Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 177/10 - Oktober 2021

 

 

Dankbarkeit für das Unverdiente - Karin Klingbeil

Selbstdarstellung und Bescheidenheit - Jörg Klingbeil

Der Kern des Tempelglaubens - Otto Hammer

Warum Albert Schweitzer heute? - Werner Zager

150 Jahre Kolonie Sarona - Jakob Eisler

Dankbarkeit für das Unverdiente

Der Dankfestansprache 2015 lag das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zugrunde (Matthäus 20,1-15)

Wir alle kennen dieses irritierende Gleichnis Jesu - und auch wenn wir uns noch daran erin­nern, was es aussagen soll bzw. worum es tatsächlich darin geht, wird uns merkwürdig zumute, wenn wir es wieder hören oder lesen. Jetzt steht es auch noch zum Dankfest in unse­rem Losungskalender - passt das denn?

Ich finde ja, sogar sehr gut! Schauen wir uns das Ganze nochmals im Einzelnen an: schon zu Beginn wird gesagt, dass die im Folgenden erzählte Geschichte ein Gleichnis für das Reich Gottes sein soll - also ist klar, dass der Gutsbesitzer, der die Tagelöhner einstellt, für Gott steht. Jesus verlegt die Geschichte wie so oft in das alltägliche Umfeld seiner Zuhörer, von denen etliche Tagelöhner gewesen sein dürften. Arbeitssuchende gehen zu jener Zeit schon früh am Morgen auf den Markt - und Arbeitgeber wissen, dass sie dort Arbeitswillige finden. So auch hier, und es ist ein ganz üblicher Vorgang, dass der Tageslohn vereinbart wird. Auch der Lohn an sich ist nicht unüblich, zur Zeit Jesu wurde ein Denar für 12 Stunden Arbeit bezahlt und dieses Geld war ausreichend, um für Essen und Unterkunft einer Kleinfamilie zu sorgen. Erstaunlicherweise arbeiten auch heute noch unendlich viele Menschen für einen solchen Tageslohn.

Verwunderlich ist, dass der Gutsbesitzer nicht nur morgens seine Tagelöhner in den Weinberg schickt, sondern mehrfach, sogar bis eine Stunde vor Arbeitsschluss, auf dem Markt Arbeiter anwirbt. Offenbar trägt der Weinberg des Gutsherrn reiche Ernte, die in der Hitze schnell eingebracht werden muss. Als der Gutsbesitzer fragt, wieso sie den ganzen Tag untä­tig herumstehen, antworten sie, dass sie noch keine Arbeit gefunden hätten. Mit den später angeheuerten Arbeitern wird kein Lohn verhandelt, sie scheinen mit der Zusage "zu bekom­men, was Recht ist" einverstanden zu sein.

Abends werden die Arbeiter bezahlt - und was einen dabei verwundert, ist, dass zuerst die bezahlt werden, die als Letzte mit der Arbeit begonnen haben. So sehen die, mit denen der eine Denar für den ganzen Tag vereinbart worden war, dass die anderen, die sehr viel weniger gearbeitet hatten, genau denselben Lohn bekamen. Verständlich, dass sie sich darauf freuen, entsprechend mehr als Lohn zu erhalten - und dass sie dann anfangen zu murren, als auch sie nur diesen einen Denar erhielten. Auch wir empfinden eine Ungerechtigkeit darin, dass sie, die den ganzen Tag in der Hitze schwer körperlich gearbeitet hatten, ebenso entlohnt werden, wie diejenigen, die nur eine Stunde eingesetzt waren. Heute wäre so ein Verhalten ein Fall für die Gewerkschaft, die ja vor allem danach schaut, dass die gezahlten Arbeitslöhne angemessen sind und in der Arbeitswelt alles möglichst gerecht zugeht. Sollte so etwa himmlische Gerech­tigkeit aussehen?

Natürlich hat der Gutsbesitzer Recht mit seiner ungehaltenen Antwort, denn jeder Arbeiter bekam ja, was mit ihm ausgemacht gewesen war, ihm geschah daher absolut kein Unrecht. Und auch mit der Aussage, dass er mit seinem Geld machen könne, was er für richtig hielt, hatte er Recht! Aber - hätte er nicht wenigstens die Arbeiter in der anderen Reihenfolge entloh­nen können, nämlich zuerst die, die den ganzen Tag gearbeitet hatten, dann die anderen? Dann wären doch alle zufrieden gewesen und es hätte keinerlei Unmutsbezeugungen gege­ben!

Natürlich hätte er das - aber dann würde uns dieses Gleichnis nicht halb so berühren, wie es das jetzt tut. Es wäre immer noch eine Beschreibung dessen gewesen, was Jesus den Menschen immer nahebringen wollte: nämlich, dass Gottes Gerechtigkeit eine andere ist als die von uns Menschen. Dass Gott in seiner Liebe und Fürsorge für die Menschen vor allem danach schaut, was sie zum Leben brauchen - denn das bedeutete dieser eine Denar: genau so viel, wie jeder Tagelöhner mit seiner Familie zum Überleben für diesen einen Tag benötigte. Das war ohnehin nicht übermäßig viel, aber wäre er mit weniger zu seiner Familie nach Hause gekommen, hätte es nicht einmal für das Allernötigste dieses einen Tages gereicht und die Not wäre groß gewesen.

Durch die Wendung aber, die Jesus für sein Gleichnis nimmt, wird ein menschlicher Zug offenbar - der Gutsbesitzer spricht es auch offen aus: Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin? Offenbar gibt es diesen Neid, seit Menschen zusammen leben - schon in den Anfängen der Bibel neidet Kain das Wohlgefallen Gottes seinem Bruder Abel und erschlägt ihn, Jakob neidet seinem Zwillingsbruder Esau das Recht des Erstgeborenen und erschleicht sich durch eine List den väterlichen Segen, aus Neid wurde Vaters Liebling Joseph von seinen Brüdern verkauft. Auch im Neuen Testament ist der Neid immer wieder Thema: die umtriebige Martha neidet Maria, dass sie selber für die Versorgung der Gäste arbeiten muss und ihre Schwester nur dasitzt und Jesus zuhört, der Bruder des "verlorenen Sohnes" neidet diesem die Liebe des Vaters und nicht zuletzt streiten auch die Jünger immer wieder um ihre Rangfolge bei Jesus.

Dabei ist Neid, selbst, wenn er wegen Ungleichbehandlung berechtigt sein sollte, nur ein Gefühl, das zerstört. Neid bohrt, zerfrisst und bringt das seelische Gleichgewicht völlig aus dem Lot - ohne irgendetwas Positives zu bewirken. Was hilft es denn, einem hochdotierten Fußballspieler oder einem Topmanager das hohe Gehalt zu neiden? Ändert sich dadurch irgendetwas, außer dass mir der Neid Unzufriedenheit beschert und - viel schlimmer noch - mich blind macht für all das, wofür ich in meinem Leben dankbar sein kann?

