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Warum ich ein liberaler Christ bin... - Kurt Bangert
Wenn der Herr will, werden wir leben - Karin Klingbeil
»Über den Kuppeln von Jerusalem« - Jakob Eisler, Christoph Knoch
Hassverbrechen in der Heiligen Stadt - Uwe Gräbe, Katja Dorothea Buck
Die Auswanderung der Sielminger Jerusalemsfreunde nach Palästina - B. u. H. Arnold
Fortsetzung
Als gesichert darf etwa gelten, dass Jesus das »Gottesreich« zum Zentrum seiner Botschaft machte. Es war das häufig wiederkehrende Thema seiner Reden und Gleichnisse. Als Jesus gefragt wurde: »Wann kommt das Reich Gottes?«, antwortete er: »Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! Oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.« (Lk 17,21) Für Jesus war das Gottesreich etwas, das sich darin erwies, dass die göttlichen Prinzipien überall dort Raum gewinnen, wo immer Menschen ihnen Raum zu geben bereit waren.
Doch was waren diese Prinzipien, diese Kennzeichen des Gottesreiches?
»Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit«, sagte Jesus (Mt 6,33). Gerechtigkeit war das vornehmste Merkmal dieser Gottesherrschaft. Paulus bestätigte das: »Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude« (Röm 14,17) und »wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden. Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben« (1 Kor 6,9 f.).
Jesus predigte Gerechtigkeit und Fairness. Gerechtigkeit hieß beispielsweise, auch den Benachteiligten und Zuspätgekommenen einen fairen Lohn zu zahlen, von dem sie leben konnten (Mt 20,1-16). An Gebühren, Zoll und Steuern sollte nur das erhoben werden, was gesetzlich vorgeschrieben und angemessen sei (Lk 3,13 f.). Mit dem Maßstab, mit dem wir gemessen zu werden wünschen, sollen wir auch andere messen (Lk 6,38). Frauen erfreuten sich bei Jesus großer Wertschätzung (Joh 4,5 ff.; Joh 8,1-11; Lk 8,2 f.). Und bei Streitfällen und Konflikten solle man sich möglichst friedlich einigen statt immer gleich vor Gericht zu ziehen (Lk 12,58 f.).
Frieden und Versöhnung waren für Jesus also auch wichtige »Reich-Gottes«-Themen. Sich mit seinem Bruder zu versöhnen sei wichtiger als religiöse Opfergaben zu bringen (Mt 5,23-26). Die Friedfertigen werden glücklich gepriesen. Und die Feinde solle man lieben lernen (Mt 5,44-48; Lk 6,27 u. 35).
Jesus predigte einen fairen Umgang miteinander. An oberster Stelle galt für ihn die Goldene Regel: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!« (Mt 7,12) Die Liebe sei das höchste Gebot (Mt 22,37-40). Andere Menschen solle man nicht verfluchen (Mt 5,21 f.). Über andere solle man nicht vorschnell ein Urteil fällen oder sie gar verurteilen (Mt 7,1 f.). Insbesondere die Unschuldigen dürften nicht verurteilt, gefoltert oder gar hingerichtet werden (Mt 27,19-26; vgl. Lk 23,13-25).
Gemäß den Worten Jesu würden es die Reichen sehr schwer haben, ins Gottesreich einzugehen. Es sei leichter, dass ein »Kamel durch ein Nadelöhr« gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelange (Mk 10,25), so lesen wir in der Luther-Bibel. Das hier erwähnte »Kamel« (griech. kämlos) dürfte eine Verwechslung mit dem Wort für »Schiffstau« (griech. kämilos) sein. »Eher geht ein Schiffstau durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelangt« so dürfte die ursprüngliche Aussage Jesu gelautet haben. Das macht es für die Reichen schwer genug. Ein »Reicher« war für Jesus geradezu das Sinnbild für gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit, unter der gerade die Allerärmsten, Benachteiligten und Ausgegrenzten zu leiden hatten. Das Gottesreich im Sinne Jesu würde eine Gesellschaft sein, in der sich gerade die Reichen um Fairness und Gerechtigkeit bemühen und aus Solidarität von ihrem Reichtum abgeben. Das Reich Gottes sollte speziell den Armen gehören (Lk 6,20).
Auch den Kindern sprach Jesus das Reich Gottes zu. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« (Mt 18,3) Kinder sind offen und empfänglich für das Gute, sie haben einen inhärenten Sinn für Gerechtigkeit und müssen die Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Andersartigen und Ausländern erst noch von denen lernen, die sich solche Vorurteile zu eigen gemacht haben.
Für Jesus hatte das Reich Gottes sehr viel mit der Heilung von Kranken und der Hilfe für Blinde, Gehörlose, Behinderte und Ausgegrenzte zu tun (Mt 8,2 f.; vgl. auch Mt 20,30-34; Mk 10,51 f.). Jesus heilte, wo er konnte, ungeachtet des Standes, der Nationalität oder der Religion. Zum Wesen des Reiches Gottes gehörte es, dass die Kranken, Blinden und Behinderten der besonderen Fürsorge der Gesellschaft anheimgestellt werden - aber nicht, um sie von oben herab zu bemitleiden und ihnen Almosen zu gewähren, sondern um sie weitgehend wiederherzustellen und als Gleichberechtigte in die Gesellschaft wieder einzugliedern - was wir heute mit dem Wort »Inklusion« bezeichnen würden.
Jesus rief seine Jünger auch dazu auf, denen zu helfen, die Opfer von Gewalt geworden waren - und zwar ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit (Lk 10,25-37). Deshalb konnte auch Petrus sagen, dass alle Menschen willkommen seien - ganz gleich, aus welchem Volk sie stammen (Apg 10,35).
