Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 179/1 - Januar 2023

 

 

Zum Neuen Jahr - Katharina Schäfer

Frieden - nicht nur zur Weihnachtszeit - Karin Klingbeil

Du bist ein Gott, der mich sieht! - Jörg Klingbeil

Von Wahrheit und Religion - Brigitte Hoffmann

Liebevoll leben - Irene Bouzo

Filmschätze in Australien aufgetaucht - Jörg Klingbeil

 

Zum neuen Jahr (Quelle: Pixabay)

Frieden - nicht nur zur Weihnachtszeit

Was meinen wir, wenn wir uns Frieden für das neue Jahr wünschen? Der engere Wortsinn des Begriffs bedeutet die Abwesenheit von Gewalt und Krieg - und ganz konkret würden wir uns ganz sicher alle wünschen, dass der Krieg in der Ukraine so bald wie möglich ein Ende findet. Und das nicht nur aus Angst, dass er unkontrolliert übergreifen und auch Deutschland einbe­ziehen könnte, sondern damit das Töten und Sterben - auf beiden Seiten - aufhören und es wie­der ein friedlicheres Miteinander geben möge.

Wenn wir uns in unserem Lebensumfeld Frieden im neuen Jahr wünschen, dann sicherlich auch, dass hier bei uns weiterhin die Bedingungen Bestand haben mögen, die den Frieden in unserem Land sichern - auch bei uns leben noch genügend Menschen, die den Krieg als Kin­der am eigenen Leib erlebt haben und durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine zutiefst verunsichert und verängstigt worden sind. Die schrecklichen Nachrichten von grausamen Kriegsumständen rufen unser tiefes Mitgefühl hervor und den Wunsch, dass so etwas bei uns nie mehr geschehen möge.

Der Friedenswunsch hat aber auch eine religiöse Dimension - im Neuen Testament ist Frie­de das Hauptthema. In der Bergpredigt geht es um die, die Frieden stiften, Jesu ganzes Leben ist Ausdruck des Friedenswunsches bis hin zu seiner Aufforderung zur Feindesliebe und zu seiner Nachfolge. Wenn Jesus jedem den Friedensgruß ‚Friede sei mit dir‘ entbietet, greift er damit auf das jüdische Verständnis des Wortes Shalom zurück, das ursprünglich Vervollstän­digung bedeutet und dann als das umfassende Wohlergehen in allen Lebensbereichen - kör­perlich, psychisch, sozial und geistlich - verstanden wird. Wesentlich dabei ist aber, dass es nicht nur um den Einzelnen geht, denn nur die heile Personengemeinschaft kann Ebenbild Gottes genannt werden - das ist die prophetische Friedensvorstellung, die unverbrüchliche Hoffnung auf ein gerechtes Miteinander der Menschen und alle Feindschaft überwindendes Miteinander der ganzen Schöpfung - Jesus nennt es das Reich Gottes. So ist mit diesem Sha­lom untrennbar auch das Vertrauen auf Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, verbunden. Die Gottesbeziehung verhilft zu einem dankbaren Blick in die Vergangenheit, schenkt Lebens­zufriedenheit in der Gegenwart und lässt den Menschen hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

Frieden mit sich selbst finden

Um mit andern friedlich zusammenleben zu können, muss jeder erst einmal Frieden mit sich selbst, seinen inneren Frieden finden. Lebt ein Mensch in Frieden mit sich selbst, zeigt sich das in innerer Ruhe, in Zufriedenheit und Gelassenheit. Das aber sind Gefühle, die sich nur einstellen, wenn wir mit uns und mit unserem Umfeld im Reinen sind. Doch oft genug ist das nicht der Fall, weil uns Gedanken oder Sorgen umtreiben: wer mit Krankheit oder finanzieller Not zu kämpfen hat, hat meist keine Möglichkeit, diesen Sorgen auszuweichen. Streit mit na­hestehenden Menschen, beispielsweise über bestimmte Themen - Corona und die Begleiter­scheinungen sind Beispiele, ebenso die unterschiedliche Sichtweise auf den Ukraine-Krieg -, ist manchmal nur schwer auszuräumen und belastet nicht nur die zwischenmenschliche Bezie­hung, sondern auch einen selbst. Angst vor der Zukunft oder vor dem Urteil anderer Men­schen, das Gefühl, einem anderen Menschen gegenüber schuldig geworden oder auch selbst verletzt worden zu sein - all das kann in uns eine Unruhe hervorrufen, die uns keinen Frieden finden lässt. Oft gehört auch noch das Gefühl, nicht zu genügen, dazu oder abwertende Beur­teilungen, die Menschen in der Kindheit erlebt haben und von denen sie sich bis ins Erwachse­nenalter nicht haben befreien können.