Neid ist das Gefühl, benachteiligt zu sein, und dieses Gefühl entsteht nur durch den Ver­gleich mit anderen. Das macht unser Gleichnis eben durch die Reihenfolge bei der Bezahlung sehr deutlich. Wenn auch unser Rechtsempfinden sich regt, weil die einen 12, die anderen nur eine Stunde für diesen Denar haben arbeiten müssen, liegt es daran, dass wir einen - und nur einen - Gesichtspunkt bei beiden Gruppen vergleichen. Dieser Maßstab liegt auch unserer Ar­beitswelt zugrunde - sie funktioniert auf der Grundlage, dass man für sein Geld entsprechend arbeiten muss. In der sozialen Marktwirtschaft erwirtschaftet immerhin die arbeitende Bevölke­rung auch für diejenigen, die nicht arbeiten, das Notwendige zum Leben - und doch gibt es immer wieder, auch bei Politikern, Stimmungsmache gegen diejenigen, die faul herumhängen, sich einen "schönen Lenz machen" und trotzdem Monat für Monat Geld einstreichen. Wo soll das hinführen - und jetzt auch noch all die Flüchtlinge?

Unbestritten leben wir in einer sogenannten Leistungsgesellschaft - und das Ansehen richtet sich oft genug nach dem Posten, den jemand innehat, dem Gehalt, das er erhält, den Dingen, die er sich leisten kann. Schon in der Schule wird das Kind an seiner Leistung gemessen, kommt das Konkurrenzdenken auf - als Produkt dieses Systems. Diese Ausrichtung unseres Bildungssystems geht nach der Ansicht des Neurobiologen und Hirnforschers Gerald Hüther in die völlig falsche Richtung. Denn, so meint er, Konkurrenzdenken ist keineswegs angeboren. Die ursprüngliche Prägung des Gehirns ist - schon durch die intensive Grunderfahrung des Angewiesenseins auf die Mutter beim Ungeborenen und dann auch noch beim Säugling - auf das Miteinander ausgelegt. Auch bei seiner weiteren Entwicklung, die durch über-sich-hinauswachsen-Wollen gepaart mit Neugier geprägt ist, erfährt das Kind, dass es am besten zusammen mit anderen weiterkommt. Die Erfolge, die ein Kind dann erlebt, vermitteln ihm ein Glücksgefühl und spornen es dazu an, noch weiter zu kommen. Das heißt: Das Miteinander ist die Grundlage für die Entfaltung. Das ist die Grunderfahrung, die Menschen machen. In einem Interview sagt Hüther: »Bis ins hohe Alter wollen wir verbunden sein und über uns hinaus wachsen«.

Kinder haben grundsätzlich Freude am Lernen - das weiß jeder, der mit Kindern zu tun hat - und es sollte die Hauptaufgabe unseres Bildungssystems sein, diese Freude am Lernen zu erhalten und durch ein Miteinander, in dem sich jedes Kind nach seinen Fähigkeiten einbrin­gen kann und von dem dann alle profitieren, zu unterstützen. Würde es uns in unserem Bil­dungssystem gelingen, diese Grundvoraussetzungen zu nutzen, dann, so Hüther, wären wir auf dem Weg, anstelle der Neidkultur, die wir in unserer Gesellschaft entwickeln, an einer Glückskultur zu arbeiten: »Seine Einzigartigkeit gewinnt ein Mensch nicht mehr dadurch, dass er sich von anderen abgrenzt, sondern indem er sich gemeinsam mit anderen entdeckend, gestaltend, sich kümmernd und Verantwortung übernehmend auf den Weg macht, und dabei seine individuellen Potenziale entfaltet. Jeder gehört dazu und alle werden gebraucht.« Von dieser Erkenntnis haben wir übrigens auch schon in den Ausführungen des Religionswissen­schaftlers Michael Blume in seinem Vortrag »Gott und Gehirn« bei uns gehört: religiöse Gruppierungen seien vor allem deshalb oft besonders erfolgreich, weil sie sich als Gruppe verstehen und miteinander für eine Sache einsetzen. Wir brauchen bloß in unsere eigene Geschichte zu schauen.

Zu dieser Vorstellung des Miteinander gehört für mich noch mehr: nicht nur, dass jeder nach seinen Fähigkeiten an einer Sache mitarbeiten und sie zusammen mit den anderen weiterbrin­gen kann, sondern, damit einhergehend, dass jeder auch bekommt, was er braucht. Denn nicht nur die Fähigkeiten, auch die Chancen, die Menschen bekommen, sind sehr unterschied­lich verteilt - übrigens auch ein Aspekt in unserem Gleichnis. Da stehen welche noch am Abend auf dem Marktplatz, und als der Gutsbesitzer fragt, warum sie nicht arbeiten, lautet die Antwort: Niemand hat uns angeworben. Obwohl sie hatten arbeiten wollen, bekamen sie nicht die Chance dazu, hatten gar nicht die Möglichkeit, sich ihren notwendigen Tageslohn zu erar­beiten.

Da kommt mir die Forderung nach dem Grundeinkommen in den Sinn - dieses wäre so ganz nach der Gerechtigkeit in unserem Gleichnis. Denn die Grundlage dafür ist der unantast­bare Gedanke, dass jeder Mensch ein Recht hat zu leben. Dafür braucht er ein Dach über dem Kopf und jeden Tag genug zu essen, er braucht Kleidung und die Möglichkeit, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen - das sind die Grundbedingungen für ein Leben in Würde und Freiheit, die an keine Bedingungen geknüpft sein dürften, schlicht weil sie sich aus unserer bloßen Existenz ergeben. Was für eine schöne Vorstellung: jeder bekommt von der Geburt bis zum Tod dieses Grundeinkommen und ist damit frei von allem, was ihm seine Unabhängigkeit und Freiheit rauben könnte. Er wäre frei, das zu tun, was er für sich als sinnvoll ansähe, entweder sich eine Arbeit suchen, um dieses Einkommen zu steigern - oder auch nicht. Er könnte sich sorgenfrei um die Kindererziehung kümmern, kranke oder alte Angehörige pflegen, sich sozial engagieren - und würde sein selbstbestimmtes Tun als sinnvoll und befriedigend erleben, dies würde ihn schon deshalb auf Dauer auch motivieren, Leistung zu erbringen. Kritiker dieses Modells befürchten vor allem, dass ohne die Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, die Bereitschaft, Leistung zu erbringen, schwin­det - aber die allgemeine menschliche Erfahrung zeigt, dass zum Menschsein auch gehört, etwas Sinnvolles tun zu wollen, siehe auch den oben erwähnten Gerald Hüther. Diese Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist keine Illusion, sie wird stark diskutiert und in etli­chen Staaten auch in diversen Ansätzen umgesetzt.

