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Der Stern - Mihail Eminescu
Licht-Gedanken - Karin Klingbeil
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« - Wolfgang Blaich
Weihnachten in der Kolonie Haifa - Dr. Jakob Eisler
Gegen das Schweigen - Karin Klingbeil
Vom Schnee - Hartmut Rosa
Die Anfänge der Tempelkolonie Jerusalem - Jörg Klingbeil
So unermesslich ist die Ferne,
Aus der dies Sternbild aufgetaucht,
Dass, um den Erdball zu erreichen,
Sein Licht Jahrtausende gebraucht.
Vielleicht ist es seitdem erloschen
In jenem weiten Himmelsblau,
Wiewohl ich heut erst seine Strahlen
Auf unsrer Erde klar erschau’.
Denn langsam durch des Himmels Räume
Schickt uns das Sternbild her sein Licht:
Es war, als wir es nicht erblickten,
Nun wir es sehen, ist es nicht!
So auch, wenn unser Glück erstorben
Im Dunkel der Vergangenheit,
Dringt noch das Licht der toten Liebe
Durch alle Weiten, alle Zeit.
Mihail Eminescu, 1850-1889, rumänischer Dichter, Übersetzt von Mite Kremnitz 1852-1916
Quelle: deutsche-liebeslyrik.de
Das vorstehende Gedicht hat mir einmal mehr bewusst gemacht, wie es sich mit diesem wunderbaren Sternenhimmel verhält. Hier sehen wir ihn nur, wenn das Wetter klar ist und uns nicht allzu viel künstliches Licht umgibt - der Sternenhimmel, den ich öfters mitten in der ansonsten lichtlosen Wüste gesehen habe, war immer überwältigend. Aber niemals habe ich mir Gedanken darüber gemacht, dass er nur teilweise "echt" ist, weil von vielen bereits erloschenen Sternen wegen der unvorstellbaren Entfernungen im All das Licht noch zu uns unterwegs ist ...
»Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.« Mit diesen Worten erzählt der Schöpfungsbericht in der Bibel vom ersten Schöpfungstag und davon, dass Gott mit dieser Initialzündung die Urzeitfinsternis besiegt; mit Hilfe des Lichts wird das Tohuwabohu zu Ordnung, das Chaos zum Kosmos - und das Licht ist die Voraussetzung für die Entstehung des Lebens auf der Erde, denn: ohne Licht kein Leben. In Jahrmillionen entstand dieses Leben und entwickelte sich zu immer komplizierteren Lebewesen. Bildhaft bedeutet das Lebenslicht, dass bei der Geburt eines Menschen ein Licht entzündet wird, das beim Tod wieder erlischt. Auch die Kerzen, die in einer Kirche angezündet werden können, brennen für Menschen: in Erinnerung an sie, weil sie krank sind, und weil derjenige, der sie anzündet, sich mit jemandem verbunden fühlt.
Das Licht ist ein ganz besonderes Phänomen. Nicht nur, weil es mit Lichtgeschwindigkeit (unvorstellbaren 299.792,458 km in der Sekunde) in alle Richtungen unterwegs ist, sondern weil es vermag, totale Finsternis zu erhellen. Jeder von uns weiß, wie hilflos wir in stockdunklen Räumen sind, weil unsere Augen eine bestimmte Menge an Licht benötigen, um sehen zu können. Streichen wir ein Streichholz an oder entzünden wir eine Kerze, verhilft uns dieses bisschen Licht schon zur Orientierung in unserer näheren Umgebung. Wahrscheinlich hat dieser Sachverhalt zu der hohen Symbolkraft der beiden Gegensätze von Finsternis und Licht geführt.
Dabei steht das Dunkel, die Finsternis für alles Negative, "dunkle" Machenschaften, aber auch leibliches oder seelisches Leid durch Krankheit, Ärger, Sorge oder Angst. Auch Einsamkeit, Schuldgefühle und Streit können unsere Stimmung verdunkeln. Im Gegensatz dazu steht das Licht für alles Positive und Gute. Jedes Glück, jede Freude, der liebevolle Umgang mit einem Menschen - all das erzeugt Licht im Herzen, in der Seele, sind sogenannte Stimmungsaufheller.
