein Grabtuch, kei­ne Gewürze, kein Garten und kein Joseph von Arimathäa. Das war alles, was die christliche Kirche an Schrifttum über Jesu Tod und Begräbnis hatte bis zu den achtziger Jahren, als das erste Evangelium, das des Markus, geschrieben wurde.

Im Brief des Paulus an die Galater, geschrieben in den früher fünfziger Jahren, entdecken wir, dass Paulus drei Jahre nach seiner Bekehrung Simon Petrus besuchte und 15 Tage lang bei ihm blieb. Wir können annehmen, dass Simon Petrus seine Informationsquelle gewesen ist. Sollte das also alles gewesen sein, an das sich Paulus von dem, was ihm erzählt worden war, erinnerte oder waren das sämtliche Einzelheiten, die Petrus kannte, und dass das alles war, was er weitergegeben hat?

Markus führte zwei Dinge in sein Narrativ ein, die in der Folge sowohl von Matthäus als auch von Lukas übernommen worden sind, um diese fest im christlichen Bewusstsein zu verankern. Als erstes setzte er die Geschichte von Jesu Kreuzigung in die Zeit des jüdischen Passah-Ritus. Dadurch konnte er seinen Bericht mit dem Bezug zu Passah gestalten. Zweitens versuchte er die Feststellung des Paulus, dass Jesus »nach der Schrift« gestorben war, zu erklären, indem er das Schrifttum der hebräischen Tradition benutzte, um Einzelheiten hinzuzufügen, die vorgaben, genau zu beschreiben, wie Jesus gestorben sei.

Also fragt Spong, ob die biblische Beschreibung die durch Augenzeugen erinnerte Ge­schichte ist oder ein »liturgisches Drama«, das sehr viel später so gestaltet worden ist? Um es deutlicher zu sagen: gründen sich die Einzelheiten über Jesu Tod eher auf Tradition und Aus­legung als auf Fakten?

Den ersten Bericht über Jesu Tod schreibt Markus und teilt ihn in einen 24-Stunden-Zyklus auf, sauber in Segmente von drei Stunden. Er beginnt »als es Abend war«, das heißt, als die Sonne untergegangen war (18 Uhr). Das Passahmahl, normalerweise ein Ritus von drei Stun­den, wurde mit einem Lobgesang beendet (21 Uhr). Dann ging Jesus mit den Jüngern in den Garten Gethsemane, aber die, die ihm die Nächsten waren, vermochten nicht, wach zu blei­ben. »Könnt ihr nicht eine Stunde wachen?« fragte Jesus. Die Frage wurde noch zwei weitere Male wiederholt (24 Uhr).

Dann beschreibt Markus Jesu Gefangennahme, bevor Jesus zum Prozess geführt wird. Der Hohe Rat verurteilte ihn aufgrund seines messianischen Anspruchs zum Tode, obwohl nach der jüdischen Tradition nur im Licht des Tages zu Gericht gesessen werden durfte (3 Uhr). Die Zeit zwischen 3 und 6 Uhr wurde Tagesanbruch (Hahnenschrei) genannt. Nun fügt Markus die Geschichte vom Verrat des Petrus ein, indem er Jesus dreimal verleugnete - einmal jede Stun­de, bis zum Hahnenschrei (6 Uhr).

Als wolle er zeigen, dass das Muster der dreistündigen Segmente zielgenau ist, gibt Markus dann an, dass die Handlung »sobald es Morgen war«, in der Dämmerung des neuen Tages (6 Uhr), weiterging. Der verurteilte Jesus wird zu Pontius Pilatus geführt. In schneller Abfolge wird das Verhöhnen und die Folter vor dem Tod geschildert. Als das grausame Spiel vorbei ist, berichtet Markus, dass sie ihn zur 3. Stunde (9 Uhr) hinausführten, um ihn zu kreuzigen. Er benennt nur wenige Einzelheiten über die Kreuzigung selber, bevor er sagt, dass »die 6. Stun­de (12 Uhr Mittag) gekommen war«.

In diesem Moment, wie auf ein Stichwort, fiel Dunkelheit über das Land, die drei Stunden lang andauerte (15 Uhr). Im letzten Zeitabschnitt berichtet Markus von der Grablegung Jesu. Joseph von Arimathäa wird in die Handlung eingeführt, Jesu Körper wird in ein linnenes Leichentuch gehüllt und in das Grab gelegt, das mit einem Stein verschlossen wird. All das wird vollendet, bevor die Sonne untergeht, wodurch wir zum Freitagabend (18 Uhr) kommen.

