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»Du sinnlicher Lebensraum« - Pierre Stutz
Was ist uns Weihnachten? - Ulrich von Hasselbach
Der Herr segne dich und behüte dich - Peter Lange
Wo wurde Jesus geboren? - Karin Klingbeil
Fußball und Religion - Jörg Klingbeil
berühre mich zur Hoffnung
schenke mir Verwandlung
sei meine ruhende Mitte
Geheimnisvoll-nah übersteigst
Du all mein Denken und Fühlen
bist immer schöpferisch-werdend
meine sinnstiftende Lebensspur
Dankbar-staunend eintreten
in jene ver-rückte Hoffnung
durch den Schmerz hindurch
heilendes Miteinander zu erleben
Dich leben mit ganzem Herzen
freundschaftlich mit mir selbst
mitfühlend in Beziehungen
aufgehoben im Segenskreis
Pierre Stutz, aus »Suchend bleibe ich ein Leben lang. 150 Meditationen«
Was ist Weihnachten? Was ist sein Inhalt, seine Aussage? Was bedeutet es für uns, was wollen wir feiern? Wofür treffen wir unsere umfassenden Vorbereitungen? Auf diese Fragen wissen heute manche keine befriedigende Antwort. Sie nehmen zwar die alten Bräuche auf, sie hören weihnachtliche Musik oder singen selbst die vertrauten Lieder: sie freuen sich an der Erzählung von Maria und Josef und dem Kind in der Krippe im Stall. Die Hirten gehören dazu und die Engel mit ihrem Lobgesang. Aber haben sie zu dem allen einen inneren Bezug? Wissen sie, dass es sie betrifft, dass es sie etwas angeht in ihrer Existenz? Sie erfassen es allenfalls mit dem Gefühl. Und das sollte niemand gering achten, denn manches vermag das Gefühl wahrzunehmen, was dem Verstand verborgen bleibt. Aber was diesem Gefühl aufgeht, möchte dann doch der nachdenkende Mensch einordnen in das Ganze seines gedanklichen Begreifens, seines Verstehens. Und das ist heute für viele so schwierig geworden, gerade auch für viele aus der jüngeren Generation. Wenn allerdings heute zuweilen behauptet wird, Weihnachten sei für die meisten Menschen nur noch gutes Essen und eine Menge aufwändiger Geschenke, so ist dies ein Zerrbild, das nicht zum Guten dient.
Es sind schon durchaus Fragen da, die sich an Weihnachten herantasten und um seinen Sinn bemühen. Oft unausgesprochene Fragen, häufig auch offenbleibende. Da ist etwa die Frage nach der Menschwerdung Gottes. »Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute.« Das soll ja doch zu Weihnachten geschehen sein. Aber wie ist das zu verstehen? Dass Gott menschliche Gestalt angenommen, dass also so etwas wie eine Verwandlung stattgefunden habe? Das gehörte doch wohl in den Bereich mythologischen Denkens, das wir nicht mehr zu teilen vermögen. Gott kann doch wohl nur in einer Weise Mensch werden, dadurch nämlich, dass er sich in einen Menschen hineingibt; anders gesagt: dass das von ihm Ausgehende, sein Geist, seine Kraft, sein Licht, wenn wir so wollen, einem Menschen zuteilwird, so dass es von ihm ausstrahlt und durch ihn wirkt. Und das ist wohl bei Jesus so gewesen. In aller Fülle und Dichte so gewesen. Das hat sich den Menschen, die um ihn waren, eingeprägt und hat dann später seinen Niederschlag gefunden in den sicher menschlich unzulänglichen Christuszeugnissen der frühen Gemeinden.
Was die Weihnachtsgeschichte uns erzählt, lässt sich sicher nur zu einem geringen Teil von geschichtlichen Fakten herleiten. Aber auch was Legende ist, kann tiefe Wahrheit ausdrücken, und von daher behält die Weihnachtsgeschichte als Ganzes - nicht nur wegen ihrer unvergleichlichen Innigkeit und dichterischen Schönheit - auch heute ihre Gültigkeit.