Noch einen Aspekt möchte ich heute, zum Dankfest, in unser Bewusstsein rufen - auch er ist in unserem Gleichnis angesprochen. Wenn Jesus sagt: So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten, ist damit gemeint, dass unser Anspruchsdenken in die Irre führt. Wie könnten wir behaupten, wir hätten irgendetwas verdient? Wenn wir von uns selber ausgehen, dann gibt es sicherlich einige Defizite, die wir spüren - je älter wir werden, umso mehr zwickt und zwackt es überall, vielleicht haben wir auch ernst zu nehmende gesundheit­liche Einschränkungen. Sicher gibt es auch das eine oder andere, das uns in unserem Leben belastet und das wir gern anders hätten. Aber wir sollten einmal weiter denken, und zwar an all das, wofür wir gar nichts können: zuerst einmal unser Leben überhaupt - und wir leben hier in einem Land, in dem seit über 70 Jahren Frieden herrscht, wir leben in Freiheit, in relativer Sicherheit und wirtschaftlich gut versorgt - nur, weil wir hier geboren wurden. Haben wir uns das verdient? Haben all die anderen, die in Kriegsgebieten leben, in Syrien oder anderswo, und nicht wissen wohin, um das nackte Überleben zu sichern - haben sie das verdient? Haben die, die wegen ihrer Ansichten politisch verfolgt oder ihrer Meinungsäußerung oder Religions­zugehörigkeit wegen unterdrückt werden, die Hunger leiden oder gar hungers sterben, wie 24.000 Menschen jeden Tag - haben sie das verdient? Während wir vom Klimawandel, den wir durch unsere Lebensweise mit verursacht haben - mal abgesehen von dem sich spürbar ändernden Wetter - (bislang!) kaum betroffen sind, spült anderen Menschen das Wasser buchstäblich den Boden unter den Füßen weg oder nimmt ihnen die Lebensgrundlage durch massive Ernteausfälle wegen andauernder Dürre - haben sie das verdient? Und die Flücht­linge, die aus Verzweiflung ihr Leben aufs Spiel setzen, sich mit allem, was sie haben, an Seelenverkäufer verkaufen, um unter Lebensgefahr hierher zu kommen - haben sie das ver­dient?

Es gäbe noch viele weitere Beispiele, die ich anführen könnte, aber ich glaube, uns allen ist bewusst, dass es uns in vielerlei Hinsicht unverdient gut geht. Dafür können wir nur dankbar sein und - vielleicht auch eine Verpflichtung fühlen. Eine Verpflichtung dergestalt, dass wir uns überlegen, was wir mit unseren Möglichkeiten tun können, um anderen, die ihr schweres Los auch nicht verdient haben, zu helfen - natürlich auch mit Geld, aber es gibt darüber hinaus unzählige Möglichkeiten in unserem nächsten Umfeld. Wir können uns um kranke oder einsame Menschen kümmern oder bedürftigen Flüchtlingen etwas Gutes tun - nur durch unsere Hände kann Gutes in der Welt geschehen. Wenn wir dann auch noch ein "Danke" bekommen, das uns wiederum glücklich macht - dann haben wir das sogar verdient.

Karin Klingbeil, aus der Dankfestansprache vom 4. Oktober 2015

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Selbstdarstellung und Bescheidenheit

»Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden.« (Lukas 14,11)

Wer kennt es nicht, dieses sprichwörtliche Bibelzitat? Deshalb können wir auch ohne Weiteres die Mahnung Jesu vervollständigen: »Und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden.« Der Satz bildet den Schlusspunkt einer kurzen Erzählung im Lukas-Evangelium: Jesus wird an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers geladen und von den Anwesenden argwöhnisch beäugt. Prompt bringt er die versammelte theologische Elite in Verlegenheit, als er wegen eines anwesenden Kranken die provokante Frage stellt, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen. Die Gäste schweigen daraufhin betreten und Jesus heilt den Kranken, nicht ohne anzumerken, dass ein solches Handeln in Bezug auf eigene kranke Kinder oder Haustiere eigentlich für jedermann selbstverständlich sei.

Als alle Gäste sich bemühen, in der Nähe des Gastgebers zu sitzen, gibt Jesus ihnen zudem den Rat, sich bescheiden zurückzuhalten und sich eher an das untere Ende der Tafel zu setzen. Denn es wäre ja peinlich, wenn der Gastgeber einem später eintreffenden Gast den Vorzug geben und einen Drängler zurücksetzen würde. Deshalb sei es für einen Gast ehren­voller, vom Gastgeber selbst besser platziert zu werden. Dann folgt das eingangs genannte Zitat.

Wirkt diese Geschichte heutzutage nicht hoffnungslos altmodisch? Ist im Medienzeitalter die Selbstdarstellung nicht das Gebot der Stunde und die Aufmerksamkeit, die z.B. Influencer im Internet durch Follower, Clicks und Likes erzielen können, eine geldwerte Währung? Auch zahlreiche Reality-Shows im Fernsehen verstärken den Eindruck, dass der äußere Schein wichtiger ist als bescheidene Zurückhaltung.

Wenn wir ehrlich sind, kennen wir doch auch bei uns beide Verhaltensweisen: sich vordrän­gen, sei es im Straßenverkehr oder an der Supermarktkasse, sich wichtigmachen im Beruf, gegenüber Kunden oder Kollegen - haben wir uns da immer zurückgehalten? Oder andershe­rum: vielleicht haben wir uns auch schon mal bis zur Selbstverleugnung kleingemacht und eine Chance nicht genutzt - und hinterher geärgert, weil die üblichen Selbstdarsteller zum Zuge kamen.

Ein Psychologe hat einmal gesagt: »Wer sich selbst erhöht, ist vorher erniedrigt worden.« Soll wohl heißen: Einer übertriebenen Selbstdarstellung können Zurückweisungen vorausge­gangen sein. Gewinner und Verlierer wird es immer geben. Um damit gut umgehen zu können, braucht es ein gesundes Selbstwertgefühl, ein Selbst, das sich annehmen kann und angenom­men weiß. Selbst wenn uns das eigene Elternhaus nicht genug Selbstvertrauen mitgegeben haben mag, so können wir mit Jesus darauf vertrauen, dass Gott uns trotz aller Defizite an­nimmt.

