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Jetzt ist es Herbst - Klaus-Peter Hertzsch
Hoffnung lässt nicht zuschanden werden - Dr. Andreas Rössler
Wollen und Hoffen - Albert Schweitzer
Die Stillung des Sturms - Wolfgang Blaich
Hoffnung - Friedrich Schorlemmer
Ängstigt euch nicht! - Zusammenfassung: Karin Klingbeil
175 Jahre »Warte des Tempels« - Karin und Jörg Klingbeil
Ein Paradiesbaum in Erfurt - aus Israel - Jörg Klingbeil
Jetzt ist es Herbst.
Die Wälder werden lichter.
Wir sehen auf den langen Weg zurück.
Was hatten wir beim Aufbruch für Gesichter,
und wie verändert ist nun unser Blick.
Wir sind gemeinsam durch die Zeit gegangen,
und auch ihr Wechsel hat uns nicht getrennt,
doch haben wir zu ahnen angefangen,
wie langsam man den andern wirklich kennt.
Je weiter wir vom Anfang uns entfernen,
je tiefer prägt sich die Erfahrung ein,
einander lieben heißt: einander kennenlernen
und nie im Leben damit fertig sein.
Denn in dem andern liegt ein Sinn verborgen,
ein Einfall Gottes unverwechselbar,
ein ferner Glanz vom ersten Schöpfungsmorgen,
und manchmal ahnen wir, wie groß der war.
Jetzt ist es Herbst. Die Nebel werden dichter.
Wir sehen auf den langen Weg zurück
und sehn uns in die faltigen Gesichter.
Herr, tief in ihnen strahlt uns licht und lichter
Dein uns geschenkter ew’ger Augenblick.
Klaus-Peter Hertzsch (aus: »Chancen des Alters - sieben Thesen«, Radius-Verlag, Stuttgart, 2008)
Predigt bei der Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum am 18. November 1979 in Mülheim/Ruhr
Christsein muss gestaltet werden. Sonst verflüchtigt es sich, ehe es in einem Leben richtig Fuß fassen konnte. Es kann sonst auch nicht einer größeren Anzahl der Mitmenschen weitergegeben werden.
Unser Glaube braucht also Formen, die gesehen und gegriffen werden können. Evangelische Christen haben hier einen Nachholbedarf, und dies erst recht dann, wenn sie eine freie Richtung vertreten.
Bei unserem Tagungsthema »Glauben - Beten - Trösten - Feiern« geht es um Formen der Frömmigkeit, die uns angemessen sind. Es muss nicht gerade das Fasten der Moslems oder das Wallfahren mancher Katholiken sein. Auf alle Fälle ist das »Beten« eine Form, in der sich unser Glaube äußern wird, weil hier unser Angewiesensein auf die letzte Daseinsmacht ihr Echo findet. Auch »Trösten« ist eine wichtige Form unseres Glaubens: dass wir einander Zuversicht einflößen. Das kann auch in kleinen Gruppen geschehen, wo der Einzelne sich geborgen fühlt und angenommen weiß. Das »Feiern« schließlich, die gegliederte Darstellung unserer Überzeugung in der Gemeinschaft der Glaubenden, führt immer neu zur Vergewisserung.
Auch das persönliche selbstständige, nachdenkliche Bibellesen wäre hier zu nennen, eine Form der Frömmigkeit, die im Protestantismus nicht wegzudenken ist.
Alle Formen unserer Frömmigkeit sind von der Eigenart unseres Glaubens gefärbt. Gerade wenn wir eine zeitgemäße Frömmigkeit erstreben, haben wir danach zu fragen, wie ehrlicher christlicher Glaube heute aussehen wird.
Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Weltkirchenrates ist seit längerer Zeit am Überlegen, ob sich für Christen aus allen Erdteilen und Kulturen ein ökumenisches Glaubensbekenntnis formulieren lässt. Es ist nicht zufällig, dass diese Kommission dabei auf das Hoffen als einen wesentlichen Aspekt des Glaubens gestoßen ist. Ein ökumenisches Glaubensbekenntnis liegt noch in weiter Ferne, aber im August 1978 konnte die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung bei ihrer Sitzung in Bangalore in Indien immerhin »eine gemeinsame Rechenschaft von der Hoffnung« zusammenstellen, in die nach siebenjähriger Vorarbeit Hoffnungen von Christen und Kirchen aus aller Welt eingebracht wurden. Das Hoffen scheint besonders in unsere Zeit zu passen. Vom Hoffen aus können Menschen, die wach alle Sorgen und Ängste unserer Zeit beachten und daran leiden, einen neuen Zugang zum Glauben finden, und von da aus auch zu zeitgemäßen Formen der Frömmigkeit. Dabei bestätigt sich das Wort des Paulus: »Hoffnung lässt nicht zuschanden werden« (Römer 5,5).
Wir Menschen hoffen, solange wir leben. Wer nicht mehr hofft, gibt seine Lebensgeister auf. Freilich schwirren bei uns die verschiedensten Wünsche und Ängste, Erwartungen und Befürchtungen, Vitalinteressen und Sorgen durcheinander. Manches ist da sehr unreif und eigensüchtig.
Christen werden von Jesus angeleitet und ermutigt, auf das Reich Gottes zu hoffen. Es ist ein doppeltes Ziel, auf das wir uns dabei ausrichten: eine menschlichere irdische Zukunft einerseits, eine Erfüllung in Gott über alle irdischen Möglichkeiten und über den Tod hinaus andererseits. Es ist töricht, das eine gegen das andere auszuspielen.
Was immer uns wichtig ist und von uns deshalb erhofft wird, das wird im Glauben auf dieses doppelte Ziel hin gefiltert und gebündelt. So ist der Glaube keine absonderliche, ausgefallene Denkbewegung. Der Glaube ist eng verknüpft mit all dem, was uns umtreibt.
Es lässt sich allerdings schlecht auf das Reich Gottes hoffen, in seiner irdischen wie in seiner ewigen Hinsicht, solange man einfach die Hände in den Schoß legt und sich keine Mühe gibt, irgendetwas zu bewegen.
Hoffen ist ganz dürftig, wenn das Tätigsein ausgeblendet wird. Das Dokument von Bangalore versteht deshalb die Hoffnung »als Einladung zum Risiko«. Da werden Töne angeschlagen, die europäischen Ohren anstößig klingen mögen, die aber aus dem Leiden ungezählter Menschen heraus zu verstehen sind: »Kämpfen heißt, offen Partei zu ergreifen, heißt "Ja" zu sagen zu den einen und deshalb "Nein" zu den anderen. ... Wir müssen uns mit den Machtlosen identifizieren und ihnen helfen, aus ihrer Abhängigkeit von anderen herauszukommen. Doch haben wir auch einen Dienst zu tun an denen, die die Macht haben. Wir haben sie zu bitten, auf die "Elenden der Erde" zu hören, ihre Macht gerecht zu gebrauchen und sie mit denen zu teilen, die draußen stehen«. Auch hier greift der Glaube ein ins tägliche Leben und ist nichts Abseitiges.
Zu hoffen braucht man freilich nur solange, wie etwas fehlt. Wir leben noch nicht in der Vollendung. Das Reich Gottes steht noch aus. Gott ist verborgen. Mannigfaches Leiden lässt uns immer wieder an Gottes Macht oder Güte zweifeln: ist denn der mächtige Gott gütig? Oder ist denn der gütige Gott mächtig? Hier ist die Hoffnung eine einzigartige Gelegenheit, langen Atem zu bekommen: »Die Bedrängnis bewirkt Geduld, die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung, die Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden« (Römer 5,3-5).