Das Evangelium des Markus stellt die erste dramatische Erzählung von Jesu Tod dar. Die 24-Stunden-Struktur zeigt sehr offensichtlich, dass nicht die Geschichte, sondern »Liturgie« die treibende Kraft war. Wie Jesus tatsächlich gestorben ist, wurde eher interpretiert als erklärt. Keine Worte oder Einzelheiten stammen aus der Erinnerung von Augenzeugen. Stattdessen entstammen sie den alten Texten der hebräischen Schriften, die nahezu wörtlich übernommen wurden. Besonders die beiden bedeutenden Passagen - aus Psalm 22 und Jesaja 53 - werden einbezogen.

Es ändert nicht, dass Jesus gekreuzigt wurde und starb. Aber, in dieser Auslegung, fand ich Spongs Analyse und Erklärung klar und ausgesprochen einleuchtend. Ich habe einige Antwor­ten bekommen.

Ob die Auferstehung ein reales Geschehen war, wird gewöhnlich so beurteilt, dass es ent­weder so ist oder dass das Christentum auf einer Illusion aufbaut und nicht fortdauern wird. Spong sieht das allerdings nicht so schlicht.

Aber er glaubt, dass die Auferstehung real war, indem er Tatsachen herausstellt, die eröff­nen, dass etwas von großer und maßgeblicher Kraft auf die Kreuzigung folgte, etwas, das dramatische und lebensverändernde Konsequenzen hatte. Während diese Veränderungen, die daraus resultierten, leicht zu beschreiben sind, sind die Ursachen, die diese Veränderungen hervorriefen, es nicht.

Im Markusevangelium werden die Jünger nicht nur als unfähig beschrieben, mit Jesus zu wachen, sondern, dass sie ihn alle im Stich gelassen hätten und geflohen seien. So starb Je­sus alleine. Niemand war da, der seinen Tod hätte bezeugen oder aufschreiben können.

Allerdings brachte ein überwältigendes Erlebnis die Jünger zurück und verlieh ihnen den Mut, die Sache weiter zu verfolgen. Ihre Überzeugung war so stark, dass keine Bedrohung oder Angst sie nun von dem Gott trennte, von dem sie glaubten, ihm in Jesus begegnet zu sein. Darüber hinaus führte diese Auferstehungserfahrung zu einem neuen heiligen Tag. Innerhalb einer einzigen Generation begann der christliche Sonntag mit dem jüdischen Sabbat zu konkurrieren, selbst unter den jüdischen Jüngern Jesu. Die Nachfolger Jesu wurden von aufwühlenden Bewusstseinsveränderungen ergriffen und Wesen, Theologie und Gottesdienst veränderten sich grundlegend. Das alles besagt nicht, was geschehen ist - nur, dass etwas geschehen ist.

So, wie wir die Einzelheiten der Auferstehung in den Evangelien vorfinden, bieten sie viele Behauptungen, die widersprüchlich, verwirrend und rätselhaft sind. Über so gut wie jede Ein­zelheit bei diesem zentralen Moment der Entstehung des Christentums gibt es wesentliche Meinungsverschiedenheiten.

Die Verfasser im Neuen Testament sind sich nicht einig darüber, welche Frauen zum Grab gingen oder auch, wie viele es waren. Sie sind sich ebenso uneins darüber, wer der Bote war, der die Auferstehung verkündete und wer der erste Zeuge war. Sie stimmen nicht einmal darüber überein, wo sich die Jünger befanden, als das Osterereignis über sie hereinbrach.

Im ursprünglichen Narrativ des Markusevangeliums hat niemand den auferstandenen Chris­tus gesehen. Für Spong bedeutet Jesus als Auferstandenen zu sehen nicht, sein Fleisch zu fühlen, sondern seine Bedeutung zu begreifen. Das ist eine andere Art des Sehens, eher wie ein Verständnis oder eine innere Sichtweise.

Diese biblischen Narrative sind nicht in der Sprache von Zeit, Raum und Geschichte ge­schrieben. Wir lesen keine historischen Texte; wir beobachten den Evangelienschreiber, wie er ein Bildnis gestaltet, das aus den jüdischen Schriften herrührt. Selbst im Hauptmoment der christlichen Geschichte gab es ursprünglich etwas, das menschliche Worte nicht vollständig begreiflich machen können.

