Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 179/3 - März 2023

 

 

Ist Gott "nur" Liebe? - Brigitte Hoffmann

Suchen und selig machen, was verloren ist - Karin Klingbeil

»Hört auf die Wissenschaft, bevor es zu spät ist!« - Magdalene Schönhoff

 

Am 27. Februar 2023 ist Brigitte Hoffmann im Alter von 91 Jahren verstorben - wir würdigen an dieser Stelle ihre langjährige, intensive Arbeit im Ältestenkreis, ihre tiefschürfenden Gedanken und ihr umfangreiches Wissen, indem wir eine Morgenfeier mit grundlegenden Aussagen zu ihrem Gottesverständnis nochmals abdrucken.

Ist Gott "nur" Liebe?

Von unserer Verpflichtung zur Erkenntnis

»Gott ist Liebe«, heißt es bei Johannes, »und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« Ein wunderschönes, oft zitiertes Wort: es vermittelt die Vorstellung einer allum­fassenden Liebe, in der wir geborgen sind - eine Vorstellung, die wohltut. Und dass es dabei irgendwo auch auf uns selbst ankommt, darauf, dass wir in der Liebe bleiben, akzeptieren wir - umso eher, als dieses »Auf-uns-selbst-Ankommen« so allgemein gefasst ist, dass jeder darin seine eigene Auffassung oder Vorstellung bestätigt sehen kann.

Das ist eine Feststellung, keine Kritik. Jeder Aphorismus und jeder Lebensrat, jeder allge­mein gesehene Bibelspruch lebt davon, dass er interpretierbar ist. Sonst könnte er nicht kurz und einprägsam sein, sonst könnte er auch nicht allgemein akzeptiert werden. Zu jenem Jo­hanneswort aber stellen sich zwei Fragen:

Was heißt: Gott ist Liebe? Und: Ist Gott nur Liebe?

Zunächst eine Vorüberlegung. Wir können nicht wissen, wie Gott ist. Etwas, das unendlich größer, umfassender, anders ist als wir, können wir mit unserem Verstand - und auch mit unserem Gefühl - nicht erfassen, geschweige denn es zutreffend mit Worten beschreiben. Wir können allenfalls aus unserer Erfahrung und aus der anderer Menschen Rückschlüsse ziehen.

Insofern könnte man sagen, dass alles Reden über Gott Spekulation sei. Feuerbach hat die These aufgestellt, dass sich die Menschen ihre Götter oder ihren Gott nach ihren Vorstellun­gen und Bedürfnissen schaffen. In der Bibel heißt es umgekehrt: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. Diese beiden Aussagen scheinen einander diametral entgegengesetzt zu sein. Auf der einen Seite der Mensch als eine Art Schöpfer, der sich seine Götter schafft, erfindet, solange er sie braucht, und - das schwingt unausgesprochen mit - sie fallenlassen wird, wenn er so selbstbewusst und selbständig geworden ist, dass er sie nicht mehr braucht. Auf der anderen Seite Gott als der alleinige Schöpfer, der Mensch als sein Geschöpf. Und doch berüh­ren sie sich in einem wesentlichen Punkt: es besteht eine enge Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Mensch und Gott sind in irgendeiner Form verwandt, ähnlich, aufeinander bezogen, Geist von einem Geist - ich versuche, mit Worten eine Beziehung zu umschreiben, die sich nicht in Worte fassen lässt.

Unsere Vorstellungen von Gott sind auf jeden Fall bruchstückhaft, wir können nicht sicher sein, dass sie »richtig« sind. Sicher aber ist, dass die Vorstellung, die wir uns von Gott ma­chen, auf uns zurückwirkt, auf unser Denken und Tun, auf unser ganzes Sein.

Selbst ein Gott, den wir uns selber schaffen, wirkt auf uns zurück - das wäre die atheistische Formulierung. Die religiöse heißt: Wir können uns von der unendlichen Wirklichkeit Gottes nur ein vages Bild machen, ein unzulängliches, bruchstückhaftes, aber welcher Art dieses Bild ist, welche Aspekte Gottes wir damit einfangen, das kann entscheidend sein für unser Bild vom Menschen, von uns selbst, für das, was wir aus unserem Leben machen.

Der Glaube der Calvinisten an einen strengen, strafenden und belohnenden Gott hat Ge­sellschaften erzeugt, die sich selbst unter unaufhörlichen Leistungszwang stellten, und der Glaube des Islam an das Kismet, den unabänderlichen Willen Allahs, andere, die sich zufrie­den und fatalistisch in ihr Schicksal ergaben. (Allerdings ist das nur eine Seite des Islam - auch er ist, wie das Christentum, vielgestaltig.)

»Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde« - das heißt einerseits: Gott ist vollkommen, und er hat einen Keim zu dieser Vollkommenheit, ein Streben danach, auch in sein Geschöpf, den Menschen gelegt. Es heißt aber auch: wir entwickeln uns nach unserem Bild von Gott. Inso­fern ist es keine müßige Spekulation, sich Gedanken über Gott zu machen.

Gott ist Liebe

Was bedeutet es also, wenn wir sagen: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott? Mir scheint, dass sich hier zwei verschiedene Auffassungen von Liebe überlagern: Liebe als Nächstenliebe - dann heißt »in der Liebe bleiben«, diese Nächstenliebe nach unseren Kräften zu üben - und Liebe als eine umfassende bejahende Kraft, die alles Geschaffene trägt, das Ja Gottes zu seiner Schöpfung.