Es wird Augenblicke geben, in denen wir der Kunde vom Erbarmen des alles durchwirkenden Gottes einfach nicht zu trauen vermögen. Wenigstens können wir dann aber immer noch hoffen, dass diese Kunde doch stimmt. Wir können hoffen, dass das Leben über den Tod triumphiert, die Liebe über den Hass, die Hingabe über die Gemeinheit. Mag uns Gott manchmal in die Ferne entschwinden, mögen wir dabei unsere feste Grundlage zu verlieren drohen - auch das Hoffen auf Gott ist ein Halt, der uns vor dem Verzweifeln bewahrt.
Zugegeben, Hoffnungen stehen in der Gefahr, auf die Ebene der bloßen Wunschbilder und Luftschlösser abzusinken und damit doch zuschanden werden zu lassen.
Wieso aber können wir etwa guten Gewissens hoffen, dass einem anderen Menschen Gutes zustößt, aber nur schlechten Gewissens andere verwünschen? Wieso können wir guten Gewissens nur auf Frieden, nicht aber auf Vernichtung anderer Völker hoffen? Wieso können wir guten Gewissens hoffen, dass Gott uns und andere begnadigt, nicht aber dass er andere auf ewig verdammt? Weil wir doch eine Ahnung von der sich durchsetzenden Liebe Gottes in uns haben. Wir empfinden es, dass Jesus mit seiner Verheißung des Reiches Gottes recht hat.
Zu solchem Hoffen hätten wir gar nicht die Kraft, hätten wir nicht schon eine Geschichte mit Gott gehabt, Gott in unserem Leben bereits erfahren: »Die Hoffnung lässt nicht zuschanden werden; denn die Lieb Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Römer 5,5).
Wie geht das zu? Dazu müsste jetzt jeder von uns etwas sagen können. Ich denke etwa daran, dass uns plötzlich Freude überfällt und wir einen heilen Zusammenhang alles Daseins spüren. Oder dass wir uns schlagartig unseres Versagens bewusst werden und dann doch wieder neu anzufangen den Mut finden. Und vor allem Jesu Wort und Beispiel, wo wir empfinden: wenn es ein solches Menschenleben gegeben hat, kann nicht alles umsonst sein. So ist jedenfalls das Hoffen auf Gottes Reich begründet und nicht etwa bodenlos.
Der Glaube bedarf der Formen. Ist der Glaube vom Hoffen gefärbt, so ist er eng verknüpft mit allem, was uns wichtig ist, und dabei zugleich zum Tun bereit. Er ist sich der Grenzen unserer Gotteserkenntnis bewusst, ist aber zugleich von der Gewissheit angerührt, dass Gott uns trotz manchem Augenschein trägt und treu bleibt.
Das Beten, das Trösten, das Feiern, das Bibellesen und sonstige unentbehrliche Formen der Frömmigkeit haben Ausdruck solchen hoffenden Glaubens zu bleiben. Dann sind sie Formen, die nicht weltfremd, nicht gesetzlich und nicht fanatisch werden, sondern nüchtern und bescheiden bleiben lassen und der Liebe den Weg bereiten.
Dr. Andreas Rössler in »Auf der Suche nach neuen Wegen«, Nr 32 (1980), S. 23 - 25
Im März 1931 beendete Albert Schweitzer sein autobiographisches Werk »Aus meinem Leben und Denken« mit folgenden Zeilen, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben:
»Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch sei, antworte ich, dass mein Erkennen pessimistisch und mein Wollen und Hoffen optimistisch ist.
Pessimistisch bin ich darin, dass ich das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens in seiner ganzen Schwere erlebe. Nur in ganz seltenen Augenblicken bin ich meines Daseins wirklich froh geworden. Ich konnte nicht anders, als alles Weh, das ich um mich herum sah, dauernd miterleben, nicht nur das der Menschen, sondern auch das der Kreatur. ( ...)
So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen. (...)