Im Reich Gottes, wie Jesus es verstand, sind auch einige menschliche Grundregeln zu beachten: Die Sorge für die Eltern sei beispielsweise wichtiger, als religiöse Pflichten zu erfüllen (Mt 15,3-6). Grundsätzlich solle es keinen Ehebruch und keine unberechtigte Scheidung geben (Mt 5,31 f.). Vor allem solle es keine Rache und Vergeltung mehr geben. Der Teufelskreis von Rache und Vergeltung müsse durchbrochen werden (Mt 5,38-42). Wir sollen die segnen, die uns Böses wünschen, und für die beten, die uns beleidigt haben (Lk 6,28).
Das Reich Gottes, so wie Jesus es verkündigte, war keine ausschließlich auf die Zukunft projizierte utopische Vision, die Gott selbst am Ende der Zeit verwirklichen würde, nachdem es mit dieser Welt unablässig und hoffnungslos bergab gegangen sei. Das Reich Gottes stellte für ihn auch keinen neuen Äon (Weltzeit) dar, welcher den gegenwärtigen von jetzt auf gleich ersetzen würde. (Das war nämlich die grundlegende apokalyptische Anschauung, die z.Zt. Jesu im Judentum und im frühen Christentum weit verbreitet war.) Nein, für Jesus war das Reich Gottes eine spirituelle Kraft und eine moralische Dynamik, die schon jetzt in diese Welt der Ungerechtigkeit hineinwirkt, weil Menschen an sie glauben, sie für sich und für die Gesellschaft in Anspruch nehmen, um die Welt nach und nach umzuwandeln.
Gewiss: Jesus wollte Menschen verändern. Aber er wollte auch die menschliche Gesellschaft verändern. Ob er für diese veränderte Gesellschaft bereits eine umfassende Vision oder einen fest umrissenen Aktionsplan im Kopf hatte, wissen wir nicht. Es ist eher unwahrscheinlich. Dass er von diesem göttlichen »Reich« aber zumindest eine Idee - oder besser: eine Reihe von Ideen - hatte, dürfte indes sicher sein.
Und diese Ideen, wie wir sie oben nur andeuten konnten, kamen in seinen Predigten ebenso zum Ausdruck wie in seinen Handlungen. Die Worte und Taten Jesu prägten sich den Jüngern so nachhaltig ein, dass sie sie der Nachwelt überlieferten.
Insbesondere in den Gleichnissen Jesu erkannten die Jünger deutlich die Ideen und Prinzipien seiner Frohbotschaft vom Gottesreich. Die Parabeln, die er erzählte, sollten nach seiner eigenen Aussage die Grundsätze des Gottesreiches verdeutlichen, begann er doch viele dieser Gleichnisse mit der Formel: »Das Königreich [Himmelreich oder Gottesreich] gleicht einem ...« - Kaufmann, einem Senfkorn, einem Schatz, einem König, einem Hausherrn usw. In diesen Gleichnissen ging es um Fairness und Gerechtigkeit, um Schuld und Vergebung, um das spirituelle Leben und den Glauben an das Gute.
Zu den bekanntesten Gleichnissen gehört das vom Verlorenen Sohn. Dieser hatte sich gegenüber seinem Vater schuldig gemacht, weil er auf der vorzeitigen Auszahlung seines Erbes bestanden und dieses dann mit seinem ausschweifenden Leben verprasst hatte. Obwohl der Vater das Recht gehabt hätte, seinem abtrünnigen Sohn jede Nachsicht und jede weitere Zuwendung zu verweigern, vergab er ihm und nahm ihn wieder in seiner Hausgemeinschaft auf. Auch hier ging es um Gerechtigkeit und Vergebung.
Gerechtigkeit ist notwendig und gut; aber Barmherzigkeit ist besser. Das war auch Jesu Botschaft. Barmherzigkeit sei besser als rituelle Frömmigkeit (Mt 9,13). Überhaupt seien Barmherzigkeit und Gerechtigkeit besser als religiöse Pflichten zu erfüllen (Mt 23,23). Glücklich seien die Barmherzigen zu nennen (Mt 5,6). Zur Barmherzigkeit gehöre es, anderen Menschen eine Schuld zu erlassen, die sie nicht begleichen können (Mt 18,23-34).
Barmherzigkeit hat viel mit Vergebung zu tun. Wir selbst sollen vergeben wie auch uns (durch den himmlischen Vater) vergeben werde (Mt 6,12 u. 14 f.; vgl. Lk 6,37). Der Vergebung sollen keine Grenzen gesetzt werden (Mt 18,21 f.). Dem Bruder, der um Vergebung bittet, sollen wir vergeben (Lk 17,3 f.; vgl. Lk 19,1-8).
Die Gottesherrschaft stellt also eine Form des Zusammenlebens dar, in der Menschen miteinander gerecht und redlich umgehen; es geht um eine Gesellschaft, in der Gerechtigkeit waltet. Aber absolute Gerechtigkeit kann zuweilen auch grausam und ausgrenzend sein. Und darum gibt es eine höhere Tugend als die Gerechtigkeit: die Vergebung. Wenn Menschen unter der Last ihrer Schuld, sei sie finanziell oder moralisch, zu zerbrechen drohen, dann sind Gnade und Vergebung die vornehmsten Prinzipien der Königsherrschaft Gottes. Die frohe Botschaft lautet: Es gibt einen Ausweg. Es gibt Entlastung. Es gibt Befreiung. Es gibt Hoffnung. Es gibt Vergebung. Ein anderes Leben ist möglich.