Wenn Gott in der Bibel mit dem Licht gleichgesetzt wird: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil« (Psalm 27), »Du bist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht« (Psalm 36), »Licht ist das Kleid, das du anhast« (Psalm 104), dann sicherlich nicht als Definition Gottes. Mit dieser Beschreibung bemühen sich die Verfasser um eine höchstmögliche, lebenskräftige Aussage über das Wesen Gottes. Auch Jesus wird in der Bibel mit dem Licht (Gottes) gleichgesetzt, am deutlichsten im Johannesevangelium, wo es am Anfang heißt: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen« (Johannes 1, 4f), oder wenn Jesus dort von sich selbst sagt: »Ich bin das Licht der Welt! Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.« (Johannes 8,12). Auch bei den Synoptikern wird Jesus ganz konkret in Verbindung mit dem göttlichen Licht gebracht, wenn die Verklärung Jesu mit einer Lichterscheinung beschrieben wird: »sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.« (Matthäus 17,2). Mit dieser Beschreibung beschreiben alle vier Evangelisten jene Erleuchtungsvision der Jünger, die Jesus mit auf den Berg Tabor genommen hatte und die hier die Beziehung Jesu zu Gott erkannten.
Aber auch die Menschen, die Geschöpfe und Kinder Gottes, werden mit dem Wort "Licht" in Verbindung gebracht: bei Lukas spricht Jesus von »Kindern des Lichts« und in der Bergpredigt sagt er: »Ihr seid das Licht der Welt« (Matthäus 5,14).
Die Rede vom Licht bezeichnet also nicht nur Gott und seine Geschöpfe - Quelle des Lichts ist Gott; Jesus, der in seiner intensiven Gottesverbindung das Licht Gottes lebt und den Menschen den Weg weist, und die Menschen, die das Licht der Welt sind -, sondern auch, auf eine bestimmte Weise zu leben. Auf diese weist schon Jesaja hin, zusammen mit der Ankündigung, dass das große Licht kommen wird:
»Mache dich auf, werde Licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!« (Jesaja 60,1)
Wenn wir jetzt die Advents- und Weihnachtszeit begehen, gehen wir durch die Zeit, die bei uns die dunkelste im Jahr ist und in der gleichzeitig überall Licht erstrahlt. Licht, das die Finsternis vertreiben soll, das aber gleichzeitig auch das oben Gesagte symbolisieren soll, selbst, wenn wir uns das nicht klar machen und das Geblinke und Geflimmer uns oft zu viel wird. Dieses äußere Licht verhilft uns eben auch nicht zu dem inneren Licht, nach dem wir uns alle sehnen. Aber wir können einiges dafür tun, dass es sich einstellt. Wenn wir Jesus als den Vermittler dessen sehen, was Licht im Menschen zu erzeugen vermag, dann haben wir mit den Verheißungen der Seligpreisungen Jesu, der Bergpredigt und den Bitten im Vaterunser vieles, aus dem wir auswählen können, was wir umzusetzen imstande sind - denn alles werden wir wohl nicht schaffen. Licht der Welt zu sein, ist ein sehr hoher Anspruch, aber wenn wir uns in unserem eigenen Umfeld um liebevollen Umgang bemühen, gibt es einiges, was wir tun können. Solche Liebe zeigt sich in der Bereitschaft, Menschen seelisch nahe zu kommen, zu helfen, wo unsere Hilfe gebraucht wird, ohne Dank zu erwarten, ohne die Geduld zu verlieren, ohne sich enttäuschen zu lassen. Die Unzulänglichkeit des Nächsten anzunehmen und sich immer wieder um ihn zu bemühen. Und dann können wir feststellen, dass auch das Licht im übertragenen Sinne ein besonderes Phänomen ist, denn wo wir uns bemühen, Licht in das Leben unserer Mitmenschen zu tragen, da kommt auch Licht in unser Inneres.
Was wird wohl bekannter sein: Das Lied »Macht hoch die Tür«, das in der Adventszeit immer wieder erklingt oder der Psalm 24, dessen letzte Verse dieses Lied inspiriert haben? Vermutlich das alte und traditionelle Lied, läutet es doch den Advent ein. Im Psalm klingen die Worte in den Versen 7 - 10: »Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe.«
Es ist eine uralte tröstliche Botschaft, die zu allen Zeiten erklungen ist, besonders im Zeitalter des Barock, wo diese Worte vielfach in geistlichen Werken vertont wurden, so zum Beispiel vom Komponisten Andreas Hammerschmidt, einem Meister des Frühbarock, der inmitten des Dreißigjährigen Krieges den Psalmtext zu einer klangvollen Motette vertont hat. Und uns erreichen die Worte in einer Zeit, wo wir vor lauter Kriegsgeschehen verschlossene Türen und Tore finden. Aber gegen alle Hoffnungslosigkeit und Schrecken heißt es im Advent: »Was verschlossen ist, soll nicht verschlossen bleiben.«
Der Psalm wird im Allgemeinen dem König David des Alten Testaments zugeschrieben. Im ersten Teil ist es ein Preislied auf den allmächtigen Schöpfer und Lenker der Welten und des Universums. Im zweiten Teil klingt der Text wie eine Aufforderung zu einem rituellen Gang hinauf nach Jerusalem ins Allerheiligste.