Um mit sich in Frieden zu kommen, gibt es die unterschiedlichsten Techniken: Entspan­nungsübungen, Meditation, Musik, Sport oder Ablenkung anderer Art. Das Internet ist voll von Vorschlägen und Angeboten. Allerdings sind das nur unterstützende Verhaltensweisen, die aber nicht zu dauerhaftem Erfolg führen. Die Psychologie gibt immer wieder den Hinweis, dass wir Menschen uns in einer weiteren Dimension verorten müssen, die größer ist als wir selbst. Das kann der Kontakt zu anderen Menschen sein, neue Werte oder eine Horizonterweiterung als Gegenpol zu den bisherigen Erfahrungen.

Oder auch, und ganz wesentlich, der Glaube, der uns durch Jesus zusagt, dass wir so an­genommen und geliebt sind, wie wir sind - in unseren Unsicherheiten, mit unserer Unvollkom­menheit und Unzulänglichkeit. Wir können sicher sein: wenn wir das Unsere dazu tun, uns bemühen, dann können wir immer neu beginnen. Dann ziehen nicht andere Mächte in unser Herz ein, sondern innerer Friede.

Frieden mit anderen halten

Nur, wenn wir im Frieden mit uns selber sind, können wir ihn auch nach außen tragen und mit anderen Frieden halten. Denn nur, wenn wir verständnisvoll mit uns selber umgehen und uns so akzeptieren, wie wir sind, können wir anderen Menschen respektvoll begegnen. Eine Vor­aussetzung für den Frieden ist der Respekt vor dem Anderssein und vor der Vielfältigkeit des Lebens.

Eine weitere wichtige Voraussetzung ist Vergebung. Wenn wir uns von einem Menschen verletzt fühlen und uns das umtreibt, sollten wir zunächst versuchen, die Angelegenheit im Ge­spräch zu klären. Aber wir können auch versuchen, nicht zuzulassen, dass das Verhalten an­derer unseren inneren Frieden stört. Vergeben bedeutet, das Vergangene loszulassen, ihm kein Gewicht beizumessen. Das verändert nicht nur unser Verhalten anderen gegenüber, son­dern auch mir selbst gegenüber, denn es schenkt innere Ruhe.

Wenn wir ‚ja‘ sagen können zum Leben, wie es gerade in allen seinen Facetten ist, bauen wir ein Vertrauen auf, das uns auch durch Widrigkeiten trägt.

Karin Klingbeil

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Du bist ein Gott, der mich sieht! (Genesis 16,13)

Bei der Jahreslosung für das Jahr 2023 handelt es sich um einen Ausspruch von Hagar, einer Magd von Abram, wie er damals noch hieß. Seine Ehefrau Sarai, die spätere Sarah, kann keine Kinder bekommen. Sie bittet deshalb ihren Gatten, mit Hagar ein Kind zu zeugen. Dieser Ausweg war damals gar nicht so ungewöhnlich. Hagar wird tatsächlich schwanger, aber zwi­schen ihr und ihrer Herrin Sarai kommt es zum Konflikt. Hagar flieht in die Wüste, schwanger und schutzlos. Aber an einer Wasserquelle macht ihr ein Engel des Herrn wieder Mut. Er nennt sie beim Namen, fragt sie nach dem Woher und Wohin und weist sie an, ihrem Sohn später den Namen Ismael (wörtlich: »Gott hat erhört«) zu geben, weil Gott sie in ihrem Elend erhört ha­be. Hagar, die in der Begegnung Gott selbst wahrnimmt, nennt daraufhin Gott denjenigen, der sie sieht.

Manche Bibelausgaben geben für Interpretationen mehr Spielraum als die Luther-Bibel, die der Jahreslosung zugrundeliegt: »Du bist der Gott, der mich anschaut« heißt es etwa in der Guten Nachricht; »Gott sieht nach mir« lautet die Stelle in der Basis-Bibel. Diese Übersetzun­gen lassen erahnen, dass hier mehr gemeint sein könnte als die schlichte optische Wahrneh­mung, dass es nämlich um Zuwendung und Fürsorge geht. Gott hat Hagar in ihrem Elend wahrgenommen und stärkt sie für ihren weiteren Lebensweg; sie weiß nun, dass Gott sie künf­tig begleiten wird

Theologen weisen darauf hin, dass Hagar die erste Frau in der Bibel ist, die eine rettende Gottesbeziehung erfährt, und dass ihr ähnliche Verheißungen wie dem großen Stammvater Abraham (wörtlich: »Vater vieler Völker«), dem Vater Ismaels und später Isaaks, gemacht wer­den. Da Ismael als der Stammvater der (muslimischen) Araber angesehen wird, während sich die Juden von Isaak ableiten, könnte die Geschichte auch für den interreligiösen, wenn nicht sogar für den politischen Dialog im Nahen Osten Bedeutung entfalten, wenn man sich nur die gemeinsamen religiösen Wurzeln bewusst machen würde.