Jesus hat Vergebung nicht nur gepredigt, sondern auch praktiziert. Ein bekanntes Beispiel dafür war die Begebenheit mit der überführten Ehebrecherin, von der es heißt, dass man sie vor ihn brachte, damit er ein Urteil über sie fälle (nach dem Alten Testament stand auf Ehebruch die Todesstrafe - Lev 20,10; Dtn 22,22 -, auch wenn diese Höchststrafe nur selten, wenn überhaupt, zur Anwendung kam). Jesus forderte diejenigen, welche die Ehebrecherin beschuldigten, auf, den ersten Stein zu werfen, sofern sie sich selbst nicht schuldig gemacht hätten. Als die Ankläger sich beschämt davonschlichen, wollte auch er die reuige Frau nicht verurteilen (vgl. Joh 8,1-11).
Mithilfe seiner Gleichnisse verkündigte Jesus also eine Frohbotschaft von Vergebung, Entlastung, Befreiung, Gnade und Barmherzigkeit. Der Gott der Königsherrschaft (der griech. Begriff basileia tou theou kann als »Gottesherrschaft« oder Königsherrschaft« übersetzt werden. Zuweilen sprach Jesus nicht nur von der »Gottesherrschaft« oder vom »Gottesreich« , sondern auch vom »Himmelreich«. Immer war dasselbe gemeint) war für ihn ein gerechter, aber vor allem ein vergebender, barmherziger Gott. Darum appellierte Jesus an seine Zuhörer und Jünger, selbst barmherzig, gnädig und vergebungsbereit zu sein. Weil sie das aber normalerweise nicht waren, forderte Jesus sie zur Umkehr auf: »Tut Buße und glaubt an das Evangelium.« (Mk 1,15) Jesus ließ keinen Zweifel daran, dass ihm Menschen lieber waren, die zwar Fehler begangen hatten, ihre Fehler aber eingestanden, als Menschen, die nie Fehler machten, selbst keine Fehler zugaben, aber am anderen jeden noch so kleinen Fehler unbarmherzig anprangerten. Diese Art der Selbstgerechtigkeit und Verurteilungsbereitschaft war Jesus ein Gräuel.
Mit der Aufforderung zu vergeben aufs Engste verbunden war für Jesus auch die Aufforderung, nicht zu richten: »Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.« (Lk 6,37) Das griechische Wort krinein (richten) könnte man auch mit urteilen übersetzen. Es ging darum, keine vorschnellen Urteile zu fällen, ja vielleicht überhaupt keine Urteile und schon gar keine Verurteilungen auszusprechen. Wir Menschen neigen dazu, schnell ein Urteil über andere zu fällen und uns als Richter über sie aufzuspielen. Aber jedes Urteilen setzt einen Urteilsrahmen voraus, aus dem heraus wir solche Urteile fällen. Entsprechen Menschen nicht diesem (von uns, vom Gesetzgeber, vom Arbeitgeber, von der Politik oder von der Gesellschaft gesetzten) Urteilsrahmen, verdammen und verteufeln wir sie schnell und gerne. Jesus aber setzt dagegen: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater [im Himmel] barmherzig ist.« (Lk 6,36) Und noch deutlicher: »Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?« (Lk 6,41)
Man kann es auch positiv wenden: Je ermutigender, freundlicher und nachsichtiger wir mit anderen umgehen, umso positiver, freundlicher und nachsichtiger wird man mit uns umgehen: »Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.« (Lk 6,38) Diesen Geist hat auch Paulus aufgegriffen, als er schrieb: »Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird. Dann wird auch einem jeden von Gott Lob zuteilwerden.« (1Kor 4,5)
Jesus wollte, dass sich Menschen mit ihren negativen Urteilen und Verurteilungen zurückhalten. Denn diese fallen auf uns selbst zurück. Jeder Mensch ist ein unverwechselbares Individuum, dessen Wert ihm nicht durch unser Urteil entzogen werden kann, sondern dessen Würde und Einzigartigkeit als unschätzbar und edel zu betrachten ist. Jeder Mensch hofft insgeheim darauf, dass man seinen ganzen Wert und seine volle Potenzialität erfasst und fördert. Wir sollten weder uns noch anderen Menschen Grenzen der Wertschätzung und seiner Möglichkeiten setzen.
Kurt Bangert in: »Freies Christentum«, Nr. 3-2023, eine weitere Fortsetzung folgt
Unser Textabschnitt, überschrieben mit ‚Warnung vor Selbstsicherheit‘, beinhaltet den bekannten ‚jakobäischen Vorbehalt‘, eine Formel, die in Demut und Hoffnung daran erinnern soll, dass die Zukunft und besonders geplante Ereignisse dem Willen Gottes unterliegen.
»Inscha-allah« sagt man in der Arabisch sprechenden Welt, »Deo volente« im alten Latein. Früher hat man auch hier bei uns die Briefe mit den Buchstaben »s.c.j«: sub conditione jacobea, oder mit »sGw« - zu deutsch: »So Gott will« beendet - eben mit dem berühmten Vorbehalt des Jakobusbriefes: »So Gott will und wir leben!“
Klar, in den letzten drei Corona-Jahren haben wir hautnah erlebt, was es heißt, Pläne zu machen, die dann wegen der allgemeinen Umstände oder gar eigener Erkrankung undurchführbar waren. Wie viele Termine sind nicht nur verschoben worden, sondern sind geplatzt, Feiern komplett abgesagt worden! Aber derlei meint Jakobus in seinem Mahnbrief gar nicht - er verurteilt die Kaufleute, die ihre Handelsreisen langfristig planen, nicht nur, weil sie gar nicht wissen, wie viel Lebenszeit ihnen noch bleibt und sie trotzdem planend darüber verfügen, dazu noch, um Gewinn zu machen. Dabei müssen sie als Kaufleute so handeln, sonst verstehen sie ihr Geschäft nicht! Im Grunde stehen sie für alle Menschen, die ihre planende Vernunft einsetzen, um sich ihres Schicksals mächtig zu zeigen.