Wer reinen Herzens ist und frei von Schuld - so die Worte des Psalms -, dem werden die Tore des Zugangs zum Allerheiligsten geöffnet und der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils. Er schildert endlich den Gott Israels als den wahren Helfer und Erlöser, der seinen Getreuen die Tore der himmlischen Herrlichkeit auftut. Für uns sind diese doch etwas archaischen Bilder vielleicht nicht so zugänglich. Wir verknüpfen das Bild eher mit dem Einzug Jesu nach Jerusalem, Jesu als dem Überbringer der neuen frohen Botschaft.
Und das ist es, was uns über die Worte des Psalms »Machet die Tore weit« erreichen kann. Denn im Advent wird unsere Sehnsucht nach Licht an immer dunkler werdenden Tagen immer größer. Die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, nach Unversehrtheit und nach der Heilung dessen, was in die Brüche gegangen ist. Die Sehnsucht nach Leben, das diesen Namen wirklich verdient. Längst ist noch nicht Wirklichkeit, wonach wir uns sehnen. Der Advent spiegelt in Gestalt der Erwartung wider, was uns das Leben in seiner Fülle noch vorenthält. Das kann uns aber nur erreichen, wenn wir die Tore unseres Herzens öffnen.
In den ersten Jahren meiner Arbeit an der Universität in Haifa (es war Ende der 1980er Jahre) schickte mich Prof. Alex Carmel des Öfteren zu Nelly Marcinkowski geb. Schumacher, die damals schon im Altersheim in der Kolonie Haifa lebte, und zu Heidi Hardegg, die noch in ihrem Buchladen arbeitete. Sie sollten mir Geschichten aus ihrer Jugend in der Kolonie in Haifa erzählen. Es war so, dass sich Nelly Marcinkowski, die einige Jahre älter war als Heidi Hardegg, an viel mehr erinnern konnte und wunderbare Geschichten über ihren Vater Gottlieb Schumacher und besonders über ihren Großvater Friedrich Lange erzählte. So kam es, dass eines Tages Nelly Schumacher mir über ihre Kindheitserlebnisse zu Weihnachten erzählte.
Nelly konnte sich noch an Geschichten über das alte Gemeindehaus erinnern. Sie erzählte, dass der Saal damals zu klein war, um alle Gemeindemitglieder auf einmal aufzunehmen und dass ihr Großvater deshalb zwei Feiern organisieren musste, damit alle den Feierlichkeiten beiwohnen konnten. Dies änderte sich nach 1890, nachdem die untere Etage erweitert wurde und nun alle gemeinsam feiern konnten. Schon im November wurden die Kinder aufgefordert, Girlanden und Weihnachtsschmuck zu basteln. Man goss Kerzen und kleine Figuren aus Bienenwachs, die als Weihnachtsschmuck dienen sollten.
Eine große Freude war es für sie, einige Tage vor Weihnachten mit Vater Gottlieb zum Karmelberg zu gehen und mit ihm einen Pinienbaum für Weihnachten auszusuchen, denn Tannenbäume waren auf dem Karmel nicht zu finden. Dann wurde ein Esel vor den Karren gespannt und der Baum ins Gemeindehaus gebracht. Dort wurde er aufgestellt und von den Kindern unter Aufsicht von Anna Lange geschmückt.