Aber die Geschichte betrifft auch uns. Die Frage des Engels an Hagar (»Wo kommst du her und wo willst du hin?«) können wir auch auf uns beziehen, um uns über unseren Lebensweg Klarheit zu verschaffen. Auch wir wollen - wie andere - wahrgenommen und wertgeschätzt werden und sind dankbar für Zeichen der Bestätigung. Nicht zuletzt können wir uns in der von Jesus vermittelten Hoffnung, dass er uns annimmt, so wie wir sind, stets direkt an Gott wen­den.

Jörg Klingbeil

Von Wahrheit und Religion

Wenn man diese beiden Begriffe zusammen nennt, so denkt jeder zuerst an das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion, an die Auseinandersetzung zwischen beiden: hier die be­weisbaren Tatsachen, dort das geoffenbarte Wort Gottes. In dieser Form scheint mir die Frage überholt: kein ernstzunehmender Theologe behauptet heute mehr, dass die Aussagen der Bi­bel zu naturwissenschaftlichen Sachverhalten - Schöpfungsgeschichte, geozentrisches Welt­bild - wörtlich zu nehmen seien, und kein ernstzunehmender Naturwissenschaftler meint, dass mit der Erforschung des Weltraums die Existenz Gottes widerlegt sei.

Gerade die intensive Auseinandersetzung über diese Frage, die das 19. Jahrhundert erfüll­te, hat allmählich die Erkenntnis zum Allgemeingut werden lassen, dass es sich um zwei ver­schiedene Arten von Wahrheit handelt: die beweisbare und allgemeingültige der Naturwissen­schaft, die aber eben deshalb die letzten Fragen - nach dem Ursprung des Seins, nach Ziel und Ende, nach dem Sinn - offen lassen muss, weil sich hier nichts mehr beweisen lässt; und andrerseits die »Wahrheit« der Religion, die um eben diese Fragen kreist.

In den letzten Jahrzehnten gab es sogar immer wieder Aussagen von Naturwissenschaftlern - Heisenberg, Dithfurth -‚ die gerade von ihrer Wissenschaft her zu der Überzeugung gekom­men waren, dass die naturwissenschaftlichen Gesetze zur Erklärung der Wirklichkeit nicht ausreichten, die physikalischen nicht zur Erklärung der Bewegungen der Teilchen im Atom­kern, die biologischen nicht zur Erklärung der Vielgestaltigkeit der Evolution; sie schlossen da­raus, dass es noch eine gestaltende Kraft jenseits der Naturgesetze geben müsse. So positiv es ist, dass hier ein Brückenschlag von der einen zur anderen Wahrheit versucht wird - zwin­gend im Sinne von beweisbar sind diese Gedankengänge nicht. Sie zeigen, mit verstärktem Nachdruck, dass religiöse und wissenschaftliche Erkenntnis sich nicht zu widersprechen brau­chen. Aber mehr beweisen sie nicht. Religiöse Erkenntnis lässt sich nicht widerlegen - aber eben deshalb auch nicht beweisen.

Worauf beruht aber dann religiöse Wahrheit und Erkenntnis? Die sogenannten Offenba­rungsreligionen - Judentum, Christentum, Islam - berufen sich auf ihre heiligen Bücher, auf das Alte und Neue Testament und den Koran, als Offenbarung, als Wort Gottes. Aber zumindest die moderne christliche Theologie und, soweit mir bekannt, auch moderne Richtungen der bei­den andern Offenbarungsreligionen, räumen ein, dass auch diese Offenbarungen von Men­schen empfangen und aufgeschrieben wurden, modifiziert vom Weltbild und Weltverständnis der Vermittelnden, auch wenn diese sich subjektiv nur als Gottes Werkzeug fühlten. Und damit werden die heiligen Texte relativiert, der Interpretation ausgesetzt und der Interpretation bedürftig. Im gleichen Koran, der Gott als den Allerbarmenden versteht, stehen die für unser Gefühl unerhört harten Strafvorschriften für Diebe und Ehebrecherinnen, im gleichen Alten Testament Psalmworte wie »Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten« und das vielzitierte »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Wenn wir das eine für uns als verbindlich annehmen und das andere als zeitgebunden, für uns nicht mehr relevant, ablehnen, so interpretieren wir - nach welchem Maßstab?

