Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 179/9 - September 2023

 

 

Unser Templer-Motto neu formuliert - Herta Uhlherr

Seid barmherzig - Wolfgang Blaich

Warum ich ein liberaler Christ bin... - Kurt Bangert

Abschied vom Kirschenhardthof - Jörg Klingbeil

Unser Templer-Motto neu formuliert

Gedanken einer TSA-Ältesten

Wir beginnen wie gewohnt und würdigen respektvoll die traditionellen Hüter des Landes, in dem wir zusammenkommen, und ihre Ältesten - und ebenso unsere Templer-Vorfahren, von denen viele ebenfalls vertrieben worden sind und die mit Glauben, Mut und enormen Anstren­gungen eine neue Nachkriegsgemeinschaft in Australien aufgebaut haben, als dies möglich wurde.

Das heutige Thema ist unser Templer-Motto, das wir neu formuliert haben, weil derzeit so viele Menschen bei der bloßen Erwähnung des Wortes »Gott« sofort abschalten: Streben wir nach dem Besten, was wir sein können, und machen wir die Welt besser.

Diese andere Wortwahl basiert noch immer auf der Lehre Jesu aus der Bergpredigt (Mt 6,33): »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, und alles andere wird Euch auch zufallen.« Ich habe einige relevante Worte zum Glauben und Ursprung der Tempelgesellschaft in dem Katalog »Die neue Heimat im Heiligen Land« zur Ausstellung mit Fotografien von Templern im Heiligen Land von 1868 bis 1948 gelesen, zusammengestellt von Nurit Carmel und Jakob Eisler (Die Warte Juli/August 2022, März 2023): »Das besondere An­liegen der Tempelgesellschaft war damals wie heute die Besinnung auf den Ursprung der Botschaft Jesu, auf seine Verheißung vom Reich Gottes und auf seinen Auftrag, durch das eigene Trachten und Handeln zum Werden einer besseren Welt, eben dieses Reiches der Liebe und Güte, beizutragen.«

Die Autoren nehmen Bezug auf die miserablen sozialen Verhältnisse in Württemberg und darauf, dass bei den Kirchen die Hilfe für die Armen nicht im Vordergrund stehe. Die aufstre­benden Templer glaubten, dass ein tieferes Christentum von jedem Einzelnen verlangte, sein Denken, seinen Lebensstil und seine Handlungen an der Lehre Jesu auszurichten: »Trachtet zuerst ... nach einer besseren Welt durch fürsorglichere und gerechtere Bedingungen für alle. Ermutigt die Menschen, ihre Einstellung und ihr Verhalten in Richtung einer brüderlicheren Zusammenarbeit zu ändern, und tragt so dazu bei, einen »spirituellen Tempel« zu schaffen, einen Raum in ihnen und um sie herum, in dem die Lehren Jesu befolgt werden und jeder die Chance hat, zu gedeihen - dem »Königreich Gottes« auf der Erde«.

Das haben wir schon oft gehört. Es ist jedoch gut, daran zu erinnern, dass dies auch 160 Jahre später immer noch das Fundament ist, das unser Gemeinschaftsleben trägt und in­spiriert.

Gebet: »Wir denken in Dankbarkeit an unsere Gründer für ihren Glauben, ihre Vision und ihr Engagement für eine wichtige Sache, die viele von uns als Gegengewicht zu vielem Unerfreu­lichen, was heute als normal gilt, sehen. Mögen wir durch den Drang, unser Bestes zu geben und eine bessere Welt um uns herum zu schaffen, emporgehoben, inspiriert und ermutigt wer­den, im Vertrauen darauf, dass sich die Energie der Integrität, des guten Willens und der Liebe weiter ausbreiten und jeden und alles mit Segen verbinden möge. Amen.«

»Sei das Beste, was du sein kannst« ist eine Phrase, die auch von anderen verwendet wird, und sie kann etwas oberflächlich wirken. Heute wollen wir etwas tiefer gehen. Unser Motto be­ginnt mit dem Wort ‚Trachtet‘ - nach etwas streben - und alle Begriffe, die man dafür verwen­den kann, implizieren Absicht und Ausdauer. Für mich weist ‚trachten‘ auf bewusste Entschei­dungen hin, die wir auf unserem Lebensweg treffen, und insbesondere auf eine bewusste Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden Fragen: Worum geht es im Leben? Warum sind wir hier? Haben wir Menschen einen Zweck, eine Verantwortung? Habe ich als Einzelperson eine Berufung, bin ich in der begrenzten Zeit, die mir auf dieser Erde gewährt ist, dazu berufen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu sein? - Was denkst oder fühlst du? Ist es das, worum es geht, wenn wir auf einem spirituellen Weg sind?

Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Prioritäten zu überprüfen? Manchmal braucht es einen Schock, der uns zur Besinnung bringt und uns anspornt, eine eingerostete Einstellung oder Gewohnheit zu ändern, um eine bessere, liebevollere Person zu werden. Selbst kleine Dinge wie Menschen mehr anzulächeln kann unser eigenes Wohlbefinden und das von anderen er­höhen.