Spong steht auf dem Standpunkt, dass die Geschichte Jesu, zusammen mit der Auferste­hung, eine Einladung sei, sich auf eine Reise jenseits von menschlichen Grenzen und Begrenzungen zu begeben, in den Bereich jener Erfahrung, die wir Gott nennen und den wir in den Tiefen unseres Lebens finden können. Um die christliche Geschichte zu verstehen, müssen wir unsere Augen für Dinge öffnen, die jenseits der sichtbaren Grenzen liegen, und unsere Ohren, um die Musik jenseits dessen zu hören, was der menschliche Hörbereich ist. Das ist der Weg, den uns der christliche Glaube aufgibt. Allerdings vertritt Spong auch einen übernatürlichen Aspekt.

In unserem »Temple Society Religious Perspective« (Glaube und Selbstverständnis / Ge­meinsame Erklärung der Templer in Deutschland und Australien - die Grundlagen unseres Glaubens) sagen wir, dass wir Jesu Auferstehung vor allem als ein spirituelles Ereignis ver­stehen, dessen Wirksamkeit jenseits des Todes - für alle Menschen möglich - wir anerkennen. Ich denke, dass die Tür für diese Auffassung offen bleibt.

Mit der Auferstehung als spirituelles oder auch mystisches Ereignis kann ich umgehen, nicht aber, dass sie übernatürlich ist.

Im Laufe der Zeit entwickeln wir uns weiter und betrachten das Leben - aufgrund unserer Erfahrungen - mit anderen Augen. So gerne ich Spongs Schlussfolgerung nachvollziehen können würde, finde ich sie - zumindest seine übernatürlichen Erkenntnisse - ein wenig außerhalb meiner Reichweite. So wie ich es sehe, zumindest bis zum jetzigen Augenblick, ist das eine Reise, die ich noch erleben muss. Diese Antworten werden warten müssen. Kein Wunder, dass man es Glauben nennt.

Mark Herrmann, Übersetzung Karin Klingbeil

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Das Gebet in Gethsemane

(Matthäus 26,36-46)

Der Garten Gethsemane liegt am Fuß des Ölbergs in Jerusalem. Seine uralten Olivenbäume ziehen noch heute Menschen an - die alten Bäume und das, was nach biblischer Überlieferung vor über 2000 Jahren dort geschah.

Es ist eine Erzählung von symbolischer Tiefe: Nach dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern zieht sich Jesus in den Garten zurück. Er sucht das Alleinsein in der Vorahnung der Geschehnisse, die ihn in den nächsten Tagen erwarten. Er zieht sich zurück, und dennoch nicht ganz allein: mit den Worten an Petrus, Jakobus und Johannes »Bleibt hier und wacht mit mir« bittet er darum, ihm in seinen schweren Stunden beizustehen. Jesus sucht das Gebet, die Zuwendung zu seinem himmlischen Vater, es ist die Suche nach Hilfe und Trost in der Vorah­nung seiner Leidensgeschichte. Er will allein beten, und dennoch die Nähe seiner Begleiter, seiner engsten auserwählten Jünger spüren - »Wacht mit mir«. Er sucht, bzw. ersucht Men­schen, die zu ihm gehören, die seinen Weg begleiten sollen, für ihn da sein sollen. Er hofft, dass sie seine Not erkennen, verstehen und diese mittragen, ihn nicht damit allein lassen.

Die Not, in welcher sich Jesus befindet, wird deutlich aus den Worten seines Gebets. Es ist ein eindringlicher Hilferuf: »Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.« Er reagiert zu­nächst einmal so, wie wir alle bei Gefahr für Leib und Seele es tun. Er begehrt auf gegen Leid und Schmerz, gegen das Schicksal, welches ihn erwartet - obwohl er sich bewusst dafür ent­schieden hat. Jesu Ängste in dieser Situation sind so menschlich. Ihm ist klar, was in den nächsten Stunden auf ihn wartet: Verrat, Schmerz, Tod. Würde er durchhalten oder an seiner Mission scheitern? Er hofft, dass seine Freunde ihn verstehen, sein Gebet verstärken, ihm hel­fen Gottes Willen zu folgen.

Und in dieser Situation äußerer und innerer Not und Verzweiflung muss Jesus erfahren, wie allein er ist, was er allein tragen muss. Die Jünger, seine Begleiter und Freunde findet er schla­fend vor, auch noch ein zweites und ein drittes Mal. Kann man noch mehr Einsamkeit erfah­ren? Seine Jünger schaffen es nicht, Jesus wirklich zu begleiten in seiner Not, weder physisch noch geistig. Jesus weiß, dass er diesen schweren Weg allein gehen muss. Aber selbst in dieser extremen Situation bleibt sein Vertrauen in Gott unerschütterlich und er fügt sich in sein Schicksal mit den Gebetsworten an Gott, seinen Vater: »Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.«

Wolfgang Blaich

Die Verrückung

Putins Raketen und Panzer bringen das bisherige Selbstverständnis in Deutschland ins Wan­ken. Aber so schwach, wie der Diktator im Kreml vermutet, ist der Westen nicht. Ein persönli­cher Essay.