Wir stellen im Allgemeinen den Aspekt der Nächstenliebe in den Vordergrund, Liebe als Bereitschaft zum Verstehen und Verzeihen, zum Mitleiden und Helfen. Es Ist die Liebe, von der Jesus spricht, in immer neuen Gleichnissen und Bildern. Ob im Gleichnis vom Verlorenen Sohn oder vom Barmherzigen Samariter, vom Schuldner oder im Kern seiner Botschaft von Gott als dem Vater: immer wieder geht es darum, dass Gott uns diese Liebe entgegenbringt, dass er aber auch von uns als den nach seinem Bild Geschaffenen erwartet, dass wir diese Liebe an unseren Mitmenschen üben.

Mit dieser Liebe zu den Menschen ist die Liebe zu Gott untrennbar verbunden. Es ist die Kernbotschaft des Neuen Testaments. Wir können es glauben, weil Jesus es gesagt und gelebt hat, und weil es eine beglückende Botschaft ist - Evangelium heißt ja: Gute Botschaft. Wir können es aber auch in unserem täglichen Leben, oft an ganz banalen Beispielen, selbst erfahren: dass dort, wo wir solche Liebe zu üben versuchen, oft - nicht immer - Freude ent­steht, Schwierigkeiten sich überwinden lassen, die Welt ein kleines bisschen heller wird.

Es ist die Kernbotschaft des Christentums, und es ist ohne Zweifel etwas vom Wesent­lichsten, was je gelehrt und erfahren wurde - aber ist es das einzige, was wesentlich ist? Lässt sich unser ganzes Leben mit dieser Botschaft bewältigen?

Eine Kritik, die man gerade in letzter Zeit öfter hören kann, lautet: Es ist eine Botschaft, die zu einseitig auf den Menschen zugeschnitten ist, die ganze übrige Schöpfung bleibt dabei außer Betracht. Sie hat mitgeholfen, den Hochmut des Menschen zu züchten; er als die Krone der Schöpfung, als das Ebenbild Gottes, habe das alleinige Recht, mit allem, was nicht seines­gleichen ist, Baum und Tier und Erde und Wasser, nach seinem Gutdünken zu verfahren.

Dem werden dann indianische und östliche Religionen gegenübergestellt, Hinduismus oder Shintoismus, die die ganze Schöpfung als göttlich begreifen und den Menschen nur als einen keineswegs herausgehobenen Teil des Ganzen, dessen religiöser Auftrag - wie bei den India­nern - gerade darin besteht, in Harmonie mit dem Ganzen zu leben, oder dessen Erlösung - wie im Hinduismus oder, in etwas anderer Form, im Buddhismus - darin liegt, die Trennung zu überwinden und wieder einzugehen in das allumfassende Ganze.

Insofern seien diese Religionen näher an der Realität des Seins, hätten einen wesentlichen Aspekt Gottes und der Schöpfung besser erkannt und führten daher zu einem - in dieser Hinsicht - besseren Leben. Und wir, die wir heute mit Schrecken erkennen, wie unser christlicher Hochmut - Demut nur vor Gott, aber Selbstherrlichkeit allem anderen Geschaffenen gegenüber - uns in eine fast ausweglose Sackgasse geführt hat, in die Gefahr, unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, - wir müssten uns fragen, ob eine der Ursachen nicht in unse­rem falschen, d. h. einseitigen, Menschen- und Gottesbild liegt.

Historisch gesehen ist das sicher richtig. Jahrhundertelang hat die Mehrheit der Christen - nie alle - nur diesen einen Aspekt gesehen. Und es kann kein Zufall sein, dass moderne Natur­wissenschaft und Technik, die Mittel zur Beherrschung der Natur, ausschließlich in christlichen Gesellschaften gewachsen sind. Und beim modernen Kapitalismus, der schärfsten Ausprä­gung dieser Mentalität selbstherrlichen Gestaltens, ist der Zusammenhang mit der Religion - in diesem Fall mit dem CaIvinismuis - deutlich zu verfolgen. Das Bild von einem Gott, der nur den Menschen zur Erlösung vorgesehen hatte, erzeugte einen Menschen, der nur auf diese Erlösung fixiert war und alles andere gering achtete, der sich als den Mittelpunkt der Welt sah, und der - im Laufe der Säkularisierung im 18. und 19. Jahrhundert - diesen Hochmut beibehielt, während er gleichzeitig die Demut vor Gott verlor, die allein dem Hochmut die Waage hätte halten können.

Es war ein verengtes, einseitiges Bild von Gott. Im biblischen Schöpfungsbericht - zumin­dest in dem jüngeren, der am Anfang der Bibel steht und der den meisten Christen als die Schöpfungsgeschichte geläufig ist - ist kein Unterschied zwischen der Erschaffung der Welt und der des Menschen. Nach jedem Schöpfungstag, nach der Erschaffung von Erde und Himmel und Meer und Pflanzen und Fischen und Vögeln und Landtieren heißt es, genau wie nach der Erschaffung des Menschen: Und Gott hatte Freude daran, denn es war gut. Wenn ein Stück Göttliches in mir, dem Menschen, ist, dann ist es auch in einem blühenden Baum und in einer spielenden Katze, im Regenwurm und Fingerhut - vielleicht nicht genau so, sondern auf eine andere Art, aber genauso gegenwärtig.