Die Antwort kann nur heißen: nach dem unsrer eigenen inneren Überzeugung. Auch der im Christentum übliche Hinweis auf das Neue Testament, auf Jesus und seine Lehre als die Überwindung des Alten Testaments, hilft über das Problem nicht hinweg, denn - ganz abgese­hen davon, dass wir nicht mehr analysieren können, was Jesus wirklich gesagt hat und was ihm, sicher In bester Absicht, von seinen Anhängern in den Mund gelegt wurde -: auch Im Neuen Testament stehen, als Worte Jesu, Dinge, die sich eigentlich widersprechen: »Selig sind die Friedfertigen« neben »Ich habe nicht den Frieden in die Welt gebracht, sondern das Schwert«, die Drohung der Verdammnis für die Nicht-Bußfertigen neben der Berufung der Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen, neben dem Bericht vom leeren Grab, der die leibli­che Auferstehung suggeriert, der des Paulus, der eindeutig die geistliche meint, neben »ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« ein Wort wie »Was nennst du mich gut? Gut ist allein der Vater.«

Natürlich lassen sich Erklärungen finden, die die Gegensätze zum Ausgleich bringen, oder die, mit mehr oder weniger stichhaltigen Gründen, die eine Aussage verwerfen und die andere für gültig ansehen, und im Zweifelsfall hat jeder von uns seine eigene Antwort gefunden - nur eben: seine eigene. Auf den gleichen Jesus Christus beriefen sich die Inquisitoren und die Ket­zer, die von ihnen gerichtet wurden, die Kreuzfahrer und Martin Luther King mit seiner Lehre der Gewaltlosigkeit.

Wir geben den einen recht und den andern unrecht - aufgrund welchen Maßstabs? Weil das eine, z.B. die Lehre von der Barmherzigkeit Gottes, die auch die Menschen auf Barmherzigkeit verpflichtet, uns einleuchtet und überzeugt, und das andere, der Kampf für den Glauben mit dem Schwert, nicht. Im Englischen gibt es dafür das schöne Wort »selfevident« - eine Sache, die sich selbst beweist; die so offensichtlich einleuchtet, dass keine Erklärung mehr notwendig und auch keine mehr möglich ist.

Und entsprechend lautet auch die theoretische Erklärung religiöser Wahrheit: eine Wahrheit nicht des Verstandes, sondern der Seele, nicht rational zu beweisen, sondern zu erleben. Ge­gen diese Definition lässt sich kaum etwas einwenden: das persönliche Ergriffensein ist für den, dem es widerfährt, ein untrüglicher »Beweis«, und einen andern kann es nicht geben.

Aber dieses persönliche Erlebnis ist notwendig immer subjektiv. Es kann einzelne erfassen oder eine ganze Gruppe, aber es hat keine Beweiskraft für Außenstehende. Man kann es ak­zeptieren, weil man den Menschen vertraut, die es verkünden, aber man kann es nicht über­prüfen, nicht das Erlebnis als solches und nicht die Lehre, die seinen Inhalt ausmacht.

Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet das, dass es eine objektive Wahrheit im Bereich der Religion nicht geben kann. Dann gibt es aber auch keine Wertung und keinen Maßstab außer vielleicht der Intensität der Hingabe, und die wiederum lässt sich nicht messen. Die Konse­quenz daraus müsste heißen: dann ist eine religiöse Überzeugung so »gut«, so berechtigt wie die andere. Glauben wir das, akzeptieren wir das wirklich? Dass die Lehre eines Jones, der seine Anhänger in den befohlenen kollektiven Selbstmord führte, so gut sei wie unsere eigene christliche Überzeugung, der Fanatismus der Moslembrüder so gut wie der Glaube eines Franz von Assisi an die Liebe zu allen Geschöpfen Gottes?

Die Antwort erübrigt sich. Aber das »Nein«, das uns selbstverständlich, self-evident, er­scheint, ist unlogisch, wenn der Maßstab nur die persönliche Überzeugung ist oder die Intensi­tät dieser Überzeugung. Denn gerade die Anhänger fanatischer Sekten, die unserer rationalen Meinung nach das meiste Unheil stiften, sind im allgemeinen von einer Glaubensinbrunst getrieben, die man bei aufgeklärten Glaubensrichtungen kaum findet. Die Mordkommandos der Moslembrüder setzen ihr eigenes Leben freiwillig und freudig mit aufs Spiel - wer von uns wäre dazu bereit?