Auch in der Beurteilung der Lage, in der sich die Menschheit zurzeit befindet, bin ich pessimistisch. Ich vermag mir nicht einzureden, dass es weniger schlimm mit ihr steht, als es den Anschein hat, sondern bin mir bewusst, dass wir uns auf einem Wege befinden, der uns, wenn wir ihn weiter begehen, in eine neue Art von Mittelalter hineinführen wird. (...) Dennoch bleibe ich optimistisch. Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der Zuversicht, dass der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Meiner Ansicht nach gibt es kein anderes Schicksal der Menschheit als dasjenige, das sie sich durch ihre Gesinnung selber bereitet. Darum glaube ich nicht, dass sie den Weg des Niedergangs bis zum Ende gehen muss.
Finden sich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesinnung in der Menschheit hervorzubringen. Weil ich auf die Kraft der Wahrheit und des Geistes vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit. Ethische Welt- und Lebensbe[ahung enthält optimistisches Wollen und Hoffen unverlierbar in sich. Darum fürchtet sie sich nicht davor, die trübe Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.«
Aus dem Rundbrief »Albert Schweitzer Aktuell«, Februar 2018
Ein Besuch auf der Reichenau hat tiefe Eindrücke hinterlassen: insbesondere die Heilsgeschichten in der Kirche St. Georg in Oberzell. Fresken aus dem 10./11.Jhdt., eine wunderbare Bilderbibel für die damaligen Kirchenbesucher, von denen viele des Lesens, geschweige des Lateins nicht mächtig waren. Unter den Bilderbotschaften für die Gläubigen dabei besonders eine Heilsgeschichte, die sie mitten in ihren eigenen Erfahrungen als See-Anwohner trifft - die Geschichte von der Stillung des Sturms auf dem See Genezareth.
Ist das nur eine Kindergeschichte, ein Märchen, unrealistisch? Da das geschilderte Ereignis in drei Evangelien relativ identisch vorkommt, geht es wohl um eine wichtige Botschaft. Nicht der Sturm und dessen Stillung an sich stehen im Mittelpunkt, sondern das Verhalten der Jünger. Ihre Angst, ihr bis dahin fehlendes Vertrauen in Jesus, was in seinen Worten deutlich wird: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ und das Erstaunen über die Erkenntnis, was Glauben bewirken kann.
Nachdem diese Begebenheit in drei Texten vorkommt, mag man davon ausgehen, dass eine tatsächliche gemeinsame Erfahrung der Jünger mit Jesus auf dem See Genezareth vorliegt. Aber um was für einen Sturm geht es wirklich? Welchen Sturm hat Jesus gestillt?
Die Szene schildert einen Aufbruch, eine Veränderung. Symbolisch kann man diese verstehen als einen Aufbruch zu einem anderen Ufer. So sagt Jesus im Lukasevangelium: „Wir wollen ans andere Ufer des Sees hinüberfahren.“ Das bedeutet zunächst, vertrautes, sicheres Festland zu verlassen und sich auf einen unbekannten, unberechenbaren Grund zu begeben. Und da einige der Jünger als Fischer bestimmt genug Erfahrung mit Wind und Wellen haben, soll uns die Geschichte wohl eher einen anderen Sturm nahebringen - den Sturm des Herzens, den Verlust des Vertrauens, die aufkommende Unsicherheit und Angst.
Und damit legt diese biblische Geschichte für mich den Fokus auf den Sturm, welchen wir gerade erleben. Die Corona-Epidemie schlägt hohe Wellen. Grundfesten werden fraglich - die Angst um existenzielle Sicherheit, um soziales Aufgehobensein, um staatliche Stabilität greift um sich. Vieles, was bisher sicher schien, gerät ins Wanken, wird durch mächtige Wellen angegriffen.
Da hat mich das uralte Freskenbild auf der Reichenau einen anderen Blick gelehrt. Das Schiff dort wird trotz der Wellen nicht erschüttert. Es liegt wie über dem Wasser und kann so seine Fahrt ungefährdet fortsetzen, weil es Jesus gelingt, mit einigen wenigen Worten den Sturm in den Herzen zu stillen. Das ist Beispiel und Hoffnung für mich.