Gott ist Liebe - nun wird die andere umfassende Bedeutung deutlich: Liebe zu allem, was ist: »denn durch seinen Willen haben sie das Leben und sind geschaffen...« Oder, um es mit einem schönen Vers von H. Paulus zu sagen: »Nichts ist zu klein, Gott hüllt es doch in Liebe ein. Nichts ist zu groß, es wird und wächst in Gottes Schoß.«

Die Schöpfung, an der Gott Freude hatte, weil sie gut war, kann nicht aus seiner Liebe ausgeschlossen sein. Und wenn wir es der Bibel, bzw. dem mythischen Schöpfungsbericht, allein nicht glauben wollen: zeugt diese Schöpfung selbst nicht überall davon? »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« haben wir zu Beginn unserer Feier gehört. Wenn ich die Schöpfung anschaue, die unendlichen Weiten des Himmels und die unaufhörliche Bewegung des Meeres, die Schönheit einer Rose und das Wunder des Schmetterlingsflugs über Tausende von Kilo­metern, die Fülle von Leben in einer Erdkrume oder in einem Wassertropfen, das Wunder jedes neuen Frühlings und die Schönheit jedes Herbstes, dann fühle ich die Liebe Gottes so deutlich wie nur irgend sonst. Ein naturwissenschaftlicher Beweis ist auch das nicht - den kann es nicht geben. Aber für den, der überhaupt Göttliches zu sehen bereit ist, ist es ein Zeugnis göttlichen Wirkens, der Allgegenwart göttlicher Liebe.

Natürlich ist das immer noch etwas anderes, als wenn in pantheistischen Religionen die Natur selbst oder Teile von ihr als Gott gesehen werden. Auch wenn Gott in allem ist, so geht er doch in diesem allen nicht auf, er ist Geist über allen und jenseits aller Erscheinungen.

Dem entspricht, dass auch die Stellung des Menschen zur Natur eine andere ist. Wohl ist er Geschöpf wie alle anderen Geschöpfe, aber er ist zugleich auch über sie hinausgehoben. Im biblischen Schöpfungsbericht heißt es: »Ich setze euch über die Fische und Vögel und alle anderen Tiere« - aber es geht weiter: »und vertraue sie eurer Fürsorge an«.

Und wieder entspricht dem unsere eigene Erfahrung: wir sind in vielem den Tieren gleich, in vieler Hinsicht den gleichen Gesetzen unterworfen, zum Teil - wie gerade die neuere For­schung deutlich gemacht hat - mit ähnlichen Instinkten und Bedürfnissen ausgestattet. Aber wir sind zugleich auch auf unserer Erde die einzigen Wesen, die sich wenigstens teilweise von diesen Gesetzen und Instinkten frei machen können, und kraft dieser Freiheit haben wir tatsächlich ein gut Teil Herrschaft über Tiere und Pflanzen erlangt.

Gott hat uns mit unserem Bewusstsein die Fähigkeit gegeben, diese Macht zu erwerben - samt der Freiheit, sie zu missbrauchen. Das ist eine Sonderstellung in der Schöpfung. Und sie ist durchaus zwiespältig. Wenn ich meine Katze spielen sehe, mit einer unbewussten Anmut der Bewegung, deren kein Mensch fähig ist, dann frage ich mich manchmal, ob Göttliches im Tier nicht unmittelbarer gegenwärtig ist als in uns. Unser Bewusstsein, das uns Erkenntnis und Macht gibt, hat uns Gott ähnlicher gemacht, aber es hat uns zugleich getrennt von einem Ur­grund göttlichen Seins, an dem das Tier unreflektiert teilhat.

Gott ist Erkenntnis

Das Bewusstsein hat uns Gott ähnlicher gemacht. Auch das steht schon in der Schöp­fungsgeschichte: »Ihr werdet sein wie Gott, erkennend das Gute und Böse.« Damit ist zugleich eine Aussage über Gott gemacht: als sein entscheidendes Attribut wird hier gesehen »das Erkennen von Gut und Böse«. Vielleicht könnte man auch sagen: die Erkenntnis überhaupt. Der Unterschied ist vielleicht gar nicht so groß: fast alle Erkenntnis läuft auf ein Erkennen von Gut und Böse hinaus.

Gott als die höchste, umfassendste Erkenntnis, der Geist, vor dem und in dem alle uns verborgenen Zusammenhänge klar und offen liegen - das ist, zumindest für mich, eine absolut überzeugende Vorstellung.

Und auch sie findet eine Entsprechung, wenn man so will, eine Bestätigung, in der realen Welt. Es ist unbestreitbar, dass die Evolution, soweit wir sie verfolgen können, eine Entwick­lung zu immer höheren Formen des Bewusstseins und damit zu mehr Erkenntnis ist: von der anorganischen Materie zu den niedrigen Lebewesen, die nur das registrieren, was für ihr unmittelbares Überleben hier und jetzt relevant ist, über die höheren Tiere, die mit feinsten Sinnesorganen Dinge wahrnehmen, die uns Menschen verborgen sind, die mit spielerischer Neugier alles untersuchen, was ihnen unter die Pfoten kommt, die oft auch das seelische Befinden des tierischen oder menschlichen Partners registrieren, bis hin zum Menschen mit seiner Fähigkeit des abstrakten Denkens und Kombinierens, des Erkennens von Gut und Böse.