Also muss es doch einen anderen, einen »objektiven« Maßstab geben? Ich kann eine Ant­wort nur versuchen, im Bewusstsein, dass sie anfechtbar ist. Sie müsste ausgehen wohl von der Frage nach Sinn und Wesen von Religion. Gibt es eine Antwort, die für alle Religionen gültig ist? Warum gab und gibt es, soweit wir die Geschichte der Menschheit kennen, zwar Tausende von verschiedenen Religionen, aber kein Volk und keine Gruppe, die für längere Zeit ohne Religion auskamen? Das gilt auch für die Moderne: wo die Religion geleugnet oder unglaubhaft wurde, entstanden prompt Ersatzreligionen, weltliche Heilslehren, die in den Rang einer Religion erhoben wurden, wie der Marxismus oder zu gewissen Zeiten die Philosophie.

»Religio« heißt Bindung, Bindung an eine über dem Menschen stehende Macht, und dieses Eingebundensein in eine übergreifende Ordnung gibt dem Leben des Einzelnen einen Halt und einen Sinn. Offensichtlich gehört das Bedürfnis nach einem solchen übergreifenden Sinn, nach einer Bindung an etwas, das über ihm steht, zum Wesen des Menschen, so sehr, dass zwar der Einzelne, nicht aber eine Gruppe von Menschen über längere Zeit ohne eine solche Bindung auskommen kann.

Diese Definition umfasst alle Religionen, sie schließt auch die innerweltlichen Ersatzreligio­nen ein, nur dass in diesem Fall die übergreifende Ordnung keine göttliche ist. Denn der historische Materialismus für den Marxisten oder die Überzeugung von der Überlegenheit der arischen Rasse für den Nationalsozialisten sind im Grunde Glaubensinhalte; sie werden zwar rational, oder besser pseudorational begründet, aber Zweifel sind nicht erlaubt, und noch so stichhaltige Gegenargumente bringen die Gläubigen nicht von ihrer Überzeugung ab.

Unter diesem Gesichtspunkt sind tatsächlich alle Religionen und Ersatzreligionen gleich­wertig. Alle bieten, oder boten doch zu ihrer Zeit, den einzelnen die Möglichkeit, ihr vergängli­ches, vielleicht vergebliches Dasein als sinnvoll zu begreifen; die Möglichkeit auch, über sich selbst hinauszuwachsen. Denn so egoistisch und bequem Menschen sein können und im All­tag auch oft sind - der Glaube an eine Idee setzt in denen, die ihn haben, Kräfte frei, die sie für sich selbst niemals aufbringen würden. Ihre größten Taten - im Guten wie im Schlimmen - ha­ben die Menschen um ihres Glaubens willen vollbracht.

Nur eben: es können Taten zum Guten wie zum Schlimmen sein. Noch einmal: gibt es einen Maßstab dafür, ob man seine Seele an einen Glauben oder einen Aberglauben, an eine große Idee oder an einen Wahn verkauft?

Um noch einmal bei den verschiedenen Religionen anzusetzen: im allgemeinen werten wir, bei allem Bekenntnis zur Toleranz, durchaus: wir sind zwar, zumindest theoretisch, bereit, die großen Weltreligionen, neben dem Christentum, Islam und Judentum, Buddhismus und viel­leicht einige der großen philosophischen Systeme vom Platonismus bis zum Konfuzianismus, als gleichberechtigt anzuerkennen, nicht aber die polytheistischen oder animistischen Religio­nen afrikanischer Stämme oder historischer Völker. Warum, mit welchem Recht?

Die oberflächliche Antwort, dass diese Religionen im Widerspruch zur Realität stünden, ge­nügt nicht. Die Realität des christlichen Gottes lässt sich so wenig beweisen wie die Apollos oder Wotans. Und Wunder, die die Existenz oder das gegenwärtige Wirken des Gottes bewei­sen sollten, hat es in allen Religionen gegeben. Soweit sie nicht auf Zufall oder Täuschung be­ruhten, war es wohl der Glaube selbst, der sich seine Wunder geschaffen hat - Wunderheilun­gen so gut wie Errettung aus Not oder Verzweiflung.

Wonach also unterscheiden wir? Beruht die Wertung nur auf dem geistigen Hochmut derer, die sich für aufgeklärt halten? Mir scheint, dass wir dabei unbewusst einen Maßstab anlegen, der vielleicht tatsächlich zu einer sinnvollen Unterscheidung taugt. Vielleicht bedeutet »religio« nicht nur die Bindung an ein Göttliches, sondern zugleich die Bindung an die Menschen, sollte Religion nicht nur dem Leben des Einzelnen einen Sinn geben, sondern dem Zusammenleben aller, sollte sie zugleich ein Mittel sein, dieses Zusammenleben besser, menschlicher zu ge­stalten, das Leid, das Menschen einander antun, zu verringern. Gertrud Bäumer formuliert das in einem ihrer Romane so: »Mir scheint, dass die einzige Frage, die einst an jeden von uns gestellt wird, die ist, was er zur Heiligung der Welt beigetragen habe.«

Ich glaube, dass man diese Frage nicht nur an den Einzelnen stellen kann, sondern auch an die Religionen, und dass die Antwort ein Gegengewicht sein kann zur reinen Subjektivität der religiösen Erfahrung.