»Ein Kind ist uns geboren«: Weihnachten ist das Fest dieses Kindes und wird dadurch zum Fest der Kinder. Wir werden daran erinnert, wie sehr Kinder unser Leben bereichern. Aber auch wie sehr wir für sie Verantwortung tragen. Wie wichtig es ist, dass wir sie ganz in ihrer Eigenheit sich entfalten lassen und uns hüten, sie etwa hineinzupressen in irgendwelche vorgegebenen Schemata.
Und wie Weihnachten das Fest des Kindes und der Kinder ist, so ist es auch das Fest einer Mutter. Der Mutter Maria, die das Jesuskind geboren hat und die uns so besonders naherückt in diesen Weihnachtstagen. Und damit zugleich des Mütterlichen überhaupt, auch des Mütterlichen in der Gottheit, die über Jahrtausende hin viel zu eng und einseitig immer nur in ein Schema des Männlichen gefasst worden ist.
Im Gottesbild Jesu finden sich mütterliche Züge. Er verwendet zwar, wenn er von Gott spricht, das Bild des Vaters, das ihm wohl am angemessensten erschien für das, was er als tiefe Gewissheit in sich trug. Was er nicht von sich aus erdacht hatte, was ihm vielmehr aufgegangen war in einem Geschehen innerster Erleuchtung. Gott hat sich Jesus offenbart, und er gibt die Offenbarung weiter an andere, an uns. Und diese Offenbarung besagt, dass Gott ein Zugewandter ist, ein Sich-Schenken-Wollender, ein Helfender. Dass Gott nicht eng ist, wie es Menschen sind, dass er nicht verdammt und verwirft. Und dass er nicht finster ist.
Weihnachten ist ein Fest des Lichtes. Das war es schon immer, noch bevor es zum Fest der Geburt des Kindes Jesus wurde. Wir werden ja einfach durch die weihnachtlichen Bräuche, durch Baum und Lichter und anderes an diese Zusammenhänge immer wieder erinnert. Wie es wenigstens in unseren Breiten nach der Wintersonnenwende heller und wärmer wird, so soll es durch das, was von Jesus ausgeht, heller und wärmer werden in den Herzen der Menschen und dadurch in der Welt. Und weil das nicht ohne Liebe möglich ist, gilt uns Weihnachten als Fest der Liebe.
Vor allem aber geht es zu Weihnachten um das Väterliche und zugleich Mütterliche in dem von Jesus bezeugten Gott, dem wir auch dort vertrauen dürfen, wo wir ihn in seinem Wirken nicht verstehen. Dieser Vater Jesu ist nun aber auch ein bergender, ein tröstender, ein erbarmender, und das sind die mütterlichen Züge im Vaterbild.
Es geht Weihnachten darum, dass wir uns vor Gott nicht zu fürchten brauchen. »Fürchtet euch nicht«, heißt der Ruf der Engel. Wenn wir die Zuwendung Gottes annehmen, wenn wir uns in sie hineingeben, so erfahren wir eine große Geborgenheit, und zwar mitten in den Rätseln des Daseins, in Schicksalen und Bedrängnissen. Die Geborgenheit aber bedeutet Befreiung von der Angst. Jedenfalls von jener Angst vor dem letzten dunklen Geheimnisvollen, das manchen so zusetzen kann. Wenn Gott Licht ist, dann ist auch das Dunkle einbezogen in dieses Licht und verliert so seine ängstigende Macht.