Jakobus interpretiert negativ, er wirft den Kaufleuten vor, nur für den eigenen Gewinn zu handeln, ohne auch daran zu denken, dass es in der Nachfolge Jesu darum geht, Gutes zu tun - und für ihn ist eben nicht nur die böse Tat, sondern auch die Unterlassung guter Taten Sünde. Aber so zu leben, wie er es sich vorstellt, nämlich jeden Tag zu fragen, was Gott heute von mir will, und dann danach zu handeln, können wir nicht - und ich bezweifle, dass die Menschen früher das konnten. Denn wie können wir definitiv wissen, was Gott von uns will? Wir haben uns dafür entschieden, der Lehre und dem Vorbild Jesu zu folgen, so gut wir das können, und das heißt, den Menschen in unserer Umgebung beizustehen und zu helfen, soweit wir können - und nach unseren Möglichkeiten Opfern von Unglücken und Katastrophen finanziell zu helfen.
Aber es heißt auch, am Gottvertrauen und der Zuversicht Jesu teilzuhaben, unsere Augen, Sinne und Horizonte zu öffnen, ohne uns von Sorgen erdrücken zu lassen. Wenn wir diese Gelassenheit teilen und uns bewusst ist, dass unsere Zeit nicht nur in unseren Händen liegt, können wir getrost planen.
Zum 125jährigen Jubiläum der Erlöserkirche - 1898 war Kaiser Wilhelm II zur Einweihung der Erlöserkirche ins Heilige Land gereist und war auch mit den Templern zusammengekommen - erscheint ein neues Buch von Jakob Eisler und Christoph Knoch, das am 19. Oktober in der Erlöserkirche in Jerusalem erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wird. Am 9. November soll es auch im Landeskirchlichen Archiv in Möhringen vorgestellt werden.
Die preußisch-hohenzollerischen Könige und Kaiser (ab 1871) fühlten sich dem »Heiligen Land« eng verbunden. Vor allem religiös und - je nach Betrachtung - auch politisch. Bevor Kaiser Wilhelm II. nach der Einweihung der Erlöserkirche am Reformationstag (31. Oktober 1898) den Heimweg nach Deutschland antreten musste, hat er sich auf dem Ölberg einen Olivenzweig geschnitten, der ihn bis zu seinem Tod am 4. Juni 1941 im niederländischen Exil stets begleitet hat. Dem englisch-preußisch-anglikanisch-lutherischen Bistum in Jerusalem (1841-1886) lagen sowohl politische wie religiöse Überlegungen zugrunde, mit dem bis heute gemeinsam betreuten Friedhof auf dem Zionsberg entwickelte sich daraus ein Zeichen bleibender ökumenischer Verbundenheit. Konfessionspolitisch war es für Preußen klar, dass es neben einer protestantisch-deutschen Präsenz in der Heiligen Stadt auch eine sichtbare römisch-katholische Präsenz geben musste. So wurde die Übertragung eines Grundstücks zum Bau der »Hagia Maria Sion« auf dem Zionsberg während der Kaiserreise besiegelt.
Seit 125 Jahren strahlt der helle Turm der Erlöserkirche über die Altstadt und mit den Ausgrabungen unter der Kirche wurde eine (unterirdische) historische Verbundenheit mit dem Gelände der Grabes- und Auferstehungskirche deutlich. Der Erwerb eines Teils des »Muristan« von der griechisch-orthodoxen Kirche durch Preußen inspirierte die »Auferstehung« der einst dort gegründeten »Johanniter«. Dass sich heute (protstantische) Johanniter und (römisch-katholische) Malteser in ihrem Engagement für Kranke und Ausgegrenzte in der Gesellschaft verbunden wissen, ist durchaus auch dem Bewusstsein um die gemeinsamen Jerusalemer Wurzeln zu verdanken.
1898 wurden die Bilder von Bruno Hentschel je einzeln als »Albumin« auf Karton aufgeklebt. Eine sehr aufwändige, aber umso detailreichere Art Bilder zu vervielfältigen, während die »Rundschau von der Dormitio« 1910 im Rasterdruck publiziert wurde. Die »Rundschau von der Dormitio« ermöglicht aus einer historisch einmaligen Perspektive einen Blick über die damals in einem ersten Wachstumsschub befindliche Neustadt.
Der 1898 entstandene »Rundblick vom Kirchturme der Erlöserkirche« ist eines der wichtigsten fotografischen Werke des 1866 in Borna (Sachsen) geborenen Bruno Hentschel. Seine beiden Panoramen waren jahrzehntelang vergessen und werden nun nach 125 Jahren gemeinsam wieder öffentlich gemacht. Vom Kirchturm der Auguste Victoria aus, die wie die Dormitio 1910 eingeweiht wurde, gibt es keine Panoramaaufnahmen aus jener Zeit.