Der Erste Weltkrieg war gerade vorbei, als der irische Dichter und Nobelpreisträger William Butler Yeats 1919 diese Zeilen schrieb: »Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen, hört der Falke seinen Falkner nicht; alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr; und losgelassen Anar­chie, und losgelassen blutgetrübte Flut, und überall ertränkt das strenge Spiel der Unschuld; die Besten haben keine Überzeugung mehr, die Schlimmsten sind von Kraft der Leidenschaft erfüllt.« Yeats selbst hatte hautnah erlebt, wie der irische Bürgerkrieg 1916 blutig niederge­schlagen wurde, und sah nun aus der Ferne zu, wie die Bolschewiken das Zarenreich Russ­land auseinanderrissen...

Constantin Wissmann, Redakteur bei Publik-Forum

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 5/2022, Seite 12.

Warum wir Risiken falsch einschätzen

Das Wissen war da, trotzdem haben sich nur wenige vorgstellt, Putin werde die Ukraine an­greifen. Wie erklärt sich diese Ignoranz?

Antonio Guterres ist wahrscheinlich einer der erfahrensten Politiker der Welt. Langjähriger Pre­mierminister Portugals, zehn Jahre Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, seit sieben Jahren deren Generalsekretär. Ernsthaft, abgewogen, reflektiert. Dass er Zugang zu allen öf­fentlichen und zu vielen geheimen Informationen hat, davon kann man ausgehen. Und den­noch sagte er zur Eröffnung der Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, dass er in der jüngsten Vergangenheit Hinwei­sen auf Angriffe keinen Glauben geschenkt habe, weil sich nicht vorstellen konnte, dass etwas »Ernsthaftes« passieren würde...

Georg Vielmetter, der Autor ist Philosoph und Soziologe. Er arbeitet als Berater, Coach und Autor. Kürzlich ist sein Buch »Die Post-Corona-Welt« im Campus-Verlag erschienen.

 

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BUCHVORSTELLUNG

Mal wieder »Kein Tod auf Golgatha«?

Seit den frühesten Anfängen des Christentums gab es immer wieder Diskussionen, ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben ist, aber vor allem, ob er tatsächlich von den Toten auferstanden ist (vgl. Mt 28,15) und wie man sich diese »Auferstehung« vorzustellen hat. Unzweifelhaft rühren die mit diesen Fragen verbundenen Deutungsversuche an die zentralen Glaubensin­halte des Christentums, wie sie vor allem in den Konzilien des 4. Jahrhunderts dogmatisch festgelegt wurden. Dementsprechend laufen Autoren, die das in der Bibel überlieferte Osterge­schehen kritisch hinterfragen, Gefahr, abqualifiziert oder zumindest nicht ernst genommen zu werden.

Diesem Risiko hat sich auch der bekannte Fernsehmoderator und Buchautor Franz Alt mit seinem neuen Buch »Die außergewöhn­lichste Liebe aller Zeiten - Die wahre Geschichte von Jesus, Maria Magdalena und Judas« (2021, Herder-Verlag Freiburg, 24 Euro) ausgesetzt. Er plädiert für eine Änderung des bisherigen Bil­des des Jesus von Nazareth und rät dazu, sich vom Dogma der göttlichen Natur Jesu zu verabschieden. Damit knüpft er an frühere, als Ketzertum unter Strafe gestellte Strömungen wie den Arianis­mus an, was die etablierte Dogmatik sowohl der katholischen wie auch der evangelischen Kirche auf den Kopf stellen würde. Denn er stellt darin in Frage, ob Jesus tatsächlich am Kreuz gestorben ist.