Ein Dämonenglaube, der primär auf Opfer und Beschwörung beruht, trägt wenig dazu bei, das Zusammenleben der Menschen zu »heiligen«. Schon bei den Ägyptern dagegen heißt es, dass der Totenrichter die Taten eines Menschen »neben ihn legt«, seine Seele wiegt. Und bei den Griechen waren die Götter zugleich die Hüter des Rechts, war ihre heiligste Stätte, das Orakel zu Delphi, nicht nur zuständig für das Vorhersagen der Zukunft, es war vor allem auch ein Ort, wo dem Schuldigen Buße auferlegt wurde, durch die er sich von seiner Schuld reini­gen konnte, d.h. es war ein Ort, wo Maßstäbe gesetzt wurden für ein sittliches Zusammenle­ben.

Bei Griechen und Ägyptern war diese Frage ein Aspekt unter anderen, in den Hochreligio­nen rückt sie ins Zentrum, im Christentum vielleicht noch mehr als in Islam oder Judentum - zumindest in der Lehre, in der Theorie.

Brigitte Hoffmann, in »Warte des Tempels« Dezember 1981, Fortsetzung folgt

Liebevoll leben

Wenn alles andere entfällt, wenn wir spirituelle Führung suchen, bleibt uns die Liebe. Das Gu­te in der ganzen Welt basiert auf Liebe. Religion und Spiritualität lehren im Grunde von lieben­der Güte und von Mitgefühl. Mensch sein heißt liebevoll leben. Eine liebevolle Haltung ist die Grundlage für das Leben in Gemeinschaften. Das Gemeinschaftsgefühl der Temple Society Australia (TSA) basiert auf unserer Vision, die Mitgefühl, Harmonie und Beziehung wertschätzt (Strategic Plan 2022).

Es ist menschlich, wütend zu sein, wenn man beleidigt wird. Wie reagieren wir auf Gewalt und Krieg an Orten wie dem Jemen und der Ukraine? Die Römerzeit vor dem Christentum war von Grausamkeit, Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit geprägt. Lorraine Parker betonte in ‚Die Welt wie Jesus sie meint‘ (The World according to Jesus), dass in den Lehren Jesu universelle Gerechtigkeit die einzige Grundlage für einen dauerhaften universellen Frieden darstellt. Jesus befürwortete Gewaltlosigkeit. Für diejenigen, die mit biblischen Geschichten vertraut sind, in­terpretierte Parker die Aussage »Glücklich sind die Sanftmütigen« für Menschen, die bewusst demütig und gewaltlos sind und dass sie durch ihre Liebe und ihren Mut die Erde erben kön­nen.

Indem Jesus uns lehrte, unsere »Feinde zu lieben«, lud er uns ein, darüber nachzudenken, auf unvernünftige Forderungen und persönliche Verletzungen ausschließlich mit Großzügigkeit zu reagieren und nicht einmal Vergeltung oder Wiedergutmachung anzustreben. Jesus regte an, damit den Kreislauf gewaltsamer Vergeltung zu durchbrechen und Wege des Friedens und der Versöhnung zu wählen.

Der interreligiöse Führer Sheikh Abdul Aziz Bukhari (1940-2010), Mitbegründer der Jerusa­lem Peacemakers, predigte Gewaltlosigkeit. Sein Elternhaus lag in der Via Dolorosa in der Alt­stadt von Jerusalem, die meine Mutter in ihrer Jugend so sehr liebte. Er erklärte: »Der Stär­kere ist derjenige, der Gewalt und Wut des anderen absorbieren und in Liebe und Verständnis umwandeln kann. Das ist nicht einfach; es ist eine Menge sehr schwerer Arbeit. Wir müssen Gewalt durch Liebe zum anderen transformieren und sie verändern, indem wir das Gute zei­gen.«

Je länger ich lebe, desto mehr sehe ich, dass es im Leben darum geht, neue Dinge zu ler­nen, zu lieben, zu verlieren und zu heilen; und so machen wir einfach weiter. Der beste Rat, den ich erhalten habe, war: Erforsche dein Herz; lerne dich kennen; und lerne dich selbst zu lieben. Ich spüre zunehmend, wie wichtig es ist, sich auf diese ultimative göttliche Quelle der Liebe in uns und um uns herum zu konzentrieren.