Das zeigt im Übrigen auch - weil wir vorher von der Sonderstellung des Menschen gespro­chen haben -‚ dass er nichts qualitativ anderes ist als andere Geschöpfe, doch die bis jetzt höchste - und dann vielleicht auch nicht die letzte - Stufe einer Entwicklungsreihe. Ganz offen­bar ist dies ein Entwicklungsgesetz, das Gott seiner Schöpfung mitgegeben hat, und wenn diese Schöpfung Geist von seinem Geist ist, dann gehört Erkenntnis zu seinem Wesen. Dann sind auch wir, seine Ebenbilder, zur Erkenntnis berufen. Nicht nur im Sinne der Evolution, der Teilhabe an einem Bewusstsein, der wir uns gar nicht entziehen können. Sondern auch, ganz privat und persönlich, für jeden von uns gibt es eine Verpflichtung zur Erkenntnis oder, anders ausgedrückt, zur Wahrheit.

Ich meine damit nicht das übliche Die-Wahrheit-Sagen, nicht die kleine Lüge vom Verkehrs­stau, mit der man sich und dem andern eine langatmige Erklärung fürs Zuspätkommen erspart, auch nicht Fragen wie die, ob man einem Krebskranken die Wahrheit sagen soll. Was ich meine, ist Wahrheit eben im Sinne von Erkenntnis, einer Erkenntnis, der man sich stellen muss.

Ein Aspekt dieser Verpflichtung zur Wahrheit sind die eigenen Überzeugungen. Ich will das am Beispiel der Politik zeigen, weil da die Konsequenzen schwerwiegender sind als anderswo. Wir tendieren wohl alle dazu, nur oder primär das zur Kenntnis zu nehmen, was der eigenen Überzeugung entspricht. Wer konservativ eingestellt ist, liest lieber die Frankfurter Allgemeine, wer weiter links steht, lieber die Frankfurter Rundschau. Ist das Unrecht? Wer hat schon die Zeit, zwei Zeitungen zu lesen? Zeit, die dann für andere Verpflichtungen fehlt. Es ist etwas, worüber wir uns kaum Gedanken machen - und es kann verheerende Folgen haben.

Ich lese gerade einen autobiographischen Bericht eines jungen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Er war durch und durch idealistisch, hielt zwar die Rassenideologie für Unsinn, begeisterte sich aber für die Idee der Volksgemeinschaft und der Opferbereitschaft ebenso wie für den Gedanken, durch ein deutsches Großreich Europa den Frieden und eine neue, bessere Ordnung zu bringen - ohne sich zu fragen, ob denn die Mehrheit derer, die in dieses Großreich eingegliedert werden sollten, diese neue Ordnung überhaupt wollten, und ob Friede nicht auf eine bessere Art zu erreichen sei als durch einen verheerenden Krieg. Er war vom besten Willen erfüllt - und dieser gute Wille förderte letztlich einen entsetzlichen Zweck.

Wir sind gewohnt, gerade in der religiösen Betrachtungsweise den guten Willen - anders ausgedrückt: die Liebe - allein zum Maßstab zu machen. Ich möchte an dem Beispiel zeigen, dass wir auch eine Verantwortung haben für das, was aus unserem guten Willen wird - und das heißt: eine Pflicht zur Erkenntnis.

Das Beispiel zeigt noch etwas anderes: der Autor war damals 19-22 Jahre alt, vom Notabitur an die Front gekommen. Ihm einen Vorwurf zu machen, wäre Anmaßung. Er konnte nicht wissen. Der Horizont der möglichen Erkenntnis ist für jeden ein anderer, bedingt durch die Umstände, durch die eigene Kritikfähigkeit. Aber wir sollten uns bewusst bleiben, wie leicht es ist, etwas nicht zu wissen, was man nicht wissen will.

Mindestens ebenso sehr wie für politische gilt das für religiöse Überzeugung. Die Kreuzritter wie auch die Inquisitoren waren in ihrer Mehrzahl wohl ehrlich überzeugt, im Dienste Gottes und des Glaubens zu handeln. Trotzdem bewirkten sie nicht nur unendliches Elend, sondern auch eine Perversion der christlichen Lehre. Wo liegt ihre Schuld? Sie hatten Argumente und Rechtfertigungen für ihr Handeln: Schutz und Ausbreitung des Glaubens. Aber sie haben die Frage nicht gestellt, die man in ihrer Situation wohl hätte stellen müssen: was ihr Tun, was Krieg und Unterdrückung, was Folter und Glaubenszwang noch zu tun hatten und haben konnten mit Lehre und Leben dessen, der gesagt hatte: »Liebet eure Feinde!«

Sicher, er hat gesagt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Gottes Vergebung denken wir uns umfassend, gültig für alle und vielleicht gerade für die, die guten Willens sind - auch dann, wenn es ein falscher guter Wille ist. Aber derselbe Jesus, der diese Vergebung verkündet hat, hat gleichzeitig einen unermüdlichen Kampf gegen die Pharisäer geführt - oder zumindest gegen eine bestimmte Gruppe unter ihnen -‚ weil er ihr Tun als heuchlerisch empfand: sie suchten den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen und fragten nicht nach dem Sinn des Gesetzes.

Dabei waren Pharisäer wie jener, der sich über den Zöllner erhaben fühlte, gewiss »guten Willens«: überzeugt, richtig zu leben und zu handeln. Das heißt: der gute Wille allein genügt nicht, es gehört auch dazu, die Motive und die Folgen dieses guten Willens zu hinterfragen, ihn zu überprüfen an den Grundsätzen, denen wir vorgeben zu folgen, an den Realitäten, die wir damit erzeugen. Wir sind, im Rahmen unserer Möglichkeiten, aufgerufen zu wissen, was wir tun.