Wir sagen, Templer seien unabhängig und »frei denkend«. Haben wir uns tatsächlich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, woher unsere Einstellungen, Vorlieben, Ideen usw. kommen? Ist uns bewusst, dass die meisten von uns weitgehend von ungeprüften Annahmen, Vorurteilen, Überzeugungen und Meinungen geprägt sind, die uns überraschen oder sogar schockieren können, wenn wir uns ihrer bewusst werden? Natürlich ist es ein tief verwurzelter Überlebensmechanismus, wie der eigene »Stamm« zu denken und zu handeln. Aber leistet uns das immer noch gute Dienste? Sind wir erwachsen genug, um zu erkennen, was uns z.B. Angst macht und wie wir dieses Muster ändern können?

Wenn wir uns unserer bisher unbewussten Konditionierung bewusst werden, kann dies eine Gelegenheit sein, nicht hilfreiche oder einschränkende Verhaltensmuster loszulassen und bes­sere zu üben, die uns befreien. Wer seine Verbindung zum Göttlichen in seinem Inneren ent­deckt, dem wird klar, dass man nicht um Erlaubnis bitten muss, da man bereits die Autorität hat, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Werten entsprechen. Aber dazu braucht es vielleicht Mut. Es kann durchaus sein, dass man auf Widerstand stößt, denn viele Menschen sind verunsichert oder fühlen sich durch Veränderungen bedroht. Manche denken vielleicht auch, dass es einfach zu schwer ist.

Welche Bilder kommen uns in den Sinn, wenn wir das Wort »Aborigine« hören? Wenn man bedenkt, dass bis vor Kurzem jedes Gespräch oder jede Lehre über unsere Ureinwohner auf dem ignoranten und arroganten Klischee der »schmutzigen Wilden« beruhte - und die meisten in der Stadt lebenden weißen Zeitgenossen sich noch nie mit einem ‚First Nations‘-Menschen unterhalten haben -, ist es kein Wunder, dass es viel Antipathie und Misstrauen gibt, die unser gemeinsames Vorankommen behindern. Sowohl weiße als auch farbige Menschen müssen sich schleunigst vor dem bevorstehenden Referendum über die indigene Stimme im Parlament informieren. Können wir versuchen, unser erstes Volk zu lieben? Jesus würde es tun. Können wir wenigstens etwas Mitgefühl und Respekt üben? Es ist traurig, dass dies für viele, die sich als »zivilisierte« Bürger betrachten, immer noch so schwer ist.

Denken wir an unsere eigenen Vorfahren. Ihre Familien wurden getrennt, sie wurden enteig­net, aus ihren Häusern vertrieben und in Kriegszeiten als feindliche Ausländer an einen für sie fremden Ort verschleppt. Erinnern wir uns an unsere Eltern und Großeltern und ihre Trauer über das, was sie verloren hatten? Die meisten waren stoisch und ließen uns Kinder ihr Leid nicht sehen. Die meisten machten weiter, aber einige haben es nie überwunden. Unsere Ur­einwohner leiden immer noch unter den Folgen der weißen Kolonisierung und Enteignung.

Denken wir jemals darüber nach, wer wir sind, über die vielen Rollen, die wir spielen (von denen keine alles widerspiegelt, was wir sind) und darüber, warum in bestimmten Momenten unerwartet verschiedene Aspekte von uns auftauchen? Was in uns sagt: »Tu dies« oder »Nein, tu das«, wenn wir eine Entscheidung treffen müssen? Habt Ihr irgendwelche Ideen? (Eine Antwort war: mein Gewissen.)

Es gibt verschiedene Theorien darüber, woraus außer seinem Körper der Mensch besteht. Wir sind mehr als unser Gesicht, unsere Muskeln, unser Gewicht oder irgendetwas anderes an unserer Erscheinung, das uns bekümmert. Einige Konzepte aus der Psychologie, die unser Verhalten bestimmen (Persona, Ego, Schatten, das kollektive Unterbewusste, Geist und Intel­lekt, das Höhere Selbst), helfen vielleicht, wenn wir sie uns klar machen. Dabei steht das Höhere Selbst im Zusammenhang mit innerer Reife und wir müssen es kultivieren, um unsere tierischen Urinstinkte in Gedanken, Worte und Verhaltensweisen umzuwandeln, die es ermög­lichen, dass das »Reich Gottes« sich manifestiert, das heißt, dass die Welt besser wird. Wie einer unserer letzten Konfirmanden sagte: Wir wollen eine bessere Version von uns selbst werden.