»Wie hielten wir es mit Christbäumen und Christbaumkerzen im Orient? Wir kamen im Jahre 1905 von Aleppo nach Haifa zurück. In Aleppo pflegte mein Vater auszureiten und nach einem geeigneten Bäumchen Ausschau zu halten. Am besten eigneten sich kleine Olivenbäumchen mit ihren harten, lanzettförmigen Blättern, doch sie waren sehr ölhaltig und einmal brannte uns eines in unserer Wohnung ab. Wir versuchten danach keinen Olivenbaum ins Haus zu bringen. Es war zu gefährlich. In Haifa konnte man Pinien-Bäume aller Größen auf dem Karmelberg schlagen. Bunte Weihnachtskerzchen konnte man in Otto Fischers Laden auf der Kolonie kaufen und so seinen Baum schmücken.«
Heidi Hardegg erinnerte sich, wie lange die Vorbereitungen für das Weihnachtsspiel dauerten, das nach mehreren Proben am Weihnachtstag vor der gesamten Gemeinde aufgeführt wurde. Der Kinderchor unter der Leitung von Anna Lange rundete das Programm mit Weihnachtsliedern ab. Die gesamte Gemeinde war im Gemeindehaus versammelt. Im Anschluss gingen alle nach Hause, um das Weihnachtsfest im Kreise der Familie zu begehen. Heidi erzählte:
»Am Weihnachtsfeiertag spielte morgens an verschiedenen Stellen entlang der Haupt-Koloniestraße der Bläserchor einige Weihnachtslieder. Manchmal war es recht kalt, und den Bläsern wurden die Finger steif an den Instrumenten. Aber da kamen schon freundliche Zuhörer aus den umliegenden Häusern mit Gläsern und einem wärmenden Likör und »Frohe Weihnacht!« ertönte es im Kreise. Am Vormittag ging man in den Saal zum festlichen Weihnachtsgottesdienst. Den Heiligen Abend mit der Bescherung feierte jede Familie daheim, entweder am 24. Dezember abends oder am Weihnachtsmorgen.«
Auf die Initiative des Pianisten Igor Levit hat das Berliner Ensemble unter dem Titel »Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus« am 27. November zu einem Solidaritätskonzert mit zahlreichen Künstlern auf die Bühne des Großen Hauses in Berlin eingeladen.
Igor Levit: »Als vor vier Wochen in Israel 1400 Menschen den brutalen Terrorangriffen der Hamas zum Opfer fielen, weil sie Juden waren, reagierten große Teile der deutschen Kulturlandschaft, die sonst ihre Solidarität dankenswerterweise schnell zum Ausdruck bringt, für mich erstaunlicherweise - mit Schweigen. Als dann eine Explosion von Antisemitismus, von Judenhass, sowohl aus radikal islamischen Kreisen und rechtsextremen Gruppierungen wie auch aus Teilen der Linken folgte; als "Tod den Juden" skandiert und als "Israelkritik" entschuldigt wurde, reagierten große Teile der deutschen Kulturlandschaft, die sonst ihre Solidarität dankenswerterweise schnell zum Ausdruck bringt, wiederum - mit Schweigen. So kann es nicht weitergehen. Ich bin dem Berliner Ensemble dankbar, dass sie mit mir gemeinsam einen Abend auf die Beine stellen, um dieses Schweigen zu brechen. Diese Solidarität und die persönliche Solidarität von vielen meiner Freundinnen und Freunde geben mir Hoffnung. Ich rufe Sie alle dazu auf, dabei zu sein. Ein Zeichen, ein Statement - gegen Antisemitismus. Denn es kann keine Neutralität, keine Indifferenz geben, wenn es um Judenhass, wenn es um Menschenhass jeglicher Form geht. Niemals.«
Zusammen mit dem Publizisten Michel Friedman hat Igor Levit in wenigen Tagen diese erste große Solidaritätsveranstaltung der Kulturszene organisiert. »Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir gespürt haben, dass es Menschen in unserem Land gibt, die sagen: Einige sind niemand. Und weil wir dafür stehen, dass jeder jemand ist, und weil wir wissen, wie wir auch irgendwann ein Niemand sein können. Und dass wir uns brauchen und dass wir uns aufeinander verlassen können müssen«, sagte Michel Friedman in seiner Rede. »Wochenlang war die große Öffentlichkeit nicht da, die Theater und die Kunst haben sehr wenig gemacht, aber heute haben wir was gemacht. Ich habe zwei Kinder. An was soll ich glauben, wenn nicht an uns Menschen? Ich werde heute Abend nach Hause gehen, und morgen ist wieder ein Tag. Und ich werde dafür kämpfen, dass jeder jemand ist.«
Innerhalb von viereinhalb Minuten waren die über 700 Plätze des Berliner Ensembles verkauft - das hätte auch jeder der auftretenden Künstler alleine geschafft. Neben Igor Levit und Michel Friedman traten ohne Gage an diesem Abend die 102jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, der Liedermacher Wolf Biermann, die Band »Die Toten Hosen«, die Journalistin Dunja Hayali, der Musiker Malakoff Kowalski, die Violinistin Cosima Soulez Larivière, der Dirigentin Joana Mallwitz, der Tenor Simon Bode, der Schauspieler Jens Harzer, der Fernsehkoch Tim Mälzer, Luisa Neubauer, der Schauspieler Ulrich Noethen, der Musiker und Schriftsteller Sven Regener, der Schauspieler und Musiker Alexander Scheer, die Regisseurin Maria Schrader, die Schauspielerin Katharina Thalbach, der Dirigent Christian Thielemann, der Klarinettist Jörg Widmann und der Schauspieler Paul Zichner auf, um mit Musik und Literatur fast vier Stunden lang gemeinsam ein Zeichen gegen Antisemitismus und Hass zu setzen.