Schon deshalb, weil mir scheint, dass das meiste Elend angerichtet wird nicht von denen, die Böses wollen, sondern von denen, die - subjektiv guten Willens - ihre Ziele als die Ziele Gottes setzen und geistig zu bequem, zu eitel, zu engstirnig sind, sich und ihr Tun zu messen an den Worten und Zielen Jesu, an der Realität, die sie bewirken.

Noch ein letzter Aspekt zur Frage der Erkenntnis. Wir sind aufgerufen zur Erkenntnis - das kann auch heißen: aufgerufen dazu, unsere Fähigkeit zur Erkenntnis auszubilden, wo immer wir können, durch Lernen, durch neue Erfahrungen. Sicher gilt das nicht absolut, denn beides - konkret und banal: ein Studium, eine Reise, ein Versuch in einer anderen als unserer üblichen Tätigkeit und Umgebung - geht sehr oft auf Kosten anderer.

Nur: wenn wir leugnen, dass auch dieses Erweitern unserer Erkenntnis und unserer Fähigkeiten ein eigenständiger Wert sein kann, und nur die Nächstenliebe zum alleinigen Maßstab machen, dann bleibt als Konsequenz der Weg, den zum Teil die Kirche des Mittel­alters gegangen ist: Bücher zu verbrennen, weil sie nur unnützes Wissen lehren. Dann darf ich mit gutem Gewissen in kein Theater gehen, weil das Geld dafür einem Bedürftigen helfen könnte, dann darf ich keine Reise machen, wenn sich meine Mutter solange Sorgen macht, dann darf ich keine Briefmarken sammeln, weil das ein absolut egoistisches Vergnügen ist, und keinen Hund halten, weil der mich Zeit kostet, die ich anderen Menschen widmen könnte, und obendrein noch die einen durch Bellen stört und den anderen ihre sauberen Gehwege verschmutzt. Und das kann kaum im Sinne eines Gottes sein, der uns mit unendlich vielen Fähigkeiten ausgestattet hat.

Mohammed soll gesagt haben, jede neue Erkenntnis sei ein Gebet zu Allah - und der Islam hat auf der Grundlage dieses Satzes und dieser Haltung drei Jahrhunderte einer geistigen Blüte erlebt, die alles in den Schatten stellte, was es jemals - im 9.-12. Jahrhundert - im christ­lichen Abendland gegeben hatte. Mir scheint, dass diese Haltung dem Wesen Gottes sehr viel näher kam als die gleichzeitig im Christentum praktizierte Verengung des Gottesbildes.

Gott ist Fülle

Und damit komme ich zum dritten Aspekt des Gottesbildes, den ich heute hervorheben möchte - Gott ist Fülle und Vielfalt.

Das steht so nicht in der Bibel - zumindest nicht wörtlich; indirekt sind die Psalmen voll da­von. Dafür ist seine Schöpfung ein einziger, unendlicher Beweis, der uns täglich vor Augen steht. Jeder blühende Kirschbaum ist ein Beispiel - eines von Tausenden - verschwenderischer Fülle. Wir wären kaum imstande, die Blüten auch nur eines einzigen zu zählen. Nur ein Zehn­tel davon bringt Frucht, mehr könnte der Baum gar nicht verkraften. Trotzdem bringt er diese Überfülle von Blüten hervor: Rückversicherung gegen Frost, Regen, sonstige Schäden, ge­wiss, aber vielleicht täten es dafür ja auch ein paar weniger. Es scheint zumindest so, als ob hier eine unbändige Schöpfungskraft am Werk sei, eine Lust am Hervorbringen von Fülle und von Schönheit.

Das ist unbiologisch gedacht. Aber selbst der Biologe Portmann vertritt die These, dass die unendliche Fülle verschiedener Formen, die die verschiedenen Tierarten kennzeichnen, sich nicht allein durch den Selektionsdruck erklären lasse, dass sie viel reicher - und viel schöner - sei, als für die Erhaltung der einzelnen Art erforderlich: die Zeichnung der Tiefseefische und die Flügel der Schmetterlinge, das Gefieder der Vögel und vieles andere. Er meint, dass in der Natur ein Formprinzip am Werke sei, eine ursprüngliche Tendenz zur Ausgestaltung vielfältiger Formen, ein Überschuss über das rein Zweckmäßige hinaus.

Warum sonst gibt es Hunderte von Arten von Kolibris und Tausende von Urwaldpflanzen, die der Mensch noch nicht einmal alle registriert hat? Wenn man im Frühjahr einen Waldrand betrachtet, so weist er eine solche Vielzahl von Grün-Schattierungen auf, dass die Sprache keine Worte hat, sie zu beschreiben. Sie verschwinden später wieder, gleichen sich an, sind also wohl für die Bäume nicht Iebenswichtig. Trotzdem sind sie da und machen das Bild lebendig, abwechslungsreich, unglaublich schön.

»Glory be to God for dappled things« beginnt ein Gedicht von Gerald Manley Hopkins: Lob sei Gott für die gesprenkelten Dinge - und es folgt eine Aufzählung von Beispielen, von ge­sprenkelter, schillernder, changierender Schönheit. Ehre sei Gott für die Fülle und Schönheit der Erscheinungsformen!