Zum neuen Buch schreibt Christoph Knoch: »Seit vielen Jahren trage ich das Buchprojekt über die »kaiserlichen Kirchtürme« in Jerusalem mit mir herum. Das Buch mit dem auf über 3 Meter ausfaltbaren »Rundblick vom Turm der Erlöserkirche« von Bruno Hentschel, Leipzig 1898, hat mich fasziniert, seit ich es im Bücherregal meines Großvaters Anfang der 1970er Jahre entdeckt hatte. Nach seinem Tod kam es zu mir. 1979/80 war ich DAAD-Stipen[diat im Studienjahr an der Dormitio. Erstmals konnte ich selber vom Kirchturm über die Stadt fotografieren. Während meiner Berner Studienzeit habe ich Prof. Alex Carmel kennengelernt. Alex wollte mir das ihm bis dahin unbekannte Hentschel-Buch unbedingt »abläschele« und wir wollten aufs Jahr 1998 die alten Bilder im Gegenüber zu neuen Fotos wieder zugänglich machen. Das ließ sich (glücklicherweise) nicht verwirklichen, denn durch die Freundschaft mit Dr. Jakob Eisler, dem letzten Assistenten und Doktoranden von Alex Carmel, wurde das Buchprojekt um zwei weitere Panoramaaufnahmen ergänzt und dank seiner Archivrecherchen wesentlich umfangreicher.
Während meines Sabbaticals 2012/13 durfte ich in der damaligen Vikarswohnung neben dem Kreuzgang wohnen und konnte ausführlich neue Rundum-Bilder von den Kirchtürmen der Erlöserkirche fotografieren. Doch auch damals kam es noch nicht zum Buch.
»Dank« Corona konnte Jakob Eisler weitere Archivforschungen durchführen - mit spektakulären Ergebnissen. Bei meiner letzten Jerusalemreise 2022 entstanden neue Fotos. Für mich ist dieses Buch ein wirklich ökumenisches Projekt geworden. Beide Kirchen (und für mich auch beide Türme) waren während unseres Studienjahrs vor allem auch singenderweise Heimat auf Zeit geworden. Unsere Gruppe durfte bei der Installation von Propst Wehrmann wie bei der Bischofsweihe von Daoud Haddad in der Erlöserkirche und bei der Weihe von Abt Nikolaus Egender in der Dormitio singen.«
Sammlung Christoph Knoch Bern
Um die Jahreswende 2022/23 haben zwei junge Männer auf dem Protestantischen Friedhof auf dem Zionsberg in Jerusalem mehr als 30 Gräber zum Teil schwer beschädigt, darunter auch das Schneller-Grabmal. Besorgniserregend ist die Zunahme von Übergriffen auf Christen in Jerusalem.
Für den Evangelischen Verein für Schneller-Schulen (EVS) hat das Jahr 2023 mit unschönen Nachrichten aus Jerusalem begonnen: Unter den am Neujahrstag beschädigten Grabmälern auf dem Protestantischen Friedhof auf dem Zionsberg ist auch das Grab von Johann Ludwig und Magdalene Schneller, die 1860 das Syrische Waisenhaus in Jerusalem gründeten. Bilder einer Überwachungskamera zeigen, wie zwei junge Manner in traditioneller jüdischer Kleidung steinerne Kreuze zerschlagen. Die israelische Polizei nahm wenige Tage später zwei orthodoxe Talmudschüler (14 und 18 Jahre alt) als Tatverdächtige fest.
Unter den zerstörten Monumenten ist auch ein kunstvolles Marmorrelief auf dem Grabmal Samuel Gobats, des zweiten evangelischen Bischofs in Jerusalem (Amtszeit 1846-1879). In seiner Amtszeit hatte auch Johann Ludwig Schneller seinen Dienst in Jerusalem begonnen. Der von Gobat gegründete Friedhof befindet sich im Eigentum der anglikanischen Kirche, wird aber gemeinsam mit der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache zu Jerusalem bewirtschaftet.
Erzbischof Hosam Naoum, das Oberhaupt der anglikanischen EMS-Mitgliedskirche, benannte den Vorfall deutlich als Hassverbrechen und appellierte an die israelischen Behörden, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Zugleich bat er die Öffentlichkeit und insbesondere alle Verantwortungsträger, einzutreten für »Sicherheit, gegenseitigen Respekt und religiöse Toleranz in dieser Heiligen Stadt, die von allen drei abrahamitischen Religionen verehrt wird.« Diesem Appell schlossen sich die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) und der Evangelische Verein für die Schneller-Schulen (EVS) an.
2013 war der Friedhof schon einmal geschändet worden. Auch damals waren die Täter orthodoxe Talmudschüler. Die Kosten für die Restaurierung der Grabmäler übernahmen damals israelische Stellen. Während vor zehn Jahren am Schneller-Grabmal allerdings nur das Kreuz vom Grabstein gerissen wurde, sind dieses Mal die Beschädigungen schwerwiegender: Die gesamte obere Steinplatte des Grabmals wurde auf ein Nachbargrab geworfen. Noch ist nicht abzusehen, wer dieses Mal die Reparatur übernehmen wird.
Die Zerstörungen auf dem protestantischen Friedhof sind leider kein Einzelfall. In den ersten Wochen des Jahres 2023 ist es in Jerusalem auch zu anderen Übergriffen auf Christen bzw. christliche Symbole gekommen. So griff Ende Januar eine Gruppe ultraorthodoxer Jugendlicher Gäste in einem armenischen Café in der Jerusalemer Altstadt an und zertrümmerte Fensterscheiben und Möbel. Wenige Tage später kam es zu einem weiteren Übergriff auf zwei junge Armenier, die im armenischen Viertel leben. Zwei ultraorthodoxe Männer hatten sie beleidigt und mit Tränengas angegriffen. Am selben Abend versuchte eine Gruppe ultraorthodoxer Männer auf das Dach des Armenischen Patriarchats zu klettern, um dort die Fahnen des Patriarchats und Armeniens abzureißen.