Jörg Klingbeil

Der Kern des Tempelglaubens

Über das Prinzip des behutsamen und ehrfürchtigen Umgangs mit der Transzendenz

Aus Anlass des Todes von Otto Hammer am 20. September erinnern wir an sein Wirken für die Tempelgesellschaft mit folgendem Beitrag aus dem Jahr 2007, der Grundsätzliches zur Glaubensauffassung der Tempelgesellschaft anspricht.

I. Der Anfang des Tempels

Der Jahrestag der Tempelgründung ist - wie jedes Jahr - Anlass, über die Grundfragen des Tempelglaubens nachzudenken. Es geht bei diesem Vortrag nicht um das, was der Tempel­glaube besagt, sondern um die Frage, warum der Tempelglaube so ist und was hinter seinen Aussagen steckt. Oder andersherum: Was sind die Maßstäbe für unseren Glauben? Was ist sein Kern?

1. Eigentlicher Anfang

Die Entwicklung zum Tempel begann lange vor dessen formaler Gründung, und zwar in der Stunde, als Christoph Hoffmann, damals Abgeordneter im Frankfurter Parlament, für eine Trennung von Kirche und Staat stimmte. Er hatte sich damit in Gegensatz gestellt

zu seinen Oberen, der Württembergischen Landeskirche,

zu seinen Wählern, den pietistischen Kreisen,

zu seinem Arbeitgeber, der Salon-Schule, die der Kirche unterstand.

Und so hatte er an diesem Tag seine geistige Heimat in der Kirche, seine Stellung in der pietistischen Gesellschaft und seinen Beruf riskiert, an dem das Einkommen, die Wohnung und der Familienzusammenhalt hing. Kurz: er hatte seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt - und verloren.

2. Neuorientierung

Ich weiß nicht, ob Hoffmann sich der persönlichen äußeren und inneren Tragweite der damali­gen Abstimmungsentscheidung bewusst war. Aber wer so aus der Bahn geworfen wird, der muss neu anfangen. Er muss sich neu orientieren und herausfinden, wo er steht und wohin er will.

Christoph Hoffmann tastete sich zurück auf seine erste Glaubensprägung, den Korntaler Pietismus, auf den Korntaler Pfarrer Jakob Friederich und auf dessen Ausbildungspfarrer, Hoffmanns Schwiegergroßvater Philipp Matthäus Hahn. Es war der Bezug auf die separatis­tische Linie des württembergischen Pietismus.

Und wie dieser Pietismus besann sich auch Hoffmann zurück auf die Anfänge des Christen­tums, auf Jesus und seine Botschaft und auf die Urgemeinde, und er machte sich deren An­lie­gen zu Eigen:

die Naherwartung des Gottesreichs als Ausdruck der Gottesvorstellung

und den Anspruch, so zu leben, als ob dieses Reich schon da wäre.

Wir teilen heute nicht mehr die Naherwartung des Gottesreichs. Aber das ist auch nicht von Gewicht. Solche Naherwartungen kommen und gehen. Es sind Zeiterscheinungen. Es ist das Atmen des Glaubens, das die Menschen zur religiösen Höchstleistung führen kann, die Urge­meinde, wie auch die frühen Templer.

In erster Linie wichtig für Christoph Hoffmann war die Gottesvorstellung Jesu, die sich in der positiven und hoffnungsfrohen Erwartung des Königreichs Gottes ausdrückt. Sie ist der Aus­gangspunkt der jesuanischen Botschaft. Sie ist die Grundlage der jesuanischen Ethik, die für die Urgemeinde galt, die von den frühen Templern übernommen wurde und der wir uns auch heute noch verpflichtet fühlen.

II. Die Botschaft Jesu von Nazareth

1. Gottesbild Jesu

Jesus hat uns ein ganz spezielles Gottesbild hinterlassen. Es ist das Bild des einen Gottes, der das ganze Spannungsfeld zwischen absoluter Ferne und absoluter Nähe abdeckt. Beide Pole, die unerreichbare, respektheischende Ferne und die fürsorgliche Nähe haben ihren Ursprung in der jüdischen Glaubenskultur und in der Tradition des Alten Testaments. Im 5. Mosebuch ist dieser Bogen von Ehrfurcht und Liebe vorgezeichnet: (6.2) ... damit du dein Le­ben lang den HERRN, deinen Gott, fürchtest und alle seine Rechte und Gebote hältst, die ich dir gebiete. (6.5) Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.

Das war zuerst der bildlose und unkörperliche Gott vom Sinai, dem man sich nicht nähern durfte und den man nicht sehen konnte, weil das Überschreiten der Grenze den Tod nach sich zog. Aber es war auch der fürsorgliche Gott, der sein Volk aus der Knechtschaft führte, der es in der Schutzlosigkeit der Wüste beschützte, der ihm zu essen und zu trinken gab, als es hungerte und dürstete, und der es schließlich in eine Heimat führte.

Das jesuanische Gottesbild hat diesen Bogen zwischen den beiden Polen, Distanz und Nähe, nicht verringert, sondern eher verstärkt. Gott bleibt groß und unnahbar, wie am Sinai. Er ist eine transzendente Größe, außerhalb von Zeit und Raum, unerforschlich und unerfahrbar und nicht einmal in seiner übergroßen Liebe als Vater nachvollziehbar.

Jesus zeigt uns jedoch auch das Bild eines Gottes, der in seiner unendlichen Größe die Welt erschaffen hat und in seiner unendlichen Liebe jedes Einzelne seiner Geschöpfe liebt. Es ist das Bild vom Vatergott. Aber diesem Bild liegt die jüdische Vorstellung vom Vater zugrunde. Das ist kein Schmusevater, der mit seinem Kind Fußball spielt. Es ist die Vorstellung des Verehrung und Gehorsam fordernden Patriarchen, der Liebe und Hingabe erwartet, weil er sich seinen Kindern in Liebe und Güte zuwendet.

Diese Welt verdankt sich Gott, aber der ist nicht von dieser Welt. Er hat die Welt, also Zeit und Raum, geschaffen, aber er steht außerhalb von Zeit und Raum. Und deshalb sagt Jesus zu der Samariterin am Jakobsbrunnen im Johannesevangelium: (4.24) Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

2. Jesu Konsequenzen

Gott steht außerhalb von Raum und Zeit. Wir Menschen aber sind mit unserem ganzen Sein auf das Raumzeitliche beschränkt. Wir haben kein Organ, um das, was außerhalb ist, wahrzunehmen. Wir haben auch nicht die Fähigkeit, es zu begreifen, und nicht die Sprache, es zu sagen. Lediglich das Gefühl der »schlechthinnigen Abhängigkeit« erweckt in uns die Sehnsucht des Glaubens. Das Bewusstsein der Unzulänglichkeit des eigenen Seins erweckt im Menschen das Sehnen nach dem Absoluten und Vollkommenen.