Man kann heute, im Zusammenhang mit angeblich übertriebenem Umweltschutz, manchmal die Frage hören, ob es eigentlich so schlimm sei, wenn einige Pflanzen- und Tierarten ausstür­ben, die sowieso kaum ein Mensch kenne. Ganz abgesehen davon, dass das Aussterben empfindlicher oder spezialisierter Arten ein Gradmesser für eine Gefährdung ist, die bald auch andere, »nützliche« Arten erreichen kann, dass zur Züchtung und Erhaltung unserer Nutz­pflanzen immer wieder das Einkreuzen von Wildarten erforderlich ist, dass wir also die Reser­ven für unsere künftigen Lebensgrundlagen dezimieren, - abgesehen von all diesen Nützlich­keitserwägungen: wenn wir die Vielseitigkeit der Schöpfung zerstören, zerstören wir etwas, was zu ihrem Wesen gehört, etwas, wovon wir noch gar nicht wissen können, welche Ver­armung nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht es für uns bedeuten würde.

Denn wir schöpfen immer wieder Freude und Kraft aus dieser Vielfalt -‚ vielleicht leben wir davon. Am deutlichsten wird das vielleicht an dem Wesen, das auch in dieser Hinsicht das Wunder aller Wunder ist: von den mehreren Milliarden Menschen, die heute leben, ist jeder einzigartig, andersartig nicht nur im Aussehen, sondern in seinem Fühlen und Denken, in seinen Interessen und Fähigkeiten. Und ich möchte behaupten, es ist das etwas vom Wesent­lichsten, was das Leben lebenswert macht. Man versuche sich vorzustellen, die Menschen sähen alle gleich aus: welch ein Alptraum der Monotonie.

Wenn wir einen Menschen lieben, dann tun wir das durchaus nicht nur um seiner schät­zenswerten Eigenschaften willen. Dann gehören dazu sein Aussehen und seine Art zu lachen, sein Humor oder seine Nüchternheit, sein Charme oder seine Ausdrucksweise, seine Art sich zu bewegen, seine Zärtlichkeit oder seine Interessen - ich zähle Beispiele auf; schon einen einzigen Menschen in Worten zu erfassen, ist unmöglich. Und welch ein Wunder auch, dass andere Menschen Fähigkeiten haben, die die meinen ergänzen, aber auch, dass andere sich leidenschaftlich für Dinge interessieren, die mir gleichgültig sind - so dass in dieser unüber­schaubaren Vielfalt sich so vieles ergänzt und zusammenfügt.

Und schließlich und endlich gehört zum Reichtum der Schöpfung auch das, was der Mensch selbst - selbst?! Gott gab uns zumindest die Fähigkeit dazu - hervorgebracht hat: Kul­tur und Kunst und Wissenschaft und die vielverschriene Technik, das Flugzeug und die Mat­thäus-Passion, die Alhambra und die »Kritik der Vernunft«, den Faust und die Mona Lisa. Auch das ist inzwischen eine Welt unendlichen Reichtums geworden, ohne die unser Leben um vieles ärmer und öder wäre. Mancher von uns erlebt vielleicht seine größten Freuden in der Begegnung mit diesen Menschenwerken, erfährt vielleicht sogar durch sie - ich denke an die h-Moll-Messe oder an das Freiburger Münster oder an die Choräle - die Nähe Gottes unmittel­barer als anderswo.

Das ist kein Widerspruch. Wir sind Gottes Geschöpfe, und auch unsere Werke sind ein Aus­druck seines Reichtums. Er hat uns zu Mit-Schöpfern in seiner Welt gemacht.

Wenn wir diese Seite Gottes uns bewusst machen, so können wir nicht anders als ihm im­mer von neuem dankbar sein für die Fülle, mit der wir beglückt werden, und auch für die Fä­higkeit des Mitgestaltens, die er uns gegeben hat. Das schließt die Verpflichtung ein, diese Fülle zu bewahren und, wo wir können, sie zu erweitern. Es kann uns lehren, diese Fülle be­wusst zu würdigen - auch dort, wo sie, z. B. in den Eigenschaften anderer, uns vielleicht manchmal stört. Und schließlich auch die Verpflichtung, in unserem kleinen Wirkungskreis ebenso großzügig zu sein: andern die Freiheit zu gewähren, die er uns gewährt, die Freiheit, in der Individualität und Fülle gedeihen können.

Das ist immer ein Risiko, denn die Freiheit, zu schaffen, ist immer auch die Freiheit, zu zer­stören. Gott ist dieses Risiko mit uns eingegangen.

Dr. Brigitte Hoffmann in der Morgenfeier am 19. Mai 1985, abgedruckt in der »Warte des Tempels« Nr. 12/1985

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Suchen und selig machen, was verloren ist

(Lukas 19,10)

Die Geschichte vom Zöllner Zachäus, der, um trotz seiner kleinen Statur in der Menschenmen­ge Jesus sehen zu können, auf einen Baum steigt und der dann von Jesus gesehen und zu seinem Gastgeber erkoren wird, ist gut bekannt.

Als Zöllner ist Zachäus einer, der von der jüdischen Bevölkerung als Kollaborateur der Rö­mer angesehen wird, und weil sich diese Geldeintreiber - neben dem Eintreiben von Steuern und Zöllen bei der Bevölkerung - meist auch noch selbst bereicherten, waren sie bei den Men­schen verachtet und gehasst. Was den Zöllner Zachäus in unserer Geschichte dazu veran­lasst, unbedingt Jesus sehen zu wollen, wird nicht erzählt, aber eine direkte Begegnung hat er da oben auf dem Baum wohl nicht gesucht; vielleicht war es reine Neugier oder Sensations­lust. Aber als Jesus dann genau bei ihm einkehren möchte, nahm er ihn auf mit Freuden. Das verursacht Unmut unter den Anwesenden, denn dass Jesus ausgerechnet bei einem Sünder einkehrt, empört sie.