Fassen wir dies alles zusammen, so erweist sich uns Weihnachten als das Fest der Zuwendung, und zwar einmal der Zuwendung Gottes, die insofern zu Weihnachten geschieht, als sich in dem Kind, das geboren wird, Gottes immerwährende Zuwendung mitteilt und offenbart. Zugleich aber ist Weihnachten das Fest der Zuwendung zueinander, zum Mitmenschen, zum Nächsten. Und gerade weil wir der Zuwendung Gottes gewiss sein dürfen, sind wir umso eindringlicher gerufen zur Zuwendung zum anderen, zueinander. Und diese Zuwendung ist ein neuer Weg, der die Verheißung einer guten Zukunft in sich trägt.
Zuwendung zueinander, das heißt: gelten lassen, helfen wollen, ermutigen, das heißt auch: Barmherzigkeit, Geduld, Bemühen um Verständnis, Versöhnung und Vergebung. Dies alles geschieht noch immer viel zu wenig unter den Menschen; aber von Jesus sind so starke Impulse der Zuwendung ausgegangen, dass wir einfach hoffen dürfen und müssen: es wird sich durchsetzen, immer mehr. Der neue Weg ist freilich nicht nur ein Weg der menschlichen Zuwendung, also der Liebe, es ist auch ein Weg des Glaubens, dem alles möglich ist, und der Hoffnung auf das sich vollendende Gottesreich, das sich anbahnt mit der Christgeburt.
Weihnachten ist also das Fest der Zuwendung, der immerwährenden und immer neu geschehenden. Sicher ist es aber auch ein Fest des Friedens, und zwar vor allem des Friedens, der sich uns hineinschenkt in den Unfrieden der Zeit. Des Friedens im Herzen, der letztlich auch die Voraussetzung ist für einen beständigen und verlässlichen Frieden in der Welt. Der Ruf zum Frieden, zum Frieden auf Erden, der von Weihnachten ausgeht, sollte uns dazu bewegen, zur Gewinnung und Erhaltung von Frieden in der Welt alles beizutragen, was in unseren Kräften steht, wie immer dies auch geschehen mag.
Das Fest der Zuwendung, in dem so viel Zukunft sich abzeichnet, ist nun aber natürlicherweise auch ein Fest der Freude. »Euer Herz soll sich freuen.« Darum gehören auch die äußeren Zeichen des Festlichen dazu, nicht zuletzt die Geschenke, mit denen wir uns selbst Freude machen.
Aber gibt es nicht Menschen, deren persönliche Situation aller weihnachtlichen Freude entgegensteht? Menschen, etwa, die schlimme Schmerzen zu ertragen haben, die krank sind und vielleicht keine Genesung mehr erwarten dürfen. Vereinsamte, Trauernde, vielleicht auch wirtschaftlich Gescheiterte, aus der Bahn Geworfene, Arbeitslose, ratlose Jugendliche, die keinen Sinn mehr im Leben, in der Zukunft zu erkennen meinen? Oder einfach auch die bitter Armen, die Hungernden in der Welt? Dass auch sie wenigstens irgendwie berührt werden von der Freude der heiligen Nacht, dass ein tröstliches Licht spürbar werde in ihrer Finsternis, das wollen wir für sie erhoffen und erbitten, und wo wir helfen können, sollten wir es tun.
Weihnachten will uns auf den Weg Jesu stellen, auf den Weg bereiteter Zuwendung, zuversichtlichen Glaubens und getroster Hoffnung. Weihnachten will uns hineinführen in die tiefe Geborgenheit in Gott und seiner immerwährenden Zuwendung. Weihnachten will uns trösten, er will uns froh machen und bereit zu allem, was gut ist und dem Leben dient.
Ulrich von Hasselbach, in: »Freies Christentum« Nr. 12/198
Das menschliche Leben ist vielseitig und wechselhaft. Die Meinung, dass unser Ergehen vorhersehbar und planbar sei, erweist sich in der Regel als Irrtum oder Täuschung. Wie etwas ausgehen wird, unterliegt immer einer Unsicherheit. Das kommt meistens darin zum Ausdruck, was wir im Alltag einander wünschen. Wir berücksichtigen immer das Unsichere und Unvorhersehbare, indem wir einander etwa einen guten Tag, eine entspannende Urlaubsreise, eine gesunde Heimkehr, eine frohe Festzeit, viel Glück oder alles Gute wünschen.