Methodisch bedient sich Franz Alt dabei eines besonderen Kniffs, nämlich der Rückübersetzung der Evangelien aus der griechischen Fassung in das Aramäische, der Sprache, die Jesus seinerzeit ge­sprochen hat. Er greift dabei auf von dem deutschen Pater Günther Schwarz durchgeführte Übersetzungen zurück, bei denen angeblich missverständliche Stellen mit einer Art Nachinterpretation gefüllt wurden, um eine stimmige Version in aramäischer Sprache herzustellen. Gestützt auf die The­sen von Schwarz geht Alt von Übersetzungsfehlern der Evangelien aus und meint, sie seien aus dogmatisch-theologischen Gründen in einer Weise »zurechtgebogen« worden, die nichts mit den Absichten Jesu zu tun hätten. Zugleich nutzt Alt seine Deutung für eine Abrechnung mit der Amtskirche und der paulinischen Losung, wonach die Auferstehung Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens sei (1. Korinther 1,23). Dies verstelle aber - so Alt - den Blick auf die zentralen Botschaften Jesu. Diese These hat im liberalen Christentum, so auch bei der Tempelgesellschaft, durchaus Anhänger gefunden. Kritiker von Alt meinen indessen, dass man bei aller lobenswerten Rückbesinnung auf die Kernbotschaft Jesu auch mit Hilfe der reichlich bemühten Rückübersetzung nicht über die Quellenproblematik der Bibel hinauskom­me; mit dem von Alt gerne verwendeten Begriff »Fälschung« solle man daher vorsichtiger sein.

Johannes
Fried - »Jesus oder Paulus - Der Ursprung des Christentums im Konflikt« (Quelle: Verlag C.H. Beck)
Quelle: Verlag C.H. Beck

Die These vom Tod Jesu auf Golgatha wird aber auch ohne den komplizierten Rückgriff auf aramäische Lesarten derzeit auch von geschichtswissenschaftlicher Seite (mal wieder) kritisch hinterfragt: Mit seinem Buch »Jesus oder Paulus - Der Ursprung des Christentums im Konflikt« (2021, C.H. Beck, 22 Euro) knüpft Johannes Fried, (em.) Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Uni­versität Frankfurt, an sein 2019 erschienenes Buch »Kein Tod auf Golgatha - auf der Suche nach dem überlebenden Jesus« an, in dem er - ausgerechnet unter Verweis auf das Johannes-Evangelium und medizinische Methoden - nachzuweisen versucht hatte, dass Jesus am Kreuz nicht gestorben, sondern nur ohn­mächtig geworden sei; durch den Lanzenstich des römischen Kriegsknechts seien Blut und Wasser aus der Lungenhöhle abge­flossen, wodurch Jesus überlebt habe. Jesus sei dann später im Felsengrab wieder aufgewacht und geflohen. Wohin, bleibt offen, aber Fried hält Ägypten für eine nicht unwahrscheinliche Destina­tion.

In seinem neuen Buch spinnt Fried den Geschichtsfaden weiter und vertieft die These von einem Konflikt zwischen dem Kreis der Jesus-Jünger, die von der Flucht des geliebten Meisters wussten und seine Worte bewahrten, und dem »Völkerapostel« Paulus, der die wundersame Auferstehung des Gottessohnes von den Toten propagierte. Johannes Fried rekon-struiert den Konflikt auf der Grundlage der verfügbaren biblischen und außerbiblischen Quellen und zeigt, wie die Lehre des Apostels Paulus von Kreuzestod und Auferstehung die kanonischen Evangelien prägte und sich im Römischen Reich durchsetzte. Für das konkurrierende Gegenstück hält Fried die Überlieferung der Jesus-Anhänger, deren Spuren vor allem im Thomas-Evangelium zu erkennen seien. Diese Tradition sei indessen in Randgebiete des Römischen Reichs abgedrängt, verketzert und schließlich vergessen wor­den. Fried folgt den wenigen erhaltenen Spuren nun mit den Werkzeugen des Historikers und will zeigen, dass alles auch ganz anders hätte sein können.

Es ist in der Tat bis heute bemerkenswert, dass Paulus zwar häufig von den Ereignissen spricht, an die sich Christen an Ostern erinnern, dass er aber die zahlreichen Begebenheiten, die die zeitlich erst nach seinen Briefen entstandenen Evangelien über das Leben Jesu berichten, unerwähnt lässt. Dabei müsste Paulus ja zu Lebzeiten eigentlich vielen Augen- und Ohrenzeugen begegnet sein, die ihrerseits Jesus noch getroffen und gehört hatten. Wa-rum hatte er sich für den »echten« Jesus nicht interessiert? Der »historische« Jesus kommt bei Paulus praktisch nicht vor - also keine Bergpredigt, keine Heilungswunder, kein Gastmahl mit Sündern usw.

Kritiker halten Fried entgegen, dass er die Möglichkeiten des Historikers überdehnt und die Idee von dem überlebenden Jesus zum Dreh- und Angelpunkt für eine gewagte Theorie ge­macht und vieles einfach ausgeblendet habe. Eine gewisse Lust an der Provokation ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen.

Jörg Klingbeil

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