Wohl dem, der beten kann, wohl dem, der so beten kann: »Dein Reich komme.« Weil er nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, betet er, und weil er beten kann, hat er nicht alle Hoffnung aufgegeben. Seine Augen sind nicht verkleistert, er sieht schon genau, was ist. Er sieht, was bedrängt. Er kann die »Wasserstandsmeldungen der Sintflut« lesen, aber er sieht auch, was wird und was an neuem Leben wächst. Es sind die kleinen Dinge des Lebens, in denen und durch die etwas aufscheint von dem, was wir erhoffen, erbitten und erstreiten. Wer so betet, begnügt sich nicht mit den kleinen Dingen, sondern behält auch immer Größeres im Sinn, ohne die kleinen Dinge verächtlich machen zu müssen. Er sieht das Neue und Wunderbare, dass aus einem Senfkorn ein Baum wird, dass ein Kind in der Mitte steht, zum Lehrmeister eines Lebens aus Vertrauen wird. Er kann loslassen und weggeben, weil er das Eine gefunden hat, das ihm wertvoll ist.
»Dein Reich komme« - , ich murmele, ich stottere, ich wispere, ich bitte, rufe, flehe diesen wunderbar einfachen, so öffnenden, weitenden, atemgebundenen Satz vor mich hin, wohl hunderte Male gesprochen, entdecke ich ihn.
Das Reich Gottes und seine neue, andere Gerechtigkeit will den Menschen allen zugute kommen, zu ihnen kommen, ihnen die Augen öffnen dafür, »dass es auch anders geht«.
Wer so betet, weitet seinen Blick auf die ganze Menschenwelt, bittet nicht um sein eigenes Reich, sondern um ein Reich, das alle unsere Reiche überschreitet, überwölbt, übersteigt. Wer so betet, kann keine rassistische, ideologische oder religiös-konfessionelle Überordnung der einen über die anderen wollen oder zulassen. Wer so betet, muss sich gegen nationalistische Verengung wenden. Wer jedweder Form rassistischer oder nationalistischer Überhöhung nicht aktiv entgegentritt, soll nicht so beten!
Das Reich Gottes ist ein Raum, etwas, auf das wir zugehen und das auf uns zukommt, das uns zukommt. Dein Reich komme, das kann ein Notschrei, ein Bittruf, ein Hoffnungsseufzer, eine Routineformel, eine Widerstandsparole, vor allem eine hoffende Bitte sein.
Friedrich Schorlemmer, in: ders. (Hrsg.), Das soll Dir bleiben, Texte für morgens und abends, Radius-Verlag Stuttgart, 2012, Seite 655.
Auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund hielt Prof. Dr. Dr. h.c. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, München, eine vielbeachtete Rede unter diesem Titel. Durch die Corona-Pandemie ist sie nach wie vor brandaktuell - man könnte alle Aussagen auf die heutige Zeit bezogen verstehen.
Diese drei Worte, zurückgehend auf das biblische »Fürchtet euch nicht!«, transportieren Kraft, Optimismus, und Hoffnung. Aber wenn man an Trump, Erdogan, Kaczynski, Orban und Le Pen denkt, fällt Entängstigung schwer. Wer vor den bedrohlichen Nachrichten in die Natur flieht, merkt, dass auch hier etwas nicht stimmt: es summt verhaltener, es zwitschert leiser, Bienen und Bäume sterben massenweise. Anderswo Überschwemmungen, Tsunami, Brände - die Polkappen schmelzen. Und dann Präsidenten, die den Klimawandel leugnen, denen die Wirtschaft wichtiger ist, die dafür am liebsten Krieg führen würden. Und in China: hier wurden die ersten Kinder geboren, deren Genetik mit der Genschere Crispr Cas bearbeitet worden ist, die Zwillinge Lulu und Nana - trotz ethischer Bedenken gegen den Einsatz dieser Methode. Trotz schnurrender Wirtschaft, hoher Beschäftigung konstatierte Prantl ein Gefühl des Unwohlseins, der Unsicherheit, weil heranrollendes Unheil spürbar sei - in der Natur, bei politischer Konfrontation zwischen den Großmächten. Und populistische Extremisten, die Nationalismus als Heilslehre propagieren, kommen noch dazu. Der Satz von Franz Grillparzer »Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität« (1849) lässt an politische Grobheit, gemeine Rede und gemeine Tat denken, die Anstand und Respekt missachten. Aber jedem Menschen, dem heimischen Arbeitslosen, dem Flüchtling und dem politischen Gegner steht Achtung zu.