Diese Sehnsucht berechtigt uns zur Verehrung Gottes, aber nicht zum Einreißen der Distanz. Sie berechtigt uns nicht, Gott sehen zu wollen, und schon gar nicht dazu, so zu tun, als hätten wir ihn gesehen oder sonst wie wahrgenommen. Sie berechtigt uns auch nicht, Gott beeinflussen zu wollen oder gar zu beschwören. Selbst unser Gebet sollte der Verehrung dienen, aber nicht der Manipulation. Deshalb lehrte Jesus seine Jünger, richtig zu beten mit den Lobpreisungen des Vaterunsers.

Und so setzt sich Jesus auseinander mit den Pharisäern. Nicht, weil sie sich bemühen, gut zu leben und die Gebote einzuhalten. Was er ihnen vorhält, ist, dass sie vorgeben, den Willen Gottes genau zu kennen und erfüllen zu können. Was er ihnen vorwirft, ist, dass sie versu­chen, den Willen Gottes in Formeln zu zwängen und diesen Formeln Absolutheit zuzuspre­chen.

So relativiert er die Sabbatformel, indem er am Sabbat den Lahmen am Teich Bethesda heilt und seine Jünger am Sabbat Ähren raufen lässt. Und so relativiert er ihre Einheitsformeln, indem er mit den Unreinen, den Zöllnern und Sündern, Tischgemeinschaft pflegt. Jesus setzt sich auch mit den Schriftgelehrten auseinander. Nicht, weil sie ihr ganzes Leben der Erforschung der Schrift widmen und weil sie über Gott und seinen Willen nachdenken. Was er ihnen vorhält, ist, dass sie die Schrift verabsolutieren und den Buchstaben der Schrift zum »unabdingbaren Wort Gottes«, zur »ewigen Wahrheit« hochstilisieren. Und er machte diese Vorbehalte deutlich, als er in der Synagoge von Nazareth seine Schriftlesung abbrach und die Schriftrolle dem Synagogendiener zurückgab, weil er den nachfolgenden Text nicht für gut fand. Er riskierte damit, wegen Gotteslästerung vom Absturzberg zu Tode gestürzt zu werden.

Kurz: Jesus lehrte uns, den respektvollen Abstand zum Göttlichen einzuhalten, er lehrte uns den ehrfürchtigen, behutsamen Umgang mit dem Übersinnlichen. Aber er lehrte uns auch, uns geborgen zu fühlen in der Liebe Gottes, der seiner Schöpfung ein gutes Ziel gesetzt hat und sie in Liebe begleitet. Und dafür ist er schließlich in den Tod gegangen.

III. Der neue Glaube

1. Erstes Kriterium des Glaubens

Und nun die Frage: Was hat der Tempel, was hat Christoph Hoffmann mit dieser Erkenntnis der Botschaft Jesu gemacht? Wie hat er diesen Bogen von Ferne und Nähe Gottes, von de­mütiger Ehrfurcht und liebevoller Geborgenheit umgesetzt?

Und das in der Umwelt des 19. Jahrhunderts, in der sich enorme geistige Umwälzungen vollzogen hatten? Hoffmann hielt sich an das Jesuswort: (Joh 4,24) Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Er übersetzte dieses Wort - ohne viele Worte daraus zu machen - mit der Forderung zum ehrfürchtigen und behutsamen Umgang mit der Transzendenz, dem Göttlichen. Der Mensch muss die Kraft aufbringen, die Ungewissheit Gottes, die Ferne Gottes, zu ertragen. Er darf sich keine falsche Gewissheit anmaßen oder erschleichen. Gott ist nicht verfügbar.

Christoph Hoffmann sah sich aufgerufen, seinen Glauben, und damit auch den Glauben und die Glaubenspraxis der Kirche, auf dieses erste religiöse Kriterium hin zu hinterfragen. Das war übrigens keine hoffmannsche Erfindung. Dieses Anliegen durchzieht die Kirchengeschich­te. Das Mittelalter führte heiße Diskussionen darüber, was man über Gott aussagen könne und dürfe. Für Luther war diese Frage der Auslöser und das besondere Anliegen der Reformation.

Es war für Hoffmann auch persönlich nichts Abwegiges oder Revolutionäres. Er folgte dabei der separatistisch-pietistischen Tradition und dem Vorbild seines verehrten Schwiegergroßva­ters Philipp Matthäus Hahn. Auch der hatte sich in erster Linie am irdischen Jesus orientiert, weshalb er gelegentlich in der Literatur als »Jesuloge« bezeichnet wird.

2. Schrift und Tradition

Der Glaube der Kirche fußt auf der heiligen Schrift und der Tradition der Kirche.

Schon Martin Luther hatte Teile der kirchlichen Tradition in Frage gestellt, und nur das als rechtmäßigen Glauben akzeptiert, was durch die Übereinstimmung mit der Schrift abgedeckt ist.

Hoffmann sah allerdings viel bewusster, dass auch die Schrift auf Überlieferung fußt. Das Neue Testament hatte in den Generationen zwischen Jesu Tod und der Niederschrift Elemente aufgenommen, die Jesus noch nicht gesehen hatte. Wesentliche Teile des Neuen Testaments sind zudem Deutungsversuche zu seiner Person, die ihrerseits, von heute aus gesehen, in hohem Maße der Deutung bedürfen.

Christoph Hoffmann hatte zwar die christliche Überlieferung in Frage gestellt, aber nie die Schrift selbst. Er wandte sich gegen die Verabsolutierung der Schrift, aber er wehrte sich andererseits dagegen, dass sie in Bausch und Bogen in Frage gestellt wurde. Er wollte die Schrift richtig und gewissenhaft gedeutet und ausgewertet wissen. In seinen letzten Lebens­jahren hatte er begonnen, Texte des Neuen Testaments zu übersetzen und zu kommentieren, um so die Botschaft Jesu und den Glauben der Urgemeinde zu erkennen und seiner Gemein­de zugänglich zu machen.

Aber Hoffmann vergaß nie die Lehre aus der Lukaserzählung von der Lesung Jesu in der Nazarener Synagoge: Die Heilige Schrift ist nichts Absolutes. Sie ist Überlieferung und ihre Texte sind aus dem Gottesverständnis der jeweiligen Zeit geschrieben. Gott aber lässt sich nicht in Worte und nicht in Lehrsätze und Dogmen pressen. Schon im Mittelalter wusste man in der Kirche, dass alle Aussagen über Gott diesem »mehr unähnlich als ähnlich« sind.