In den letzten Jahren wurde ich von den Schriften von Dr. Jason Fox, einem australischen Autor und führenden Motivationstrainer, inspiriert. In seinem ‚Museletter‘ zeigt er, wie ein Schlüsselwort jedes Jahr unsere persönliche Entscheidungsfindung anleitet. Ich war die »Tän­zerin«, die »Gärtnerin« und die »Navigatorin«. Dieses Jahr habe ich mich für die »Un­schul­dige« entschieden. Für jedes Schlüsselwort müssen wir zugrunde liegende Prinzipien entwickeln. Für mich ist die »Unschuldige«: optimistisch und kann nur das Gute im Menschen sehen; ist neugierig mit einem Gefühl des Staunens; genießt einfache Dinge; sucht Harmonie in der Welt; ihr liegt am Wohlergehen anderer Menschen und sie ist bestrebt, ihnen zu helfen; und ist leicht enttäuscht und leicht beeindruckt.

Mehr denn je, gerade in Zeiten von Pandemie und Klimaextremen, spüre ich die Auswirkun­gen der Einschränkungen, einen Hauch von Angst und bin immer noch verunsichert von der anhaltenden Unsicherheit. Ich lerne, die Komplexität meiner Vergangenheit loszulassen. Dabei fühle ich mich zunehmend genährt von den positiven Verbindungen und dem unerwarteten Wunder, in Gemeinschaften zu leben. Ich versuche, loszulassen und verpflichte mich dazu, lie­bevoll zu leben.

Folgendes Gedicht ist mein Gebet:

Loslassen bedeutet nicht, aufhören sich zu kümmern; es bedeutet, dass ich es nicht für an­dere tun kann.

Loslassen bedeutet nicht, mich abzusondern; es ist die Erkenntnis, dass ich andere nicht kontrollieren kann.

Loslassen bedeutet nicht, zu ermöglichen, sondern zuzulassen, aus natürlichen Konse­quenzen zu lernen.

Loslassen bedeutet, Ohnmacht einzugestehen, was bedeutet, dass das Ergebnis nicht in meinen Händen liegt.

Loslassen bedeutet, nicht zu versuchen, einen anderen zu ändern oder ihm die Schuld zu geben; ich kann nur mich selbst ändern.

Loslassen bedeutet nicht, sich um jemanden/etwas zu kümmern, sondern sich für jeman­den/etwas zu interessieren.

Loslassen heißt nicht, zu reparieren, sondern zu unterstützen.

Loslassen bedeutet nicht, zu urteilen, sondern einem anderen zu erlauben, Mensch zu sein.

Loslassen bedeutet nicht, mittendrin zu sein und Ergebnisse zu verwalten, sondern anderen zu erlauben, dies zu tun, um ihre eigenen Ergebnisse zu beeinflussen.

Loslassen bedeutet nicht, zu beschützen; es bedeutet, dem anderen zu erlauben, der Reali­tät ins Auge zu sehen.

Loslassen bedeutet nicht, zu leugnen, sondern zu akzeptieren.

Loslassen heißt nicht zu nörgeln, zu schimpfen oder zu streiten, sondern meine eigenen Un­zulänglichkeiten zu suchen und sie zu korrigieren.

Loslassen heißt nicht, alles meinen Wünschen anzupassen, sondern jeden Tag so zu neh­men, wie er kommt und den Moment zu schätzen.

Loslassen bedeutet nicht, jemanden zu kritisieren und zu lenken, sondern zu versuchen, das zu werden, was ich träume, dass ich sein kann.

Loslassen bedeutet nicht, die Vergangenheit zu bereuen, sondern zu wachsen und für die Zukunft zu leben.

Loslassen bedeutet, weniger Angst zu haben und mehr zu lieben!

(unbekannter Autor)

Irene Bouzo, Dezemberausgabe 2022 der »Templer Reflections«, Übersetzung Karin Kling­beil