Klima-Aktivistin Luisa Neubauer las Carolin Emckes Text »Gegen den Hass«: »Manchmal frage ich mich, wie sie das können, so zu hassen. Wie sie sich so sicher sein können - denn das müssen die Hassenden sein: sicher. Sonst würden sie nicht so sprechen, so verletzen, so morden. Sonst könnten sie andere nicht so herabwürdigen, demütigen, angreifen. Sie müssen sich sicher sein, ohne jeden Zweifel.«
Das Konzert ist in voller Länge in der ARD-Mediathek (rbb Kultur) zu sehen.
Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa warnt in seinen Büchern und Diskussionsbeiträgen seit Jahren vor einer zunehmenden Beschleunigung und Oberflächlichkeit unseres Lebens und unserer Beziehungen. Seit jeher sei der Mensch bestrebt, sich die Welt verfügbar zu machen und seinem Willen zu unterwerfen. Gegen die wachsende Entfremdung helfe vor allem der Umgang mit solchen Dingen, die sich als widerspenstig und unverfügbar erweisen und die uns deshalb auf den wahren Kern des Menschseins zurückwerfen. Seine Überlegungen hat er in dem Buch »Unverfügbarkeit« zusammengefasst, das 2018 auf Platz 2 der Bestsellerliste für Sachbücher landete. Hier eine kleine Leseprobe, die gut zu den derzeitigen winterlichen Wetterbedingungen passt:
Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität. Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk. Der Schnee ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein. Vielleicht sehnen sich deshalb junge Menschen - nicht nur die Kinder - nach ihm, vor allem vor Weihnachten. Viele Wochen im Voraus werden die Meteorologen bestürmt und bekniet: Wird es dieses Jahr weiß? Wie stehen die Chancen? Und natürlich fehlt es nicht an Versuchen, Schnee verfügbar zu machen. In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie einer Kristallkugel: Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.
Hartmut Rosa (aus dem Buch »Unverfügbarkeit«, 2018, Residenz-Verlag, 136 Seiten, 19 Euro)
Das Jahr 2023 soll nicht vorübergehen, ohne an die Anfänge der Kolonie Jerusalem vor 150 Jahren zu erinnern. Schon in den Jahren vor 1873 waren einige Templer in Jerusalem ansässig geworden und dort ihrem Handwerk nachgegangen, beginnend mit Christian Eppinger, der bereits 1860 nach Jerusalem kam (vgl. hierzu den Beitrag von Peter Lange im Oktoberheft der »Warte des Tempels« 1997 und vor allem seine ausführliche Schilderung in »Die deutschen Handwerker von Jerusalem«, Sonderbeilage 14/2008, beides online abrufbar). Es muss in dieser Zeit in der Stadt auch schon ein gewisses Gemeindeleben von Templern gegeben haben. So war in der »Süddeutschen Warte« 1871 zu lesen: »Die Tempelgemeinde in Jerusalem hat Älteste bestellt, die sich der Kranken annehmen, hat eine Gemeinde-Betstunde eingerichtet und einen Verein für Frauen gegründet, die für die Mission arbeiten ...«. Außerdem wird 1872 ein Jünglingsverein erwähnt, in dem sonntagvormittags ein religiöser Unterricht durch Gemeinde-Älteste stattfand; ferner habe es einmal in der Woche einen Gesprächsabend gegeben. Auch sei man zum gemeinsamen Singen zusammengekommen und habe sich an bestimmten Abenden in der arabischen Sprache fortgebildet. Durchschnittlich 12-16 Teilnehmer hätten die Veranstaltungen besucht.