Was im Hause von Zachäus geschehen ist, wird auch nicht berichtet, aber das Ergebnis von Jesu Besuch ist, dass Zachäus danach die Hälfte seines Besitzes den Armen geben und die, die er betrogen hat, vierfach entschädigen will. Darauf erwidert Jesus: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Denn der Menschensohn ist gekom­men, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Die Erzählung ist, wie so oft bei Jesus, vielschichtig. Ich glaube nicht, dass Jesus Zachäus in irgendeiner Weise beschworen oder ‚verzaubert‘ hat, so dass Zachäus plötzlich ein ganz anderer wurde - dann könnten wir Jesus in seinem Tun und Verhalten nicht nachfolgen. Viel eher wurde in Zachäus das Umdenken durch Jesu Umgang mit ihm bewirkt: er nahm ihn trotz seines Fehlverhaltens als Mensch an, erwies ihm sogar die besondere Ehre, bei ihm zu Gast zu sein. Wenn man von der ganzen Gesellschaft geächtet wird, ein Ausgestoßener ist und deshalb ein ganz anderes Verhalten gewohnt ist, dann ist eine solche Behandlung Balsam für die Seele. Das kann die Augen öffnen und ermöglichen, dass man seine Fehler einsieht und wieder gut machen möchte. Das ist das Heil, das diesem Hause widerfahren war, auch wenn Jesus - zeitbedingt oder zum Verständnis der Anwesenden - darauf abhebt, dass Zachäus ja zur Gruppe dazugehört, ein Sohn Abrahams ist.

Darin können wir Jesus folgen: unsere Mitmenschen wahrnehmen und sie so behandeln, dass es ihnen gut tut und sie sich wertgeschätzt fühlen.

Karin Klingbeil

BUCHVORSTELLUNG

»Hört auf die Wissenschaft, bevor es zu spät ist!«

Greta Thunberg: Das Klima-Buch, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 512 Seiten, 36,00 Eu­ro, ISBN 978-3-10-397189-7.

Auf knapp 500 Seiten hat Greta Thunberg mit Unterstützung von über 100 weltweit führenden Experten und Wissenschaftlern die bisher vielleicht umfassendste populärwissenschaftliche Sammlung wichtiger Klimafakten aus Geophysik, Mathematik, Ozeanographie, Meteorologie, Ökonomie, Gesundheit, Psychologie und Philosophie zusammengestellt.

Die Rolle der Wissenschaft bei der Vielzahl von vorgestellten Fachgebieten und Einzeler­kenntnissen wird auch für den Laien deutlich. Es geht nicht nur um ganzheitliche Wissensver­mittlung - das Anliegen ist vielmehr, den Bezug zu unserem Leben und dem unserer Nach­kommen herzustellen, so dass wir uns als Beteiligte und Mitgestalter unserer Umwelt verste­hen.

Das Klimabuch informiert als ein Kompendium unseres Wissens zur Klimakrise mit allen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Aspekten u.a. über den mensch­lichen Einfluss auf die Evolution, über die Treiber des Klimawandels, über den Jetstream, über Eisschilde, boreale Wälder und terrestrische Biodiversität, aber auch über die besorgniserre­genden Auswirkungen höherer Temperaturen auf den Nährstoffgehalt der Grundnahrungsmit­tel und die Risiken für die menschliche Gesundheit. Es gibt hunderte klimasensible Gesund­heitsgefahren, wie z.B. die Überforderung des Körpers durch lang andauernde Hitzewellen. Dass der Mensch sich irgendwann an den Hitzestress gewöhnt, scheint ausgeschlossen zu sein.

Wir haben bereits 40 Jahre an Kohlendioxidemissionen zu kompensieren. Es ist alles da oben in der Atmosphäre und wird wahrscheinlich viele Jahrhunderte dort bleiben. Die Erwär­mung der Erde wird über Land und in den Polargebieten schneller erfolgen. Wenn wir die Emissionen augenblicklich auf null reduzieren würden, würden sich trotzdem die Gletscher über Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurückziehen und die Ozeane würden sich weiter erwär­men und ansteigen.

Die Erklärungen zu den Kipppunkten und Rückkopplungsschleifen von Johan Rockström und von Stefan Rahmstorf machen fassungslos. So erfolgt die Überschreitung der Kipppunkte nicht unbedingt abrupt. Ihre Auswirkungen zeigen sich möglicherweise erst nach Hunderten oder gar Tausenden Jahren. Ein Beispiel ist der Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Abschmelzens des Inlandeises. »Dieses Abschmelzen wird Jahrhunderte oder Jahrtausende anhalten und der Meeresspiegel wird auch danach noch tausende Jahre auf hohem Niveau bleiben. Schon durch eine Erhöhung der Durchschnittstemperatur um 1,5 verdammen wir, wie der IPCC (Weltklimarat) gezeigt hat, zukünftige Generationen zu einem mindestens 2 m höheren Meeresspiegel, auch wenn dieses Niveau erst in 2000 Jahren erreicht werden dürfte. Daraus ergibt sich ein ganz neuer ethischer Zeithorizont.«

Stefan Rahmstorf schreibt: »Wir haben genügend Eis auf der Erde, um den Meeresspiegel um 65 m steigen zu lassen... Beim Anstieg des Meeresspiegels wird es nicht mehr lange um Millimeter, Zentimeter oder Dezimeter gehen. Selbst wenn die Veränderung Zeit braucht, muss uns klar sein, dass es nichts ist, an das wir uns anpassen könnten.«

Ein destabilisiertes Klima führt zu einer destabilisierten Welt. Die Klimakrise wird die Kon­flikte und gesellschaftlichen Probleme verschärfen. »In dem Maße, wie die Lage schlimmer wird - und das wird sie - werden wir erleben, dass immer mehr autoritäre Politiker auftreten und als Reaktion auf immer komplexere Probleme einfache Lösungen und Sündenböcke an­bieten.« (Greta Thunberg)

Die Aufgabe scheint geradezu unmöglich: eine Zukunft für das Leben auf unserem Planeten zu sichern. So schnell und umfassend zu handeln wie noch nie zuvor.