Anfang Februar wiederum drang ein amerikanischer Tourist in eine Kirche an der Via Dolorosa ein und riss - offenbar in religiösem Wahn - eine Christusstatue vom Sockel. Auch wenn dieser Angriff eher mit dem Jerusalem-Syndrom zu erklären ist, werden die zunehmenden Angriffe auf Christen in Jerusalem sowohl vor Ort als auch international mit großer Sorge betrachtet - und das nicht nur von christlichen Vertretern. So lud das Jerusalem Center for Jewish-Christian Relations (JCJCR) gleich am Folgetag des Vorfalls in der Via Dolorosa zu einem Solidaritätsbesuch in die Kirchen ein. Auch auf dem Zionsfriedhof hatten sich kurz nach der Schändung israelisch-jüdische Gruppen getroffen, um ihre Solidarität mit den Christen im Heiligen Land auszudrücken.
Der Generalvikar des Lateinischen Patriarchats in Jerusalem, William Shomali, bezeichnete dies in einem Interview als positiven Nebeneffekt. Die Gläubigen der verschiedenen christlichen Konfessionen würden jetzt näher zusammenrücken und auch die Muslime zeigten sich solidarisch, sagte er. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Israels deute sich eine Spaltung an. Die Täter kämen alle aus einem Milieu, das der neuen, rechtsextremen Regierung unter Premierminister Benyamin Netanyahu nahesteht. »Das ist nicht nur für Christen ein Angstfaktor, sondern für alle Palästinenser und auch für säkulare oder ‚moderne‘ Israelis, die nicht praktizieren«, so der Generalvikar.
Uwe Gräbe und Katja Dorothea Buck (im Schneller-Magazin 1/2023)
Der Schultheiß von Sielmingen verweigerte am 20. September bei der Beerdigung der Leiche einer Frau, die samt ihrem Mann aus der Kirche in den Deutschen Tempel übergetreten war, das Läuten der Glocken, auch verbot er sonst etwas zu tun als etwa einen Psalm zu lesen und zu beten. Diese Feststellung aus der 1899 in Jerusalem erschienenen »Geschichte des Tempels« von Friedrich Lange (S. 254) bezieht sich auf einen Eintrag im Sielminger Totenregister von 1861. Der Pfarrer vermerkt zur Beerdigung von Barbara Veit geb. Alber: Nachmittags 2 Uhr in der Stille ohne kirchliches Geleit. Weitere Einzelheiten erfährt man aus der »Süddeutschen Warte«. Demzufolge hatten sich außer dem Schultheißen von Sielmingen zuvor auch der Sielminger Kirchenkonvent und der Gemeinderat mit dem Begräbnis von Barbara Veit befasst und den Wunsch ihres Ehemanns Carl Veit abgelehnt, anlässlich der Bestattung die Kirchenglocken läuten zu lassen (»Süddeutsche Warte« Nr. 44/1861, S. 175). Einige Monate vorher war das Ehepaar Veit aus der württembergischen Landeskirche ausgetreten, zusammen mit weiteren Sielminger Bürgern, und hatte sich der Bewegung des Deutschen Tempels angeschlossen. Diese sah sich dem ehrgeizigen religiösen und politischen Reformziel einer Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem verpflichtet. Der Deutsche Tempel erkannte daher seine Hauptaufgabe nicht zuletzt darin, unter seinen Mitgliedern für eine Auswanderung nach Palästina zu werben. ....
Die in den Kirchenbüchern als Jerusalemsfreunde, Separatisten oder Kirschenhardthöfer bezeichneten Anhänger bildeten vorwiegend in den ländlichen Gebieten Württembergs religiöse Gemeinschaften ... Allerdings gestaltete sich das Verhältnis zur evangelischen Landeskirche zunehmend spannungsreich. Als Hoffmann 1859 auf dem Kirschenhardthof eigenmächtig einige Jugendliche konfirmierte, wurde er aus der württembergischen Landeskirche ausgeschlossen. Aus Protest traten daraufhin 1861 die im Land verstreut lebenden Mitglieder der Tempelgemeinde aus der Landeskirche aus.
So auch in Sielmingen. In den Fildergemeinden war die Tempelbewegung auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Über Johann Georg Weinmann (1826-1884) heißt es Im Familienregister: Ende Mai 1861 aus der Evangelischen Landeskirche in die Separatistengemeinde auf dem Kirschenhardthof ausgetreten. Die Ehefrau erklärt schriftlich den Austritt Dec. 1861. Die gleiche Formulierung findet sich auch bei Michael Schäfer (1828-1881), hier allerdings mit dem Zusatz: Die Ehefrau hat den Austritt nicht erklärt.