Im Laufe der Zeit neigten die Menschen dazu, keine ferne Gottheit zu wollen, sondern such­ten vielmehr danach, bessere Menschen zu sein: mutiger, freundlicher, brillanter und weiser, während die Kirche ihnen beibrachte, dass sie elende Sünder seien. Doch das Göttliche ist in uns, als eine ständige Quelle des Lebens, der Energie und der Inspiration - sind wir uns dessen bewusst und offen dafür? Übernehmen wir die Verantwortung für unsere innere Entwicklung, unser spirituelles Wachstum und versuchen wir unser enormes Potenzial zum Guten zu nutzen, indem wir Empathie und Mitgefühl kultivieren, und unseren Egoismus zu überwinden? Respektieren wir den Fremden, sogar den Feind - eine Ethik, die dringend be­nötigt wird in unserer konfliktreichen Welt, in der uns jeden Tag gezeigt wird, was passiert, wenn das Gefühl verloren geht, dass jedes menschliche Leben heilig ist?

Beziehungen sind ein Bereich, der für die persönliche Entwicklung von entscheidender Be­deutung ist - wie kommen wir mit unseren Mitmenschen aus, solchen, die uns nahestehen, aber auch Arbeitskollegen und Fremden? Das gehört dazu, andere wie uns selbst zu lieben oder zumindest zu respektieren. Warum ist das manchmal so schwer? Grundlegende Unter­schiede in der Persönlichkeit, im Temperament oder im Charakter zu erkennen kann uns hel­fen, zu verstehen oder zumindest einzuschätzen, wie wir und andere Personen funktionieren. Man könnte sich über psychologische Typologie informieren. Solche Hilfsmittel können uns dabei helfen, einfacher zu kommunizieren und uns viel Kummer und Frustration zu ersparen. Ebenso können die Hinweise auf die unterschiedlichen Schwerpunkte und Interessen der linken und rechten Gehirnhälfte helfen. Die meisten Menschen bevorzugen die eine, ohne sich dessen bewusst zu sein, und werden sich über das Unverständnis anderer Menschen ärgern, die es »einfach nicht verstehen«, weil sie von der anderen Gehirnhälfte dominiert sind.

Dabei ist gefährlich, nur die Hälfte unserer geistigen Fähigkeiten vollständig zu kultivieren - beide sind für das Gedeihen der Menschheit, der Naturwissenschaft und der Geisteswissen­schaften unerlässlich!

Wenn ich über die immense Zeit und Energie nachdenke, die es brauchte, um im unendli­chen Raum jenen blauen Punkt zu erschaffen, der das Leben beherbergt, einschließlich des Menschen mit der Fähigkeit, weitere großartige Dinge zu erschaffen - oder zu zerstören -, kann ich derzeit denen nicht zustimmen, die glauben, dass alles völlig zufällig ist. Ich glaube auch nicht, dass das alles vorherbestimmt ist. Allerdings ahnen viele eine Tendenz zu größerer Vollkommenheit. Ich denke, wir Menschen erschaffen einen Großteil unserer eigenen Realität durch das, was wir glauben und aufgrund dessen sehen, ebenso durch unser Verhalten ge­genüber anderen Menschen und der Umwelt. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Über­zeugungen überprüfen, sie uns bewusst machen und sie im Lichte neuer Erkenntnisse überprüfen. Ein Gedanke, dem ich nachgehe, ist die Evolution des Bewusstseins parallel zur Evolution des Glaubens. Ich freue mich zu sehen, dass der Glaube unserer Vorfahren aus moderner Sicht Bestand hat - sie konzentrierten sich auf die Lehren von Jesus und nicht auf die Lehren der Kirche über ihn.

Ich bin fasziniert von der Quantentheologie von Diarmuid O’Murchu (Evolutionary Faith); er betrachtet die »göttliche schöpferische Energie, die in der Evolution des Kosmos wirkt« durch einen Zweig der modernen Wissenschaft, der von der Evolution des Bewusstseins spricht und von der Transformation zum höheren Selbst, die es erfordert. Eine schrittweise Perfektionie­rung?

Was für mich heraussticht, ist der Kern des Templer-Glaubens - die beiden Gebote der Lie­be (für das Göttliche, die heilige Lebenskraft, die absolut alles vereint, und für unsere Mit­menschen wie uns selbst), zusammen mit unserem Motto: Strebe danach, der Beste zu sein, der Du sein kannst, und danach, die Welt zu einem besseren Ort zu machen - d.h., den Weg aufzuzeigen zu höherem Bewusstsein, zu innerer Reife, zu mehr Harmonie, zur friedlichen Lösung von Konflikten, zur Ausrichtung von Ressourcen auf soziale Gleichheit statt auf Krieg, damit die Menschen und die natürliche Umwelt gemeinsam gedeihen und eine Zukunft für die Menschheit ermöglicht wird.

Wenn wir uns selbst besser kennen, wenn wir erkennen, was unsere Gedanken kontrolliert oder warum wir Dinge tun, die uns überraschen oder erschüttern, dann können wir uns dafür entscheiden, Gedanken und Verhaltensweisen zu ändern, die unserem Ziel nicht förderlich sind. Das ist schwer, aber die Mühe lohnt sich. Es kommt uns, denen, die wir lieben, und dem Gemeinwohl zugute. Wenn wir erkennen, wozu unser Herz und unser Verstand fähig sind, und wenn wir auf unsere Fähigkeit vertrauen, fürsorglich zu sein, zu heilen und durchzuhalten, angetrieben durch unsere Verbindung mit allem, was ist, können wir freier und freudiger und mit weit weniger Ängsten leben.