Was zu tun ist: »Anfangen, die Krise als Krise zu behandeln. Sich der Notlage stellen.« Und ganz sicher: «Sich weiterbilden... Denn warum sollten wir unsere gesamten Gesellschaften transformieren, wenn wir nicht begreifen, dass wir es tun müssen?« Greta Thunberg: »Schie­ben wir es auf, wird die Erde sich stärker erwärmen und die Menschen werden in Angst verfallen.«

Greta Thunberg bringt konkrete Vorschläge zum Klimaschutz, u.a.:

alle möglichen Kohlenstoffsenken maximieren.

Ökozid als Straftat einstufen.

Ab sofort sollten jährlich verbindliche Kohlenstoffbudgets aufgrund der besten verfügba­ren wissenschaftlichen Erkenntnisse und des IPCC-Budgets festgelegt werden, das uns zumindest eine 66 - prozentig Chance gibt, die Erderwärmung unter 1,5 Grad C zu hal­ten.

Renaturieren. »Mangroven, Wälder, Feuchtgebiete, Moore, Meeresböden, Flüsse und Grasland haben ein enormes Potential, Kohlenstoff zu binden, weitaus mehr als jede heu­tige technologische Alternative«.

»Wir brauchen individuelle und systematische Veränderungen. Die Bewältigung der Klima­krise kann man weder dem Einzelnen noch den Märkten überlassen.« (Greta Thunberg) Greta Thunberg beschreibt die Klimakrise auch als ein Versagen der Medien.

»In unserem gegenwärtigen System haben private Unternehmen einseitige und autoritäre Kontrolle über weite Bereiche des öffentlichen Lebens«.

Wie aber »sollen wir dieses unbequeme Thema ansprechen, ohne Menschen aus der Ruhe zu bringen? (...)«

Auf der Rückseite des Buches kann man lesen: »Dies ist die größte Geschichte der Welt. Über sie muss gesprochen werden, soweit unsere Stimmen tragen und weit darüber hinaus. Sie muss erzählt werden: in Büchern und Artikeln, in Filmen und Songs, am Frühstückstisch, beim Mittagessen und bei Familientreffen, im Aufzug, an Bushaltestellen und in Geschäften auf dem Land. In den Schulen, Vorstandsetagen und auf den Märkten. An Flughäfen, in Fit­nesscentern und Bars... Auf Instagram, TikTok und in den Abendnachrichten (...). Es ist Zeit, dass wir diese Geschichte erzählen und vielleicht auch ihren Ausgang verändern.« (Greta Thunberg)

Erinnert dieser Aufruf Greta Thunbergs nicht an die Anfänge des Christentums und an die Geschichte von Jesus, den Nazarener? Wie würde Jesu diese größte Geschichte der Welt heute erzählen? Welche griffigen Gleichnisse über die Nächstenliebe würde er heute, in die­sen kritischen Jahren, in denen das Schlimmste noch verhindert werden kann, überall im Lande verbreiten? Und würden die Menschen ihm zuhören wollen?

»Nach einer weltweiten Umfrage der G7 sind drei Viertel der Menschen zutiefst besorgt (...). Wenn die Mehrheit sich den Klimaschutzbemühungen anschließt, werden die Politiker (...) fol­gen, weil sie dann die Wahlen gewinnen statt zu verlieren, wenn sie eine ehrgeizige Klima­schutzpolitik verfolgen.« (Per Espen Stones)

»Es gibt nur Hoffnung, wenn wir die Wahrheit sagen. Hoffnung besteht in all den Erkenntnis­sen, die die Wissenschaft uns geliefert hat, um danach zu handeln.«(Greta Thunberg)

»Wir müssen das Erbe der Konsumgesellschaft hinter uns lassen, statt auf einen System­wechsel zur warten.« (Kate Raworth) Unser Wohlbefinden wird gefördert, wenn wir die leben­dige Welt wahrnehmen, neue Fähigkeiten erlernen und für andere Menschen da sind.

Prof. Robin Wall Kimmerer sieht eine Kombination aus Umweltwissenschaft und Philosophie als zwingend an. »Ein neues Narrativ für die Beziehung zwischen Menschen und Orten sollte fragen: Was verlangt die Erde von uns? Spiritualität ist vielleicht unsere wichtigste Anpassung«. Dies könnte bedeuten, sich als »Mitglied des heiligen Lebensgeflechts« zu fühlen und »dem Ruf der Liebe zu folgen«. Prof. Kimmerer schließt mit einer eindringlichen Frage: »Horcht: Welcher Ruf geht von der Liebe an euch?«

Magdalene Schönhoff, der Beitrag wurde in »Freies Christentum« Nr. 2-2023 veröffentlicht

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