Gegen solche Wünsche ist nichts einzuwenden, auch wenn in ihnen so viel Unsicheres und Zweifelhaftes mitschwingt. Denn es schwingt auch die menschliche Annahme mit, dass trotzdem alles gut ausgehen wird. Handelt es sich dabei aber nicht um eine Selbsttäuschung? Unser Leben und Handeln lässt sich doch nicht so einfach vorherbestimmen und vorhersehen?
Die Bibel lehrt uns immer wieder, das Unbestimmbare und Zweifelhafte beiseite zu lassen und in einen Glauben umzuwandeln, dass alles Unsichere und Unbestimmbare trotzdem eine für uns grundlegende Kraftquelle enthält. Die uns verunsichernden Wechselfälle des Lebens sind nämlich trotz aller Widerwärtigkeiten etwas, an dem wir uns aufrichten und absichern können. In den Schriften des Alten Testaments wird dies als der göttliche Segen bezeichnet.
Den meisten im christlichen Glauben Aufgewachsenen dürften die in alter Zeit entstandenen Segensworte, wie das hier aufgeführte Der Herr segne dich, gut bekannt sein. Mit ihnen beginnt der Gemeinde-Älteste jede Tauf- oder Darstellungs-Feier eines Neugeborenen. Die Worte sind Begleitworte bei einer Ehe-Einsegnung oder bei anderen Feierlichkeiten im Gemeindeleben. Sie wurden im Lauf der Zeit zu einem christlichen Gemeingut, besonders als der Reformator Martin Luther diesen sogenannten Aaronitischen Segen aus dem 4. Buch Mose zum Bestandteil des Gottesdienstes machte.
Wenn wir in der alten Formulierung lesen: Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, dann ist mit dem Begriff Herr alles das umfasst, was mit Person, Kraftquelle, Ausgangspunkt, Daseinsquelle, Weltenlicht nur unzureichend beschrieben werden kann. In dem Begriff Segen ist für uns das Vertrauen darauf zusammengefasst, dass die Wechselfälle menschlichen Lebens, die Ungereimtheiten unserer Auffassung von der Welt und ihren Gestaltungen alle ein und denselben Ausgangspunkt und Sinn haben und dass alles letztlich zu einem guten Ende führt. Dies ist es, - wie Claus Westermann in seiner Einführung in die Bibel (1994 Kreuz-Verlag) schreibt -, was die Bibel Segen nennt, nämlich die Lebenskraft, deren Ausgangspunkt Gott ist und die von Menschen weder ersetzt noch zerstört werden kann.
Unter dieser Überschrift berichtete schon im Dezember 2019 Sophie von der Tann aus dem ARD-Studio Tel Aviv in einem Beitrag der Tagesschau und fragte sich: »Bethlehem ist der Überlieferung nach der Geburtsort von Jesus. Aber welches Bethlehem? Die berühmte Pilgerstätte im Westjordanland - oder ein kleiner Ort im Norden Israels?« Dann beschrieb sie den ‚Weihnachtsbaum‘-Verkäufer Ben Jaeger, dessen Zypressen von arabischen Christen oder auch von Botschaftsmitarbeitern aus Europa und den USA stark nachgefragt werden. Diese erfahren, dass Jaegers Baumplantage sich zwar in Betlehem befindet, jedoch nicht in dem bekannten bei Jerusalem, sondern in Galiläa - Jaeger bezeichnet es als ein ‚verstecktes Kleinod‘. Hier, in der ehemaligen Templersiedlung, betreibt er in einem der zweistöckigen Templer-Steinhäuser ein Gästehaus.