3. Neues Jesusverständnis

Die zweite Frage, worauf Christoph Hoffmann die Tradition überprüfte, war das Verständnis der Person Jesu. Es ist die alte Frage, die sich schon die Urgemeinde gestellt hatte. Wer war dieser Jesus? Wie müssen wir ihn und sein Leben und sein Ende verstehen und deuten?

a. Jesusverständnis des Neuen Testaments

Die damalige Zeit liebte es, sich in Bildern auszudrücken. Bilder muss man nicht nur richtig auswählen, man muss sie auch richtig verstehen. Wer sie überstrapaziert, missversteht sie.

Am nächsten lag wohl für die damalige Urgemeinde das Bild des Messias. Es ist die königliche Figur des Gesalbten, der die Gottesherrschaft durchsetzt und verwirklicht. Er handelt im Auftrag Gottes und trägt, wie die Könige im Alten Orient, den Titel »Sohn Gottes«.

Das zweite und wohl das Christentum am meisten prägende Bild verdanken wir Paulus. Es ist die Gestalt des leidenden Gottesknechts in den Gottesknechtsliedern des Propheten Jesaja. Dieses Bild deckt sich auch besser mit der Geschichte des gekreuzigten Jesus als das Bild vom königlichen Messias. Diese Lieder waren in der Zeit der babylonischen Gefangen­schaft entstanden. Die Lieder besagen: Wir, die Einzelnen alle, haben gesündigt, und um unserer Sünde wegen wurde das Ganze, das Volk Israel, der Knecht Jakob, in die Gefangen­schaft geführt. Aber dieser Knecht Gottes, auf Griechisch auch: dieser Sohn Gottes, der da zerschlagen und voller Schwären am Boden liegt, hat eine Aufgabe: Er ist der Zeuge des einen Gottes. Und deshalb wird er auferstehen. Er wird das sündige Israel sammeln und den neuen Monotheismus in die Welt tragen. Der Knecht wird zum Heil Israels und zum Licht der Heiden.

Das dritte Bild ist das im damaligen Judentum moderne Bild des Logos, des Wortes und der Weisheit Gottes. Der Evangelist Johannes hat dieses Bild aufgegriffen und mit dem bereits bekannten Deutemodell - Jesus als Gottesknecht, beziehungsweise Gottessohn - verbunden. Die jüdische Philosophie um die Zeitenwende versteht den aus der griechischen Metaphysik bekannten Logos als die Weisheit des Gotteswortes, wie in den Weisheitsbüchern des Alten Testaments beschrieben.

Mit diesen Bildern stellte die Urgemeinde in verehrender Weise die vor dessen Tod nicht erkannte Bedeutung Jesu dar. Sie deuteten das Was und das Wie der Person Jesu, seine Eigenschaften, aber nicht seine Existenz. Die Bilder hatten keine eigene Wirklichkeit, sondern waren Beschreibungen des Wirklichen, aber sie waren nicht deckungsgleich mit der Person Jesu. Sie waren deshalb für die Urgemeinde auch kein Ansatz für eine neue Theologie.

Christoph Hoffmann hatte keine Bedenken, diese von der Urgemeinde ausgewählten Bilder zu übernehmen. Besonders wichtig war ihm der Titel des Christus, des Messias. Für ihn war er Ausdruck der Hoffnung auf die verheißene Gottesherrschaft, auf das gute Ziel dieser Welt.

b. Jesusverständnis der kirchlichen Dogmatik

Erst mit dem Ausgang der Antike und dem heraufziehenden Mittelalter änderte sich das Ver­ständnis der drei Bilder. Die junge Kirche begann die Bilder als die Wirklichkeit zu verstehen. Und so entstanden im 4. Jahrhundert im Zuge der ökumenischen Konzilien von Nicäa und Konstantinopel die Dogmen von der Göttlichkeit Jesu und der Trinität Gottes.

Christoph Hoffmann lehnte diese Dogmen ab. Zum einen aus seinem Schriftverständnis heraus. Er sah in der Behauptung, Jesus sei nicht allein Mensch, sondern Gott gleich, eine Verfälschung der Schrift. Er verteidigte die Schrift gegen die Tradition der Kirchen.

Aber in erster Linie lehnte Christoph Hoffmann die Vergöttlichung Jesu und die Darstellung als Dreiheit ab, weil es ein grober Verstoß gegen das Prinzip des behutsamen und ehrfürch­tigen Umgangs mit der Transzendenz ist. Gott ist Geist, er ist nicht von dieser Welt und kann und darf von Menschen nicht detailliert und spekulativ gedeutet werden. Er ist EINER. Er lehnte diese Dogmen ab, weil sie die Grenze zwischen den Endlichkeiten Zeit und Raum und dem Unendlichen und Ewigen aufheben. Diese Aufhebung war für ihn menschliche An­maßung.

So sagte Christoph Hoffmann: Jesus ist Mensch wie du und ich, aber er hat uns gelehrt, Gott und die Welt besser und freudvoller zu sehen; er hat uns seine Frohbotschaft gebracht: die Botschaft von der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit Gottes und die Hoffnung auf eine gute und schöne Welt, die das Reich Gottes ist.

4. Abschluss, Fazit, Zusammenfassung

Der Kern des Tempelglaubens ist die Rückbesinnung auf den von Jesus verkündigten Respekt vor der Transzendenz, die Ehrfurcht vor dem Göttlichen und das Bewusstsein der schlechthin­nigen Abhängigkeit des Menschen. Es ist die Hinnahme des Spannungsfeldes zwischen der unermesslichen Ferne des transzendenten Gottes und der Liebe des väterlichen Schöpfers, der die Welt zu seinem Reich bestimmt hat und uns zur Teilhabe und Mitarbeit einlädt.

Dieser anspruchsvolle und tiefschürfende Kern des Tempelglaubens sollte in diesem Vortrag mit Hilfe einiger Schlaglichter herausgearbeitet werden. Die Kenntnis dieses Kerns ist wichtig, weil die frühen Templer aus diesem hohen Glaubensniveau ihr religiöses Selbstverständnis ableiteten. Aber auch deshalb, weil sich unser heutiger Glaube mit all seinen Besonderheiten aus diesem Kern erklärt.

Es ist ein jesuanischer Glaube, ohne Kult und ohne Dogmen, getragen von der Ehrfurcht vor Gott.

Otto Hammer, Tempelgründungsfeier der Tempelgemeinde Stuttgart am 17. Juni 2007

Warum Albert Schweitzer heute?