Michael Schäfer spielte in der Sielminger Tempelgemeinde eine besondere Rolle. Seit 1855 war er mit der Witwe Barbara Schweizer geb. Alber (1817-1901) verheiratet. Das kinderlose Ehepaar wohnte in Untersielmingen in der Hauptstraße 78. Das von ihnen bewohnte Haus wurde 1998 abgebrochen und war im Ort als Missionarshaus bekannt, eine Anspielung auf das missionarische Engagement Schäfers. Am 10. Juli 1861 besuchte Christoph Hoffmann persönlich Sielmingen, um Michael Schäfer zum Ältesten und Priester des Tempels zu weihen. Sechs Jahre später wurde dieser in den Ausschuss des Deutschen Tempels gewählt und war Mitglied des Verwaltungsrats der Kolonisationskasse. Aufgrund von internen Unstimmigkeiten trat er allerdings zwei Jahre später von diesem Amt wieder zurück. Unklar ist, ob Michael Schäfer 1870 wirklich wieder in die Kirche zurückgekehrt ist, wie im Familienregister vermerkt. Dagegen spricht der Vermerk im Protokoll des Tempelausschusses für Württemberg vom 2. Januar 1876: Für den Bezirk Filder einschl. Kirchheimer Gegend wird als Ausschussmitglied Mich. Schäfer von U[nter]sielmingen berufen unter gleichzeitiger Wiedereinsetzung in seinen früheren Beruf als Ältester für diese Bezirke. 1874 und 1880 schrieb Michael Schäfer außerdem auch Beiträge für die »Süddeutsche Warte«, die ihn als Anhänger der Tempelgesellschaft ausweisen.
Sielminger Bürger gehörten zu den ersten Personen, die sich ab 1869 an der Auswanderung nach Palästina beteiligten: Mitglieder der Familien Hahn, Weinmann und Alber. Dazu zählen die drei Kinder des Schusters Michael Hahn (1811-1892) aus dessen erster Ehe, Michael Hahn (1837-1906), Katharina Hahn (1846-1898) und Jakob Hahn (1849-1904). Schon als junger Mann wandte sich der älteste Sohn Michael den Ideen des Tempels zu. Er besuchte im Jahr 1860 die Evangelistenschule auf dem Kirschenhardthof und war in den Folgejahren erfolgreich als Sendling und Prediger in seiner Heimat tätig. In einem im Tempelarchiv erhaltenen Protokoll findet sich ein Vermerk aus dem Jahr 1865: Den 29. Juni wurde der Evangelist Michael Hahn in Gerlingen zum Kreisälteslen und Priester geweiht. Im Register (Kirchenbuch Untersielmingen I, S. 395) des Vaters ist für den erstgeborenen Sohn Michael festgehalten: Aus der Landeskirche ausgetreten, in die Separatistengemeinde Kirschenhardthof übergetreten; 1869 ausgewandert nach Palästina.
Sein jüngerer Bruder Jakob bekundete seinen Austritt aus der Landeskirche in einem Brief an das Sielminger Pfarramt vom 27. April 1867, auch die Schwester Katharina schloss sich an. Ende 1869 wanderten alle drei gemeinsam nach Palästina aus.
Über die abenteuerlichen Reiseumstände dieser Gruppe wird in der Warte unter Nachrichten aus Palästina des Jahres 1869 berichtet und aus einem Brief Christoph Hoffmanns aus Jaffa zitiert: Vorgestern den 9. Dez. erhielten wir eure Briefe vom 23. Nov., da das Schiff zwischen Alexandria und Port Said seine Schraube zerbrach und also in Port Said liegen bleiben und Post und Passagiere einem 5 Tage später von dort hierher fahrenden französischen Dampfschiff mitgeben musste. So kam auch Michael Hahn und seine Gesellschaft 5 Tage zu spät, aber doch gesund und trotz das stürmischen Wetters, das inzwischen eintrat, unversehrt hier an ... (»Südddeutsche Warte« Nr. 1/1870, S. 3). Wie noch mitgeteilt wird, bestand Michael Hahns Reisegruppe aus Mitgliedern der Familie Röhm aus Höfingen, sowie aus einigen ledigen Leuten, zu denen auch seine Geschwister Katharina und Jakob gehört haben dürften, sowie Margaretha Alber (1824-1887), ebenfalls aus Sielmingen, die ledig in Sarona starb.
Alle drei Geschwister Hahn verbrachten ihr weiteres Leben in Palästina und beteiligten sich an dem dort seit 1868 entstehenden Siedlungswerk der Tempelbewegung. Michael Hahn verheiratete sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Jaffa mit Karoline Röhm aus Höfingen und verbrachte mit seiner Familie 15 Jahre auf dem in der Nähe von Sarona gelegenen Röhmshof. Friedrich Klenk, der Gemeindeleiter der nach 1900 gegründeten Siedlung Wilhelma, hielt in einer Würdigung Hahns über diese Zeit fest: Von da ab war sein Leben ein Kampfplatz, zum Teil um die Existenzfrage seiner Familie, zum Teil um den Geist und die Ziele des Tempels. (Friedrich Klenk, Todesanzeige Michael Hahn, in: »Warte des Tempels« Nr. 30/1906, S. 240). Die folgenden 17 Jahre verbrachte Hahn in der Templerkolonie Jerusalem, übersiedelte dann allerdings 1902 in die neu gegründete Siedlung Wilhelma. Friedrich Klenks Würdigung schloss: Erst hier wurde seinem Geist trotz vermehrter äußerer Arbeit ein ruhiger Lebensabend beschert. In seinem 70. Lebensjahr verstarb Michael Hahn im deutschen Krankenhaus von Jaffa.