Er ist davon überzeugt, dass die hochschwangere Maria auf dem Esel von Nazareth nach Betlehem in Galiläa geritten ist. Diese ca. 15 km könne man so in einer Nacht überwinden, der Ritt nach dem ca. 150 km entfernten Betlehem im Westjordanland dagegen dauere drei Tage.
Doch die Entfernung - und die medizinische Aussage, dass jede hochschwangere Frau bei einem solch langen Ritt ihr Kind verlieren würde - allein reichen als Beweis natürlich nicht aus. Aber Ausgrabungen in den 1950er Jahren haben eine christliche Kirche zutage gefördert, deren wunderschönes Mosaik seither im Ben Gurion Flughafen hängt. Ben Jaeger: »Und dann haben sie alles zugeschüttet und eine Straße darauf gebaut und wir fragen uns: Wieso? Da beginnt die Verschwörung. Weil sie den wahren Geburtsort von Jesus gar nicht wissen wollen.«
In den 1990er Jahren hat der israelische Archäologe Aviram Oshri hier Ausgrabungen durchgeführt und auch er ist davon überzeugt, dass Jesus hier geboren wurde. Die große byzantinische Kirche, die Reste einer (biblisch erwähnten) Stadtmauer und andere Funde seien Beweise dafür. Leider ließ die israelische Ausgrabungsbehörde nicht zu, dass die ARD ihn interviewen durfte - da es offenbar ein umstrittenes Thema sei. Die Spurensuche im judäischen Betlehem lieferten keine archäologischen Beweise, die Geburt Jesu sei einfach nicht nachzuweisen. Allein der Verehrungsort aus konstantinischer Zeit (die zum Christentum übergetretene Mutter Konstantins, Helena, hat die Geburtskirche im judäischen Betlehem gestiftet) weise eine längere Überlieferungstradition aus, meint die Archäologin am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaften im Heiligen Land, Luisa Goldammer. Letztlich sei es vor allem eine theologische Frage.
Auch wenn der Weihnachtsbaumverkäufer Ben Jaeger vom Gegenteil überzeugt sei, hat er aber nichts dagegen, wenn sein Betlehem ein verstecktes Kleinod bliebe, denn tausende Touristen würde das Dorf nicht vertragen.
Die umstrittene Fußball-Weltmeisterschaft, die derzeit im Sultanat Qatar am Persischen Golf läuft, hat den Anstoß zu der Befassung mit der Frage gegeben, wie Fußball und Religion zusammenhängen. Auf den ersten Blick lassen kultische Handlungen und Objekte der kollektiven Verehrung den Fußballsport zumindest für manche Fans als Ersatzreligion erscheinen. Bei näherem Hinsehen fehlt aber einiges.
»Turek, du bist ein Fußballgott!« Schon dieser begeisterte Ausruf des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann beim Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn 1954 ließ erahnen, dass beim Fußball die Grenzen zwischen irdischen und himmlischen Sphären leicht überschritten werden können. Das Attribut »Fußballgott«, das dem tüchtigen deutschen Torhüter Toni Turek galt, schlug jedenfalls hohe Wellen. Kirchenvertreter übten Kritik an der blasphemischen Wortwahl. Selbst Bundespräsident Theodor Heuss meinte, das ginge bei aller Begeisterung nun doch zu weit. Zimmermann wurde zum Intendanten zitiert und musste sich sogar öffentlich entschuldigen. Seine mitreißende Reportage wird aber immer mit der Erinnerung an das »Wunder von Bern« verbunden bleiben.
Die Zuschreibung übermenschlichen Fußballkönnens wurde im Laufe der Zeit auch auf weitere Fußballspieler, auf ganze Mannschaften und sogar auf bestimmte Spielabläufe übertragen. So erhielten etwa herausragende Außenstürmer oder Außenverteidiger, die mit ihren präzisen Hereingaben die Stürmer bedienten, das Prädikat »Flankengott«.