Der Autor Werner Zager, geboren 1959 in Worms, außerplanmäßiger Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Leiter der Evangelischen Erwachsenenbildung Worms-Wonnegau ist Mitherausgeber der »Werke aus dem Nachlaß« Albert Schweitzers und der »Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung«.

Angesichts des immer bedrohlichere Formen annehmenden weltweiten Klimawandels leuchtet es unmittelbar ein, dass Albert Schweitzers »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben« eine hohe Aktualität zukommt - sei es, um unser eigenes Fehlverhalten wahrzunehmen und einzugeste­hen, oder sei es, um Orientierung für verantwortliches Handeln im Kleinen und Großen zu gewinnen. Ob es uns gelingt - wie Schweitzer hoffte -, noch im letzten Moment das Ruder herumzureißen und die krisenhafte Entwicklung zu stoppen und gar umzukehren, ist eine durchaus offene Frage. Im Erkennen war Schweitzer Realist, im Handeln dagegen Optimist. Darin sollten wir es ihm gleichtun. Auch wenn wir als Realisten erkennen, dass es möglicher­weise schon fünf nach zwölf ist, sollten wir unser Handeln durch die Hoffnung beflügeln lassen, dass die Menschheit noch eine Chance hat, das Schlimmste abzuwenden.

Wie dies konkret geschehen kann, hat Schweitzer bereits vor 100 Jahren in seinem Zyklus von 15 ethischen Predigten gezeigt, die er nach seiner Rückkehr aus französischer Internie­rungshaft während des Ersten Weltkriegs in der Zeit vom 16. Februar bis zum 7. September 1919 in der Kirche St. Nicolai in Straßburg gehalten hat und die 1974 unter dem Titel »Was sollen wir tun?« veröffentlicht wurden.

In diesen Predigten hat Schweitzer übrigens zum ersten Mal seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben öffentlich dargelegt.

Man sieht nicht zuletzt hieraus, welche Bedeutung Schweitzer der Predigt beigemessen hat. Und so ist es in besonderer Weise der Prediger Schweitzer, der mich anspricht. Zweifellos hat Schweitzer die Kunst beherrscht, selbst tiefe religiöse Gedanken verständlich und überzeu­gend auszudrücken. Die Ausstrahlungskraft seiner Predigten dürfte zum einen damit zusam­menhängen, dass diese - wie er sagt - einen Gedanken des Evangeliums entfalten, »den wir lebendig aus unserm Leben herausgerissen haben«, so dass dieser »auch in andern Leben werden« kann. Zum anderen sind es die eindrücklichen Bilder und Metaphern, die überzeu­gen.

Als für unsere Zeit besonders wegweisend hat Schweitzers bewusster Verzicht auf dogmati­sche Lehrformeln zu gelten, die bis in die heutige Predigtpraxis hinein gerade an den kirch­lichen Feiertagen Verwendung finden. Pointiert drückt er dies so aus: »Nur was du wirklich selber denkst und empfindest, ist deine Religion. Gar oft sind überlieferte Worte nur dazu da, uns mit ihrem Schall über unsere innere Armut hinwegzutäuschen, und wir riskieren fort und fort, dass es uns ergeht wie manchen alten Handelshäusern, die auf ihre Solidität bauen und immer Werte auf dem Papier mit weiterführen, die sich bei einem richtigen Inventar als nicht mehr vorhanden erweisen würden.«

Als ein der Wahrhaftigkeit kompromisslos verpflichteter Prediger erklärt Schweitzer in aller Klarheit, dass das Weltbild Jesu für uns hinfällig geworden ist: »Wir rechnen nicht mehr mit dem nahen Weltende und einem direkten Eingreifen Gottes in das Geschehen«. Die Vorstel­lung von dem unmittelbar durch Gottes Handeln herbeigeführten Reich ist abgelöst worden durch die von dem durch Arbeit des Menschen zu verwirklichenden Reich. Im Blick auf das Ostergeschehen geht es Schweitzer nicht um das Mirakel einer leiblichen Auferstehung, son­dern darum, dass Jesu Geist »sich in vielen Menschen lebendig erwies, und ich selber fühle, wie er bei mir zum Leben gelangen will«. Und so kann er formulieren: »Es ist, als ob Jesus selber der Menschen bedürfte, um in uns zur Herrschaft zu gelangen. Seine Worte sind für uns Leben geworden durch Menschen, in denen sie Leben waren, und er selber lebt in uns durch die, die in ihm lebten und uns berührten, dass sich unser Geist an dem ihren entzündete.«

Was die Predigten Schweitzers wie ein roter Faden durchzieht, ist die immer wieder von neuem vollzogene Verbindung von Denken und Glauben bzw. Frömmigkeit. Und auch dies ist ein charakteristischer Zug des Predigers Schweitzer: bei aller Liberalität in Glaubensfragen der hohe Stellenwert von Kirche und Gottesdienst. Den Satz, man könne »ein guter Christ werden und sein, ohne in die Kirche zu gehen«, brandmarkt Schweitzer als einen »grundfalsche[n] Satz; wer ihn ausspricht, der weiß gar nicht, was wahres Christentum ist. Er meint, es sei, so einige Sätze für wahr zu halten, ihnen zuzustimmen, aber das Christentum ist inneres Leben! Und dieses Leben entwickelt sich nur, wenn man allsonntäglich aufs Neue in der christlichen Gemeinde sich versammelt und allsonntäglich Gottes Wort hört.«

In einer Zeit des geistigen Umbruchs bieten Schweitzers Predigten wegweisende Orientie­rung, indem sie Kritik an überkommenen Vorstellungen offen äußern, ohne Andersdenkende dabei zu verletzen, die Hörerinnen und Hörer in die Wahrheitssuche des Predigers mit einbe­ziehen und zu einer »Denkfrömmigkeit« anleiten, die keine Denkverbote kennt, vielmehr auf eine wahrhaftige und glaubwürdige christliche Existenz abzielt. So gelingt es Schweitzer, das Evangelium als etwas Neues und Lebendiges zur Sprache zu bringen.

Werner Zager, erschienen in: Albert-Schweitzer-Rundbrief Nr. 111. 2019 für die Freunde von Albert Schweitzer, Frankfurt a.M. 2019, S. 124-126 (hier ohne Fußnoten).