»Hoffnungsvoll zu bleiben scheint mir ein wesentlicher mutiger Akt zu sein. Es ist auch ein Akt der Verpflichtung gegenüber dem Leben selbst.« (Stephanie Dowrick). Für mich beinhaltet eine solche Verpflichtung gegenüber dem Leben die Verantwortung, das Leben in Fülle und Freude zu leben und dabei für andere, sich selbst und unsere Umwelt zu sorgen. Mit anderen Worten: Wir wollen unser Bestes geben und eine bessere Welt schaffen. Möge jeder von uns die Kraft und den Mut entwickeln, dies zu tun.

Herta Uhlherr, aus einer Saalansprache vom 9.7.2023 in Bentleigh,

Übersetzung Karin Klingbeil

Ein Weisheitsspruch

dem indischen Weisen Patanjali zugeschrieben, der zu den oben gemachten Ausführungen gut passt:

 

Wenn du von einem großen Ziel inspiriert wirst,

von einem außergewöhnlichen Projekt;

sprengen alle deine Gedanken ihre Fesseln,

überschreitet dein Geist Grenzen,

dehnt sich dein Bewusstsein in alle Richtungen aus,

und du findest du dich in einer neuen, tollen und wunderbaren Welt wieder.

Schlafende Kräfte, Fähigkeiten und Talente werden lebendig

und du entdeckst, dass du selbst ein weitaus größerer Mensch bist

als du es dir jemals erträumt hast.

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Seid barmherzig

(Lukas 6,40-41)

Jesus hat seine Tätigkeit in Galiläa aufgenommen. Er hält eine erste große Predigt, die als Feldrede in das Lukasevangelium eingegangen ist, vor seinen Jüngern und einer versam­melten Menschenmenge.

Unter der Überschrift Barmherzigkeit fasst Jesus in dieser Rede Lebensregeln zusammen, die auf der Grundlage beruhen: »Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist.« Es sind die Lebensregeln, die das Zusammenleben, aber auch die eigene Wahrnehmung verbes­sern sollen. Einige dieser Regeln sind sprichwörtlich geworden. So das Gleichnis vom Splitter im Auge des Nächsten und vom Balken im eigenen Auge.

Dieses Gleichnis verdeutlicht die im Lukastext vorausgegangene goldene Regel: »Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch«. D.h. nicht vorschnell urteilen, beurtei­len, verwerfen, Urteile uns anmaßen, die uns nicht zustehen. Psychologen sagen, dass oft ein Blick genügt, um einen Mitmenschen sympathisch oder unsympathisch zu finden, noch ohne mit ihm oder ihr ein Gespräch geführt zu haben.

Jesus stellt mit seinem eindrücklichen Bild vom Splitter und Balken eines der großen Proble­me menschlichen Zusammenlebens dar. Er führt uns vor, dass wir bei anderen deutlich und scharf die kleinen und großen Verfehlungen erkennen, aber unsere Selbstwahrnehmung feh­lerhaft ist - dass wir uns schwer tun, unsere eigenen Verfehlungen und Mängel zu erkennen bzw. gar zuzugeben.

Jesus wusste offensichtlich um das, was die Psychologie heute »Projektion« nennt. Wir kriti­sieren, nicht immer, aber oft, an anderen das, was wir an uns selbst wahrnehmen. Wir er­ken­nen die Fehler bei anderen am besten und verurteilen die am schärfsten, von denen wir nicht frei sind, unter denen wir leiden, die uns an uns nicht gefallen. Hermann Hesse beschreibt das Phänomen einmal so: »Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir etwas, was in uns selbst ist. Was nicht in uns ist, regt uns nicht auf.« D.h. Menschen, die sehr sensibel für die Vorurteile und Fehler anderer sind, können umso blinder für eigene Vorurteile und Fehler sein. Wir lagern das auf andere aus, was wir an uns nicht mögen. So werden wir - vermeintlich - un­liebsame Eigenschaften los, indem wir sie bei anderen kritisieren.

Am Apollotempel in Delphi ist eine vielzitierte Inschrift »Erkenne dich selbst!« Ist das ein Schlüssel zu einem gesunden Verhältnis zu sich selbst und zu anderen, zu meinen Mitmen­schen? Ich meine ja - weil ich dadurch meine eigenen Stärken und Schwächen erkenne, also zuerst den Splitter oder Balken bei mir, bevor ich dazu übergehe, andere nach ihren Fehlern zu bewerten.

Wolfgang Blaich

Warum ich ein liberaler Christ bin...

Oder: Was wollte Jesus eigentlich?