Selbst bestimmte Körperteile erfuhren eine göttliche Zuschreibung. Allerdings erhielt der Begriff »Hand Gottes« einen eher negativen Beigeschmack. Er kam 1986 auf, als im Viertelfinalspiel der Weltmeisterschaft in Mexiko der argentinische Mannschaftskapitän Diego Maradona einen hohen Ball mit der linken Hand über den herausstürzenden englischen Torhüter Peter Shilton ins Tor beförderte. Die Proteste der englischen Spieler beim tunesischen Schiedsrichter halfen nichts, denn dieser hatte einen regulären Kopfball wahrgenommen; einen Videoassistenten gab es damals noch nicht. Argentinien gewann die Partie schließlich mit 2:1 und wurde später Weltmeister. Maradona selbst zeigte nach dem Spiel keinerlei Reue und erklärte vor laufenden Kameras, es sei »ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes« gewesen. Bereits 1984 war der übrigens tiefgläubige Maradona zum SSC Neapel gewechselt, der dank ihm erstmals die italienische Meisterschaft errang; hier erfuhr er eine geradezu religiöse Verehrung durch Medien und Fans. Sein Konterfei tauchte auf zahlreichen Hauswänden auf, manchmal sogar in Form kleiner Hausaltäre mit den Vereinsinsignien.
Erst viele Jahre später gab Maradona das Handspiel zu. Inzwischen ist die »Hand Gottes« Teil des Fußballsprachgebrauchs und wird gerne bei unerlaubtem Handspiel zitiert.
Der Begriff »Fußballgott« wurde aber nicht nur durch die mythologische Erhöhung von bestimmten Fußballspielern durch Sportjournalisten und Fans geprägt, er findet Verwendung auch im Sinne einer höheren Macht bzw. von Schicksal (wahlweise Glück oder Pech), wenn eine Fußballmannschaft glückliche Zufallstreffer landet oder trotz aller Bemühungen immer wieder scheitert (»der Fußballgott war nicht auf unserer Seite«). Aber selbst diejenigen, die sich auf einen ominösen »Fußballgott« berufen, sind sich nicht einig, ob es sich dabei um einen »gerechten« oder einen »Willkür-Gott« handelt, dessen Gunsterweis keiner inneren Logik folgt. Obwohl bei einer Umfrage 2003 etliche Fußballprofis die Meinung vertraten, dass es einen »Fußballgott« gebe (der zum Beispiel für intensives Training belohne), verneinte die damalige Bischöfin Margot Käßmann 2006 während der Fußball-WM in Deutschland diese Frage und erklärte, Gott sei »vereinsfrei«. Andere Kirchenvertreter hielten die wiederholte Beschwörung eines »Fußballgottes« unter Berufung auf das erste Gebot (»du sollst keine anderen Götter neben mir haben«) sogar für »ganz und gar unangebracht«. Trotzdem haben bis heute Medien und Fans keine Hemmungen, berühmte Fußballstadien mit den Beinamen »Fußballkathedrale«, »Pilgerstätte« oder »Fußballtempel« zu versehen.
Abgesehen davon ist nicht zu verkennen, dass viele Fußballspieler auf (echten) göttlichen Beistand hoffen, wenn sie bei einem wichtigen Fußballspiel den »heiligen Rasen« betreten. Dies scheint sich offensichtlich auf den eigenen Glauben zu beziehen. So bekreuzigen sich manche Spieler, erst recht nach einem Torerfolg, und wenden dabei die Augen zum Himmel. Bei der Fußball-WM in Qatar waren insbesondere Spieler aus muslimischen Ländern (z.B. Tunesien) zu beobachten, die nach einem Torerfolg niederknieten und mit der Stirn den Rasen berührten - wie beim Gebet in der Moschee. Meines Erachtens alles Zeichen des Vertrauens und der Dankbarkeit gegenüber dem himmlischen Schöpfer.