AUS DEM ARCHIV

Filmschätze in Australien aufgetaucht

In der letzten Ausgabe der »Templer Reflections« unserer australischen Schwestergemeinden berichtet Doris Frank von der Heritage Group über unerwartete »Schätze«, die Harald Ruff bei der Suche nach Listen und Tagebüchern aus der Lagerzeit in Tatura im Nachlass seines Vaters Helmut bzw. seines Großvaters Gottlieb Ruff gefunden und nun dem TSA-Archiv über­geben hat. Bekanntlich war Gottlieb Ruff der Leiter des Internierungslagers zwischen 1941 und 1945. Der erste »Schatz« war ein (inzwischen professionell digitalisierter) 16mm-Film mit der Aufschrift »Tatura Lager 1942«, auf dem drei Volkstanzaufführungen aus Camp 3 zu sehen sind, die die Bezeichnungen »Flachsernte«, »Schottische Quadrille« und »Windmühlentanz« tragen. Jeder Tanz wird ergänzt durch Einzelaufnahmen von etlichen Tänzerinnen, die mit Hilfe von Leni Löbert, dem ältesten Gemeindemitglied, großenteils identifiziert werden konn­ten, zum Beispiel Wally Wagner (mit Akkordeon), Eva Ruff, Helene Streker, Annemarie Trefz, Erni und Gerda Decker, Ruth Scheerle, Hedwig Vollmer, Irene und Helga Löbert sowie Isolde Frank (jeweils Mädchenname). Ebenfalls wiedererkannt wurden Lotte Lippmann und evtl. Hilde Kübler. Doris glaubt sogar ihre Mutter Irene Beilharz an ihren blonden Zöpfen erkannt zu ha­ben, wenngleich die Aufnahmequalität und die raschen Tanzbewegungen die Identifizierung erschweren.

Volkstanzaufführung Tatura Lager 1942 (Quelle: TSA)
Quelle: TSA

Hinweise auf den Film liefert auch ein Tagebuch, das Gottlieb Ruff in seiner Zeit als Lagerleiter ge­führt hat. Im Jahr 1942 notierte er an einer Stelle: »Heute kam Mr. Walker und hat die Mädchen ge­filmt«. Im Folgejahr ist für den zweiten Weihnachts­feiertag wieder ein Besuch von Mr. Walker vermerkt, der u.a. den Film des Vorjahres mit den Volkstänzen der Mädchen gezeigt habe.

Ein weiterer Film im Format 8mm zeigte den Bau der Bayswater Halle im Jahre 1960. Doris Frank weist darauf hin, dass der Bau - ebenso wie zuvor bei der Bentleigh Halle - durch Freiwillige erfolgt sei, und zwar als Gemeinschaftsprojekt von Gemeinde und Jugendgruppe. Die Pläne waren von Willy Blaich, damals noch Architektur­student, gezeichnet worden. Die Bauarbeiten für die Halle und die Kegelbahn begannen im Mai 1959 und wurden im Juni 1961 abgeschlossen. Alle männlichen Templer aus den Gebie­ten von Boronia und Bayswater wurden zu den Bauarbeiten herangezogen und verbrachten etliche Wochenenden auf der Baustelle. Jeder hatte mindestens 90 Stunden abzuleisten, die Mitglieder des Kegelclubs sogar 120 Stunden, aber besonders die Handwerker unter den Templern leisteten zum Teil das Mehrfache. Der Film enthält auch Bilder von damals in Bays­water entstehenden Wohnhäusern von Templern.

Der dritte Film zeigt die Hundertjahrfeier der Tempelgesellschaft und die Eröffnung der Bayswater Halle im Jahr 1961. Doris erklärt hierzu, dass die (noch nicht ganz fertiggestellte) Halle zwar schon beim Sommerfest zum ersten Mal genutzt worden sei; offiziell sei die Halle dann aber erst bei der Jubiläumsfeier am 29. Oktober 1961 ihrer Bestimmung übergeben worden (die Kegelbahn war dagegen schon am 20. August 1961 eröffnet worden). Der Film zeigt die Begrüßung der Anwesenden durch den Ältesten Wilhelm Eppinger, den Auftritt der Blaskapelle sowie einige kurze Darbietungen, zunächst ein Stück von Karl Götz (»Schwaben suchen das gelobte Land«, übrigens unter Mitwirkung von Doris Frank und ihrer Mutter), in dem der erfolglose Siedlungsversuch der Templer in der Jesreel-Ebene 1866 thematisiert wurde. Es folgten Grußworte anderer Templergemeinden sowie ein humorvoller Sketch über den Bau der Gemeindehalle (»Allerlei Lustiges über den Hallenbau«). Die Veranstaltung ende­te mit dem Kaffeetrinken und anschließendem Tanz.

Wir danken Doris Frank für ihren Bericht über die in Australien aufgetauchten Filmschätze, die demnächst online auf der Homepage der TSA zu sehen sein sollen. Eine bleibende Erin­nerung!

Jörg Klingbeil

Aktuell
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Klezmerkonzert
Gemeindefreizeit in der Jugendherberge Rottweil
»Templer Family Album« von Horst und Irene Blaich
Templer-Lesestoff