Ein liberales Christentum hat - wie es eigentlich für jedes Christentum gelten sollte - seinen Aus­gangs­punkt und sein Fundament in der Person und im Wirken von Jesus von Nazareth. Sein Leben, sein Sterben und vor allem seine Botschaft vom Reich Gottes sind die Grundlage der christlichen Religion und gerade auch des liberalen christlichen Glaubens.

 

Dabei unterscheidet sich das liberale Christentum deutlich von einem traditionellen, orthodo­xen Christentum durch mehrere Voraussetzungen, die hier kurz erwähnt werden sollen.

1. Voraussetzungen eines liberalen Christentums

1. Ein liberales Christentum akzeptiert - mit Luther - das »allgemeine Priestertum« oder die Autonomie des einzelnen Gläubigen, der sich nicht blind an die kirchliche Tradition gebunden weiß (Heteronomie), sondern sich - neben dem Wort der Schrift - seines eigenen Gewissens und seiner eigenen Vernunft bedient, um sich der christlichen Wahrheit zu nähern.

2. Ein liberales Christentum akzeptiert auch die Erkenntnisse der modernen - nunmehr auf eine rund 200-jährige Praxis zurückblickenden Bibelwissenschaft, die historisch-kritische Me­thoden anwendet, um die biblischen Texte (insbesondere auch die von Jesus berichtenden neutestamentlichen Schriften) in ihrem historischen Kontext und in ihrem Entstehungshorizont zu verstehen und für die moderne Zeit fruchtbar zu machen.

3. Ein liberales Christentum anerkennt die Dichotomie (= Zweiteilung) von Theologie und Naturwissenschaften. Dabei wird den Naturwissenschaften die Vorherrschaft für naturwissen­schaftliche Erkenntnisse eingeräumt, insofern sie das Ziel verfolgen, in ihren jeweiligen Spe­zialisierungen einen empirischen Zugang zur Wirklichkeit zu gewinnen. Die christliche Theolo­gie beansprucht hingegen, das große Ganze der Wirklichkeit aus der Perspektive der jesuani­schen Botschaft zu deuten und zu bewerten.

4. Ein liberales Christentum pflegt auch ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein und geht davon aus, dass ein Phänomen am besten dadurch verstanden wird, dass man seine Entste­hungsgeschichte nachzeichnet. Das gilt in Bezug auf das Christentum vor allem für die christ­lichen Lehren und Dogmen, die alle eine Entstehungsgeschichte haben, die zu kennen unab­dingbar ist, um diese Lehren und Dogmen aus heutiger Sicht einordnen und bewerten zu können. Die Einsicht in den geschichtlichen Entstehungszusammenhang führt zwangsläufig zur Relativierung solcher Lehren, die nicht mehr als monolithische, unverrückbare und allzeit gültige Dogmen angesehen, sondern als historisch kontextualisierte Erscheinungen begriffen werden, die ihre vormaligen Wahrheiten zu verlieren drohen, sofern sie nicht in die heutige Zeit übersetzt werden.

5. Ein liberales Christentum befleißigt sich zu unterscheiden zwischen - einerseits - dem tra­ditionellen Christentum, wie es sich über zweitausend Jahre durch Kirchenväter, Konzilien und Konstrukte christlicher Theologien entwickelte, und - andererseits - einem originären Christen­tum, wie es sich eng an der Person, dem Wirken und der Botschaft Jesu orientiert. Dabei darf die traditionelle, kirchliche Lehre nicht zum Maßstab dessen gemacht werden, was Jesus an­geblich gesagt, getan und gepredigt haben soll. Vielmehr muss das, was Jesus gesagt, getan und gepredigt hat, zum Maßstab erhoben werden für das, was heute christliche Verkündigung zu sein hat.

Aus den letzten beiden Punkten ergibt sich beispielsweise, dass die traditionellen Hoheitsti­tel, die Jesus nach seinem Tod zugeschrieben wurden (wie Gottessohn, Erlöser, Herr, Heiland und Gott etc.), als spätere kirchlich-theologische Überhöhungen zu verstehen sind, die nicht zwangsläufig aus dem Wirken Jesu folgten (Als Ausnahme könnte hier »Herr« genannt werden, denn Jesus wurde offenbar zu seinen Lebzeiten mit »Rabbi« angeredet, was so viel wie »Herr«, »Meister«, »Großer« bedeutet. Andererseits wurde die Anrufung »Herr« mit dem alttestamentlichen Gottesnamen »Jahweh« verknüpft, der - ins Griechische übersetzt - zu »Herr« (kyrios) wurde (vgl. etwa Joh 20,28; 1Kor 12,3). Letzteres ist eher als eine dogmatische Überhöhung zu begreifen.). Diese Überhöhungen sind teilweise dadurch zu erklären, dass die Nachfolger Jesu die Botschaft ihres Meisters für ganz neue Kulturkreise - insbesondere die griechischen und römischen Gesellschaften - verständlich machen wollten. Richtig ist freilich: Wann immer wir eine in einem bestimmten Kulturkreis entstandene Weltanschauung für ande­re Kulturen annehmbar machen wollen, kann dies nur durch entsprechende Anpassungen, Umwandlungen und Neukontextualisierungen geschehen. Das bedeutet aber zugleich auch, dass derartige Neuanpassungen von wieder anderen Kulturkreisen und anderen Zeitaltern ebenfalls als obsolet, vorgestrig und überholt empfunden werden können. Weitere Anpas­sungen und Transformationen werden also nötig sein, um die »alten Wahrheiten« zu »be­wahren« (Wortspiel intendiert).