Dass die Liebe zum Fußball selbst die irdische Existenz überdauern kann, zeigen auch Friedhöfe, die Fußballvereine in der Nähe ihrer Stadien für ihre Anhänger angelegt haben. So können sich z.B. Fans des Fußballvereins Schalke 04 auf dem vereinseigenen Friedhof begraben lassen - in Sichtweite des Stadions. Für 1904 (Gründungsjahr des Vereins!) Gräber ist mittelfristig Platz - kurz nach der Eröffnung 2012 waren schon 700 Grabstellen vergeben. Bei der Vergabe der Plätze wurde übrigens den Wünschen der Interessenten nach Möglichkeit Rechnung getragen; manche Dauerkarteninhaber wollten etwa für ihre Grabstelle dieselbe Nummer, wie sie ihr Stammplatz auf der Tribüne hatte.
Wenn man der Frage nachgeht, was Fußball und Religion verbindet und was sie trennt, so stößt man auf die in der Wissenschaft (Soziologie, Theologie bzw. Religionswissenschaften) verbreiteten Abgrenzungskriterien von Substanz und Funktion. In ihrer Funktion, die Menschen in Gemeinschaft in Freud und Leid zu vereinen (»himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt«), Sinn und eine gemeinsame Identität zu stiften, ähneln sich der Fußballsport und Religion(en). Auch manche kollektiven Rituale und Symbole des Fußballs scheinen aus der religiösen Praxis zu stammen (Gesänge, Choreografien [= Liturgie?], Devotionalien, aber auch Abgrenzung von anderen Gruppen usw.). Der »Glaube« an das eigene Team schafft Zusammenhalt und Verbindung. Für die Dauer des Spiels spielen Hautfarbe, Herkunft und Religion keine Rolle. Offenbar kann der Fußball oder die Identifikation mit einem bestimmten Verein manchen Fußballbegeisterten etwas an Selbstwertgefühl vermitteln, was früher mitunter die Religion geleistet hat. Manche Theologen meinen, dass der Fußball dem Menschen einen (Spiel)Raum eröffne, in dem er intensiv sein eigenes Lebendigkeitspotenzial entfalten kann; das sei im Grunde nichts anderes als Spiritualität im Sinne einer Erfahrungsform gesteigerter Lebendigkeit, jenseits von Moral, Ethik oder gar Dogmen. Hierbei spielt sicher auch die zunehmende Säkularisierung eine Rolle, die den Religionen bzw. Kirchen nicht mehr die gesellschaftliche Deutungshoheit früherer Zeiten zukommen lässt.
Wenn man dagegen die Substanz, also den Bezugsgegenstand von Religion, betrachtet, so scheinen Begriffe des (christlichen) Glaubens wie Gott, Erlösung und Auferstehung, Heiligkeit und Transzendenz nicht auf die Sportart Fußball zu passen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Diskussion, die sich hierzu in unzähligen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Beiträgen niedergeschlagen hat, auszubreiten. Interessierte seien hier auch auf den Vortrag von Hans-Ulrich Probst am 7. Dezember 2022 im Hospitalhof verwiesen (siehe Anschlagbrett im Treffpunkt).
Festzuhalten ist meines Erachtens, dass der Fußball keine umfassende Weltdeutung, Sinngebung und Ursachenerklärung anbieten, sondern sich immer nur auf einen zeitlich und räumlich begrenzten Bereich beziehen kann. Und vor allem kann der Fußball nicht im selben Maße wie die Religion(en) zur Kontingenzbewältigung beitragen, also der Einschränkung des Risikos, enttäuscht zu werden. Fußballvereine haben in der Regel nämlich weder den Anspruch noch das Potenzial, ihren Anhängern umfängliche Hilfe bei existenziellen Problemen und bei der Lebensbewältigung zu bieten. Für die Religionen liegt hierin dagegen ihre Kernkompetenz.