Michaels Schwester Katharina Hahn heiratete 1874 in Sarona Johann Georg Weinmann (1826-1884) in dessen zweiter Ehe. J. G. Weinmann war seit 1863 in Sielmingen mit Elisabeth Hertler (1826-1873) verheiratet. Bis 1869 wurden ihnen in Obersielmingen 10 Kinder geboren, von denen fünf als Kleinkinder starben. 1871 verkaufte die Familie ihr Haus in der Hauptstraße 50 und wanderte mit fünf Kindern nach Palästina aus. Weinmann war unter den ersten Siedlern, die durch Los eines der Grundstücke in der neu gegründeten Ackerbaukolonie Sarona bei Jaffa erhielten. Dort bekam die Familie jedoch alle Härten des Siedlerdaseins zu verspüren. Wegen der ungesunden Lebensverhältnisse in dem ursprünglich sumpfigen Gebiet starben innerhalb weniger Jahre drei weitere Kinder und seine Frau, in der Todesanzeige 1884 wird Weinmann mit den folgenden Worten gewürdigt: Einer von den Erstlingen in Sarona, musste er im Jahr 1872 die schwersten Erfahrungen durchmachen. Er barg, obwohl in rauher Schale, einen guten Kern, der ihn befähigte, auch unter den größten Schwierigkeiten den Glauben aufrecht zu halten. (»Warte des Tempels« Nr. 3/1885, Sp. 16) In seiner zweiten Ehe mit Katharina Hahn hatte J. G. Weinmann zwei weitere Kinder. Ein knappes Jahr nach dem Tod ihres Mannes ging Katharina mit dem Landwirt Johann Karl Ellinger am 25.9.1885 in Jaffa ihre zweite Ehe ein. Sie starb 1898 in Sarona an einem Krebsleiden.
Der jüngste Bruder Jakob Hahn heiratete 1879 in Palästina Gottliebin Barbara Haag (1845-1922) aus Murrhardt. Sie hatten drei Kinder. Jakob Hahn arbeitete in Jerusalem als Schuhmacher und wird im Baedeker 1891 als solcher mit einem Geschäft in der Jaffastraße erwähnt. Die deutschen Geschäfte in der Jaffastraße profitierten nicht zuletzt von den vielen Pilgern und Touristen in Jerusalem. Um 1900 vermerkt ein Pfarrer Sewing aus Gelsenkirchen in einem Reisebericht: Brauchen wir einen Anzug und legen Wert auf guten Stoff und solide Arbeit, nebenan bei Eppinger können wir ihn haben. (...) Mit Sporen und Gamaschen können wir uns bei Sattlermeister Schnerring ausrüsten. Haben unsere Stiefel auf dem Boden des heiligen Landes gelitten, drüben sitzt Meister Hahn fleißig bei der Arbeit und bessert sie gerne aus (Hermann Sewing, Deutsches Leben in Jerusalem. In: Karl Kinzel/Ernst Meinke (Hg.): Aus Höhen und Tiefen. Ein Jahrbuch für das deutsche Haus. Berlin 1907. S. 307-349. Hier: S. 323).
Jakob Hahn starb am 17. Februar 1904 in Jerusalem und wurde auf dem Templerfriedhof in Jerusalem begraben. Seine Frau kehrte später nach Deutschland zurück und starb in Stuttgart.
Michael Schäfer dagegen blieb zunächst im Lande und wirkte dort weiter. Erst 1881, 20 Jahre nach seiner Ernennung zum Tempelältesten, unternahm er eine Reise nach Palästina, die allerdings schon kurz nach seiner Ankunft in Haifa durch seinen jähen Tod am 25. Mai 1881 endete. In der Todesanzeige in der »Warte des Tempels« ist von einer Lungenkrankheit die Rede, für die sich Michael Schäfer in dem wärmeren Klima Heilung oder Besserung erhoffte, aber auch von seiner Hoffnung, mit seinen Geschwistern hier im Heiligen Land in Frieden und Eintracht innerhalb der Gemeinde leben zu können. (Friedrich Lange, Todesanzeige Michael Schäfer, in »Warte des Tempels« Nr. 25/1881, Sp. 16).
Im selben Jahr entschloss sich sein Bruder Jakob Schäfer ebenfalls zur Auswanderung. Er traf mit seiner Familie am 13. Juni des Jahres nach einer ziemlich stürmischen Fahrt und gefährlichem Ausschiffen in Jaffa (Johannes Dreher, Bericht aus Sarona. In: »Warte des Tempels« Nr. 36/1881, Sp. 6) im Heiligen Land ein und erhielt dort als erstes die Nachricht vom Tod seines Bruders. Er lebte fortan als Bauer in der landwirtschaftlichen Siedlung Sarona bei Jaffa. Seine Frau Sophia Magdalena geb. Schweizer (1838-1881) starb dort noch im selben Jahr, seine 14jährige Tochter Katharina im Jahr 1883. Nach dem Tod der 25jährigen ledigen Tochter Sofie 1890 hielt ihn nichts mehr in Palästina. 1892 kehrte Jakob Schäfer mit seiner zweiten Frau Eva Katharina Lutz, die er 1882 in Jaffa geheiratet hatte, nach Württemberg zurück, wo er sich in Bietigheim niederließ und 1907 starb. Seine 1876 ausgewanderte Schwester Katharina Schäfer blieb ledig. Sie starb 1898 In Jaffa.
Das Siedlungswerk der Templer kam im Zuge des 2. Weltkriegs zum Erliegen. Spätestens 1948 mussten alle Deutschen das Land verlassen. Seitdem leben etliche Nachkommen der Familien Hahn und Weinmann in Australien. Wer sich auf Spurensuche begibt, stößt auf drei gut erhaltene Grabstätten gebürtiger Sielminger, die bis heute auf den Friedhöfen der Templer in Haifa und Jerusalem erhalten sind.
Birgit und Helmut Arnold in: Filderstädter Schriftenreihe zur Geschichte und Landeskunde, Band 26: »Sielmingen, eine Ortsgeschichte« von Nikolaus Back, Hrsg.: Stadt Filderstadt (leicht gekürzt)