2. Die Wiederentdeckung der Botschaft Jesu

Einem liberalen Christentum geht es also in erster Linie um die Wiederentdeckung der von Jesus selbst beabsichtigten und verkündigten Botschaft - ungeachtet der späteren christologi­schen und theologischen Überhöhungen. Es geht letztlich um Fragen wie: Wer war Jesus? Welches waren seine Intentionen? Welches war seine Botschaft? Was beabsichtigte er mit seiner Botschaft? Und wie können wir seine Botschaft für die heutige Zeit fruchtbar machen?

Dabei muss hier sogleich ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Gerade die sog. Leben-Jesu-Forschung hegte lange Zeit die Hoffnung, durch historisch-kritische Untersu­chungen herausfinden zu können, wer der »historische Jesus« tatsächlich war, um dann diesen historischen Jesus zu einem neuen, modernen Fundament des christlichen Glaubens machen zu können. Diese Hoffnung wurde jedoch von der Bibelwissenschaft selbst ad absurdum geführt. Denn es zeigte sich: Wir können von der Person und dem Wirken Jesu nur schemenhafte Umrisse erkennen; und selbst das, was das Neue Testament über Jesus berichtet, wurde bereits vom nachösterlichen Glauben der ersten Christen durchdrungen, transformiert und theologisch überhöht.

Es ist darum zu unterscheiden zwischen dem, was man »historische Faktizität« nennen kann, und dem, was man als »theologische Sinndeutung« bezeichnen könnte. Der »histori­sche Jesus« begegnet uns nicht als jemand, der uns Menschen des 21. Jahrhunderts sofort zugänglich und verständlich wäre. Vielmehr müssen wir uns den »garstigen, breiten Graben« (von dem Lessing sprach) von zwei Jahrtausenden eingestehen, der sich zwischen uns und Jesus befindet und der ein unmittelbares Verstehen erschwert. Jesus spricht nicht direkt zu uns. Er spricht nur dann zu uns, wenn wir ihn in seinem damaligen historischen Kulturzusam­menhang begreifen und seine Botschaft - jenseits und trotz ihrer damaligen kulturellen Einbettung - für die heutige Zeit übersetzen und fruchtbar machen. Oder, um es mit Albert Schweitzer zu sagen: »Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach!

Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjeni­gen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist.« (Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1951, S. 642)

Wenngleich wir die hier benannten Vorbehalte in Rechnung stellen müssen, können wir m.E. doch noch Beachtliches aus dem Neuen Testament über Jesus, seine Person, sein Wirken und seine Botschaft herauslesen, um daraus Leitlinien für unser heutiges Christsein abzuleiten. Das Neue Testament bietet uns dazu sehr viel überliefertes Material an, mittels dessen wir uns doch noch an Jesus herantasten können, um zu erkennen, wer er war, was er wollte und was er mit seiner Verkündigung beabsichtigte.

Kurt Bangert in: Freies Christentum, Nr. 3-2023, Fortsetzung folgt

 

Dieser Beitrag von Kurt Bangert stellt eine ausführliche Zusammenstellung von Texten und Argumenten um den historischen Jesus dar, die auch unsere Auffassung stützen. Da er durch seine Ausführlichkeit zu lang ist, um ihn komplett in einer »Warte«-Ausgabe abzudrucken, haben wir ihn aufgeteilt und werden ihn in Fortsetzungen abdrucken.