150 Jahre Kolonie Sarona

Geschichte und Gegenwart

Im Jahre 1871 gelang es Christoph Hoffmann (1815 - 1885), drei Kilometer nordöstlich von Jaffa 60 Hektar Land zu erwerben. Am 27. August wurde die von Theodor Sandel (1845-1902), dem Sohn des Arztes Dr. Gottlob David Sandel, geplante Kolonie eingeweiht. Sie liegt heute im Gebiet der 1909 gegründeten Stadt Tel Aviv. Nach der Saron-Ebene, in der sie lag, erhielt die neu errichtete Ackerbau-Kolonie den Namen Sarona. Das Gebiet wurde in 18 Parzellen aufgeteilt; ein Straßenkreuz teilte die Kolonie in vier Teile. An der zentralen Kreu­zung inmitten der Kolonie wurden vier Parzellen für gemeinnützige Bauten reserviert, von denen bereits im Februar 1873 das Gemeindehaus mit einer Schule eingeweiht werden konnte.

Die Anfänge der Siedlung erwiesen sich in der ungesunden Landschaft des Wadi el Mussrara (heute verläuft im Tal die Autobahn Tel Aviv - Ayalon) mit seinen zahlreichen Sümp­fen als außerordentlich schwierig. In den ersten Jahren litten die Siedler an Tropenkrankheiten und die Zahl der Opfer war groß. Viele Siedler in Sarona und auf den benachbarten Gütern erkrankten an Malaria, an Ruhr und an Typhus. In den ersten drei Jahren starben insgesamt über 55 Siedler. Hinzu kamen Familienmitglieder auf den benachbarten Gütern, etwa der Model-Farm der Familien Sickinger und Weinmann, dem Mount Hope der Familie Lutz und dem Rhömshof. Im Jahr 1875 war die Zahl der Siedler auf 80 Personen gesunken, das Fortbestehen der Kolonie dadurch bedroht. Erst nachdem es gelungen war, mit Hilfe importier­ter Eukalyptusbäume die Sümpfe trockenzulegen, war das Gedeihen der Siedlung gesichert.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten entwickelte sich Sarona zu einer der blühendsten Kolonien Palästinas. Wurden zunächst vor allem Gerste und Weizen angebaut, spezialisierte man sich später auf den Weinbau. Der hier angebaute Wein wurde überwiegend nach Deutschland exportiert, und zwar mit Hilfe der 1891 errichteten und von Gottlieb Schumacher (1857-1925) geplanten und gebauten Weinkellerei. Zugleich wurden weitläufige Plantagen angelegt, auf denen vor allem Zitrusfrüchte wie Orangen, Grapefruit und Zitronen veredelt wurden. In Saro­na wurden in den 1890er Jahren auch die ersten Bananenplantagen Palästinas gepflanzt. Diese wurden von einigen Templerfamilien, die in Deutsch-Ostafrika lebten, nach Sarona gebracht und dort gepflanzt. In den ersten Gewächshäusern Palästinas (hauptsächlich der Familie Orth, Sarona) wurden Gemüse und Obst angebaut und Blumen gezüchtet.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Sarona die prosperierendste deutsche Kolonie des Landes mit einer rasch wachsenden Bevölkerungszahl. Neue Straßenzüge wurden angelegt, weitere öffentliche Gebäude wie das neue Gemeinde- und Schulhaus im Jahre 1912 errichtet. Das neue Gemeindehaus war vollständig aus Zementbauplatten gebaut, die die Templer aus dem neuen Zement-Werk der Ge­brüder Wieland in Jaffa-Walhalla bezogen.

Als einzige der deutschen Kolonien erfuhren Wirtschaft und Bevölkerung in Sarona noch in der britischen Mandatszeit ein erhebliches Wachstum. Es entstanden ungefähr 20 neue Wohnhäuser so­wie ein drittes Schulgebäude, die dem Zeitgeist ent­sprechend vom modernen Bauhausstil geprägt waren.

Die Kolonie ist in der Zeit des Zweiten Weltkrieges untergegangen. Die Jerusalemer Temp­ler wurden in Sarona interniert. Nach dem Weltkrieg war Sarona die erste Kolonie und auch einzige, die verkauft werden konnte. Die ehemaligen Templereigentümer, seit langem interniert oder in Australien bzw. Deutschland, beschlossen die Kolonie zu verkaufen. Dazu traten sie an die angrenzenden Städte heran, die schon lange an den Ländereien Interesse zeigten. Man wurde handelseinig und 1947 schließlich wickelte die britische Mandatsverwaltung zu Gunsten der internierten Eigentümer den Verkauf des als Feindvermögen beschlagnahmten Sarona an die Städte Bne Brak, Ramat Gan und Tel Aviv ab. Der Preis wurde in Raten nach Australien gezahlt.

Foto vom Kaiserbesuch 1898 in Palästina

In den Jahren nach der Gründung des Staates Israel wurde der Name Sarona auf Anordnung des Premierministers David Ben Gurion in Ha-Qirya um­be­nannt. Die ehemaligen Bauten von Sarona wur­den zu Militärbasis und Hauptquartier der israeli­schen Armee. Sogar der Sitz des Verteidigungsmi­nisteriums wurde dort eingerichtet. Im ehemaligen Weinkeller wurden die ersten Flugzeuge der israeli­schen Luftwaffe zusammengebaut. Das Ha-Qirya Viertel diente fast 40 Jahre als Militärbasis.

Ab 1990 wurde diskutiert, dass die Militärzentrale aus der dichtbesiedelten Region Tel Avivs auszie­hen solle. Prof. Dr. Alex Carmel, wie auch Prof. Dr. Yossi Ben Artzi und der Schreiber dieser Zeilen bemühten sich intensiv um den Erhalt der alten Templerbauten. Im Jahre 1993 konnte ich die Leitung der Stadtplanungsbehörde und ein Jahr später die Denkmalschutzbehörde durch Sarona führen. Durch die Initiativen der Denk­malbehörde, Prof. Nitza Szmok, Frau Tamar Tuchler und Shay Farkash kamen viele Impulse und Hilfen. Die israelische Armee hat den südlich der Kaplan Straße gelegenen Teil Saronas an Bauentwickler übergeben, die fast 40 historische Bauten für ungefähr 130 Millionen Euro renovierten, das Umfeld wurde gärtnerisch neu gestaltetet und unter der Fläche wurde eine Tiefgarage gebaut. Im Jahre 2014 wurde die Entwicklung Saronas mit neuen Parks der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Bauentwick­ler errichteten um den historischen Kern herum 15 Hochhäuser mit Wohnungen, Büros, Res­taurants und Hotels.

Heute ist Sarona ein attraktives Zentrum für die lokale Bevölkerung der Metropole Tel Aviv und auch für Touristen zum Einkaufen, Flanieren und Ausgehen. Am Ort befinden sich mehr als ein Dutzend Restaurans, ein Museum für Maltechnik, ein Besucherzentrum, sowie die wiedererrichtete Kegelbahn aus Templerzeiten.

Dr. Jakob Eisler

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