Zumindest in baulicher Hinsicht markierte aber erst die Grundsteinlegung für das Wohnhaus (mit Mühle) von Matthäus Frank am 25. April 1873 die Keimzelle der neuen Templerkolonie. Sie lag südwestlich der Altstadt in der bis dahin unbebauten Rephaim-Ebene. Matthäus Frank stammte - wie einige andere Einwanderer - aus Neuffen am Fuß der Schwäbischen Alb. Er war schon früh in die Tempelsiedlungen nach Südrussland ausgewandert und hatte dort das Müllerhandwerk erlernt. Dort hatte er auch Gertrud, die Tochter des mennonitischen Schulleiters und Predigers Nikolai Schmidt I, kennengelernt, die er im September 1871 in Jaffa heiratete und mit der er dann nach Jerusalem zog, anfangs in die Altstadt, wo er eine Mühle betrieb. Wie Matthäus Frank selbst später in einem Rückblick anlässlich einer Jubiläumsfeier berichtete (vgl. »Warte des Tempels« Nr. 9 vom 15. Mai 1923, S. 69), verlief die Suche nach einem Grundstück für eine neue Mühle und ein Wohnhaus durchaus spannend: Im Januar 1873 erhielt Matthäus Frank Besuch von seinem Schwiegervater, Nikolai Schmidt I aus Russland, und sprach mit ihm über die Anlage einer Templerkolonie in Jerusalem. Da innerhalb der Altstadt keine passenden Grundstücke zur Verfügung standen, schlug Johann Ludwig Schneller vor, sich in der Nähe seiner Anstalten (am Ende der Prophetenstraße) anzusiedeln. Dort war aber nur ein Bauplatz zu haben, der für eine Kolonie zu klein war. Von anderen Grundstücken in der Nähe des Mamillateiches rieten Ärzte wegen der dort gelegenen Begräbnisplätze ab. Schließlich erfuhr Matthäus Frank, dass am Rande der Rephaim-Ebene ein Grundstück zum Verkauf stünde. Als er und sein Schwiegervater das Grundstück besichtigten, erfuhren sie, dass das dahinter gelegene Ackerland ebenfalls zu erwerben sei. Beide beauftragten nun einen »Eingeborenen«, das zum Verkauf stehende Grundstück (heute Emek Rephaim Nr. 6) zu kaufen, was diesem für 1600 Franken auch gelang. Dem Grundstein fügte Frank ein kleines Steinkästchen mit einer Messingplatte und einem Pergamentblatt bei, wonach »an diesem Tag der Grundstein gelegt werde zu einer deutschen Ansiedlung in der Hoffnung auf die baldige Herstellung des Reiches Gottes auf Erden.« In seiner Ansprache zur Grundsteinlegung erklärte Frank: »Ich freue mich, etwas vom Wort der Verheißung in Erfüllung gehen zu sehen, dass die alten Wüstungen wieder bebaut werden, und schätze mich glücklich, an dieser allen Christen anempfohlenen Aufgabe mithelfen zu können ...«. Über dem Eingang des Gebäudes ließ Frank die Inschrift »Eben Ezer« einmeißeln (übersetzt: »bis hierher hat der Herr geholfen«), die dort heute noch zu lesen ist. Außer der Mühle entstand im Laufe der Zeit eine Bäckerei, die von den Nachfahren noch bis zum Zweiten Weltkrieg betrieben wurde.
Auch Nikolai Schmidt I erwarb 1873 einige landwirtschaftliche Grundstücke in der Rephaim-Ebene mit der Absicht, sich dort mit seiner Familie niederzulassen und Landwirtschaft zu treiben (das Land war preiswert für anderthalb Piaster pro Quadratmeter zu haben). Leider verstarb er plötzlich auf der Rückreise nach Palästina. Sein Sohn, Nikolai Schmidt II, kam aber mit seiner Familie nach Palästina und ließ sich direkt neben Matthias Frank nieder. Die von ihm begonnene Schafzucht blieb allerdings aufgrund des kärglichen Bodens erfolglos; erst der Weinanbau entlang der Betlehem-Straße führte zu guten Ergebnissen. Matthäus Frank hatte inzwischen weitere Grundstücke erworben und forderte andere Templer auf, sich ebenfalls in der Rephaim-Ebene anzusiedeln, was mit Hilfe der Kolonisationskasse nach und nach auch gelang. So wuchs die neue Kolonie zusehends. 1874 wohnten bereits 72 Templer in Jerusalem, darunter etliche Handwerker. Mit dem Umzug 1878 nach Jerusalem hatte Christoph Hoffmann endlich das Ziel seiner Vision erreicht und die Kolonie auf der Rephaim-Ebene wurde zum neuen Mittelpunkt der Tempelgesellschaft.