AUS DEM ARCHIV

Vor 150 Jahren: Abschied vom Kirschenhardthof

Knapp zwei Jahre nach Gründung der »Gesell­schaft für die Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem« am 24. August 1854 in Ludwigsburg probten die »Jerusalemsfreunde« um Christoph Hoffmann, Georg David Hardegg und die Gebrüder Paulus den Ernstfall und gründeten eine Muster­siedlung auf dem ehemaligen Rittergut Kirschen­hardthof (heute Gemeinde Burgstetten). Im Januar 1856 wurde das Gut gekauft und in neun Lose ein­geteilt. Bereits am 20. April 1856 zogen die ersten Templer, Christoph Hoffmann und sein Schwager, der Lehrer Louis Höhn, ein. Am 2. Juli 1856 erfolgte die Grundsteinlegung für den dortigen Versammlungssaal; außerdem wurden noch im selben Jahr zwei Schulen für Knaben und Mädchen eingerichtet, um dem besonderen Anliegen der Jugenderziehung Rechnung zu tra­gen. 1857/58 wurde ein Haus gegenüber des Versammlungssaals erstellt und als Missions­schule ausgebaut; dort wurden die Zöglinge als Reiseprediger und zum Stundenhalten ausge­bildet. Das Ziel einer baldigen Auswanderung wurde nach dem ernüchternden Ergebnis einer Erkundungsreise nach Palästina im Jahre 1858 zwar für einige Jahre zurückgestellt, aber nicht aus den Augen verloren. Nach dem Ausschluss von Christoph Hoffmann und der ganzen Gemeinde Kirschenhardthof aus der Landeskirche (1859) wurde im Juni 1861 dort eine eigenständige religiöse Organisation mit der Bezeichnung »Deutscher Tempel« gegründet. Im Herbst 1868 wanderten zwei der führenden Köpfe der Gesellschaft, Christoph Hoffmann und Georg David Hardegg, mit ihren Familien nach Palästina aus und gründeten - zusammen mit weiteren Anhängern - einen ersten »Vorposten« in der Nähe des Küstenstädtchens Haifa. Im September 1869 erfolgte dort die Grundsteinlegung für das erste eigene Gemeindehaus im Heiligen Land. Noch im selben Jahr übernahm die Tempelgesellschaft Gebäude einer aufge­gebenen amerikanischen Kolonie in Jaffa; auch Christoph Hoffmann zog dorthin. Zwei Jahre später wurde in der Nähe von Jaffa die landwirtschaftliche Kolonie Sarona gegründet; außer­dem entstanden 1873 in der Rephaim-Ebene bei Jerusalem die Anfänge einer weiteren, eher städtisch geprägten Templersiedlung, die später zum Sitz der Leitung werden sollte.

1873 war aber zunächst noch die erste Musterkolonie in Deutschland, der Kirschenhardthof bei Winnenden, der organisatorische Mittelpunkt der Gemeinschaft. Jedoch ließ sich diese Funktion aufgrund des zunehmenden personellen Aderlasses nicht lange durchhalten. Auf Betreiben Christoph Hoffmanns entschlossen sich in dieser Zeit mit Christoph Paulus, der die Schriftleitung der »Süddeutschen Warte« innehatte, und mit dem Lehrer Johann Gottlob Jauss weitere führende Personen zur Übersiedlung nach Palästina. Die bisherige Organisation der Tempelgesellschaft in Deutschland musste daher grundlegend geändert werden; der Kir­schenhardthof hatte - wie es Christoph Paulus in der »Süddeutschen Warte« formulierte - »seine Dienste geleistet und seine Aufgabe erfüllt«. In einer Ausschusssitzung am 28./29. Juni 1873 wurde daher beschlossen, die künftige Leitung in die Hände eines »Missions- und Ver­waltungsausschusses«, bestehend aus den Brüdern Friedrich Bulach, David Bock und Hein­rich Aberle, später ergänzt um Jakob Jung, zu legen. Mittelpunkt des Tempels in Württemberg sollte fortan der Wohnsitz des Vorstands, nämlich Stuttgart, sein. Heinrich Aberle übernahm die Schriftleitung von Christoph Paulus.

Am 31. August 1873 nahm die Tempelgesellschaft Abschied von dem seitherigen Mit­tel­punkt ihres Gemeindelebens in Deutschland; auf dem Kirschenhardthof kam es zu einer gro­ßen Abschiedsversammlung, über die in der »Süddeutschen Warte« ausführlich berichtet wur­de. Mehr als 1000 Teilnehmer waren aus nah und fern gekommen, die natürlich nicht alle im Gemeindehaus Platz fanden. Zum Glück klarte der Himmel während der dreistündigen Veran­staltung auf, so dass die Redner von der Eingangstür aus sprechen und sich auch den drau­ßen stehenden Zuhörern verständlich machen konnten. Die Versammlung wurde gegen 10 Uhr durch den Ältesten Martin Blaich mit einem Gebet eröffnet. Wichtige Ereignisse seit der Gründung im Jahre 1857 wurden in Erinnerung gerufen; eine entsprechende Auflistung ist in der »Süddeutschen Warte« vom 18. September 1873, S. 149 f., abgedruckt. Etliche Anspra­chen von Ältesten und auswärtigen Gästen schlossen sich an. Hauptredner war jedoch Chris­toph Paulus, der eindringliche Worte an die Anwesenden richtete; wesentliche Passagen sei­ner Rede sind in der »Süddeutschen Warte« vom 11. September 1873, S. 145, wiedergege­ben:

»Diese letzte Hardthof-Versammlung ist nicht bloß ein Abschiedsfest, wo wir von dem Orte Abschied nehmen, an den sich für die Tempelfreunde so viele schöne und ernste Erinnerun­gen knüpfen, sondern sie ist auch ein Dankfest und ein Siegesfest. Denn dieser seitherige Mit­telpunkt des Tempels wird ja nicht als solcher aufgegeben, weil das Tempelwerk in Stockung geraten ist und nicht mehr aufrecht zu erhalten gewesen wäre, sondern weil das Werk im Gegenteil sich so weit ausgedehnt hat, dass der beschränkte Raum, den der Hof bieten kann, nicht mehr genügend und seine abgelegene Örtlichkeit zum weiteren Betrieb des Werkes nicht mehr zweckmäßig gewesen ist. Das Tempelwerk hat sich weit über die Grenzen Württembergs ausgedehnt und seinen Zielpunkt selbst erreicht; das heilige Land selbst, wo bereits zwei Tem­pelgemeinden bestehen, deren jede die Tempelgemeinde des Kirschenhardthofs um das drei­fache übertrifft, ist einstweilen zum Mittelpunkt des Tempels herangewachsen. Wir verlassen den Kirschenhardthof, um den Mittelpunkt des Tempels nach Palästina und, sobald Gott es er­möglicht, nach Jerusalem zu verlegen. Wir haben also alle Ursache, unser heutiges Ab­schiedsfest als ein Dankfest zu begehen ...«

Erwähnung verdient auch ein von Samuel Hoffmann, einem Sohn Christoph Hoffmanns, an seinen Onkel Christoph Paulus gerichteter Brief, der in der Abschiedsversammlung verlesen und ebenfalls in der »Süddeutschen Warte« abgedruckt wurde (1873, S. 151); darin heißt es u.a.: »...Der Hardthof war als neutraler Mittelpunkt des Tempels der einzige Platz in Württem­berg, wo die Lehre des Tempels in einem richtigen Gemeindeleben sich ausdrücken konnte, so dass man sehen konnte, dass die Bewohner dieses Ortes durch ihr Tun und Lassen die Grundzüge des Tempels zu verwirklichen und anderen anschaulich zu machen bestrebt wa­ren, eine Leuchte im Lande, wie es früher Korntal war. Obwohl nicht so viel besucht wie Korntal, hat er aber mehr gewirkt, weil er gegründet wurde, zum Zweck der Ausführung eines Werkes, das nicht mehr verschwinden kann, zum Zweck der Anbahnung des Reiches Gottes. ... Wir dürfen also sagen, es liegt in dieser Lehre, welche vom Hardthof ausgegangen ist, eine Kraft, welche die Leute befähigt zu großen Opfern, zu großer Anstrengung und zu großem persönlichem Mut. Auch harte Zeiten, eine Ernte des Todes selbst unter unseren Brüdern verminderte nicht die Sehnsucht der anderen denselben Weg zu betreten. ...«

Samuel Hoffmann spielte mit dieser Bemerkung auf die zahlreichen Sterbefälle an, die die Siedler auf dem Kirschenhardthof trafen. Allein unter den elf Kindern von Christoph und Pau­line Hoffmann gab es auf dem Kirschenhardthof zwischen 1857 und 1862 sechs Todesfälle. Für ihre Verstorbenen legte die Tempelgemeinde, auch um von dem zuständigen Pfarramt Erbstetten unabhängig zu sein, einen eigenen, heute noch bestehenden Friedhof an, um den sich dankenswerterweise die Gemeinde Burgstall kümmert.

Gedenkstein für die erste Templersiedlung in Kirschenhardthof (Quelle: TGD-Archiv)
Quelle: TGD-Archiv

Nachzutragen ist, dass Christoph Paulus noch im Herbst 1873 nach Palästina aufbrach, ebenso wie der erste »Wanderzug«, hauptsächlich mit Templern aus den USA und der Schweiz. Der ganze Besitz der Templer auf dem Kirschenhardthof und ihre Hin­terlassenschaft wurden Zug um Zug verkauft. Als erstes wurde noch 1873 das Anwesen von Friedrich Klenk an Christian Trefz aus Großaspach verkauft. 1880 erwarb Christian Ludwig aus Erb­stetten das frühere Missionsschulgebäude. Das frühere Gemein­dehaus, in dem zunächst die Zweigniederlassung einer Reutlin­ger Kunstlederfabrik untergebracht war, kaufte 1896 der Missio­nar Gottlob Dilger, der zuvor schon das angrenzende Wohnhaus des Templerarztes Dr. Sandel erworben hatte. Er richtete dort ein »christliches Haus zur Erholung und Erbauung« ein; später wur­de daraus ein privates Altersheim. Leider wurde das Gebäude im Jahre 2013 abgerissen, um einem Privathaus Platz zu machen. Ein gegenüber stehender Gedenkstein, der 1986 feierlich ein­ge­weiht wurde, erinnert aber noch an den früheren Mittelpunkt der Tempelgesellschaft.

Wir sind dem Ortschronisten Otto Ludwig, der im früheren Missionsschulgebäude aufge­wachsen ist, nicht nur für seine wichtigen Hinweise zur Ortsgeschichte dankbar, sondern auch für seinen langjährigen selbstlosen Einsatz, die kleine Grünfläche rund um den Gedenkstein in einem guten Zustand zu erhalten.

Jörg Klingbeil

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