Auch die Geschehnisse in Jemen, Afghanistan, Irak, Syrien, Sudan und Libyen vermitteln ein Ohnmachtsgefühl, manch einer, der engagiert Flüchtlingen geholfen hat, fühlt sich hilflos, weil es auf den Einzelnen nicht mehr anzukommen scheint. Prantl bezieht das Wort bei Lukas Es wird ein Bangen sein unter den Völkern (21,25) auf die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen und hier ein besseres Leben suchen, und formuliert: »Die Flüchtlinge kommen aus der Zukunft, die hier noch nicht angekommen ist.« Er hat sicher recht, wenn er sagt: »Die Abwehr gegen sie rührt nicht nur daher, dass sie nicht sind wie wir, sondern auch daher, dass wir nicht werden wollen wie sie.« In diesem Zusammenhang bringt er Immanuel Kant (»Zum ewigen Frieden«, 1795) mit der Aussage der Bergpredigt über Frieden zusammen, nämlich, dass dieser kein natürlicher Zustand ist, sondern gestiftet werden muss. Doch - wer stiftet?
In der Bibel ist es der Ausblick auf das Kommen des Menschensohns, der Menschlichkeit verkörpert. Ist ein solcher heute in Sicht, wo doch die Verächter der Menschlichkeit viel mehr im Kommen sind? Doch auch, wenn in Krisenzeiten alles hoffnungslos erscheint, haben wir die Wahl: man kann den Glauben aufgeben. Man kann sich vergraben, sich in Zynismus flüchten - oder in den Konsum. Man kann sich verschließen und resignieren. Man kann es aber auch anders machen, so, wie die Jünger an Pfingsten, die in aller Hoffnungs- und Trostlosigkeit plötzlich eine unbändige Kraft in sich spürten. Diese befähigte sie, sich wieder unter die Leute zu wagen, von Auferstehung und von einer neuen Welt zu sprechen. Es machte sich wieder Hoffnung breit, immer mehr Leute schlossen sich ihnen an und die Jünger nannten diese Kraft Heiligen Geist.
In unserer Zeit ereignete sich Ähnliches: Ein 15jähriges Mädchen traute sich nicht unter Menschen, hatte Panikattacken, eine Ess- und Angststörung, Autismus. Es sah Filme über Klimazerstörung und dachte, dass ihrer Generation die Zukunft gestohlen würde. Eines Tages folgte sie einem inneren Gefühl, ging nicht zur Schule und setzte sich mit einem selbstgemalten Schild »Schulstreik fürs Klima« auf den großen Platz vor dem Königspalast in Stockholm. Sie saß nur einfach da, aber die Menschen wurden neugierig und fragten. Sie heißt Greta, sie gewann Anhänger, immer mehr - und durch sie wuchs neue Hoffnung.
Die wahre Katastrophe besteht darin, dass es trotz der Katastrophe einfach immer so weiter geht, dass man einfach immer so weitermacht, ... als sei die Zukunft unabwendbares Schicksal, meint Prantl. Aber es geht um die Rettung des Visionären, denn die Zukunft kommt nicht einfach so über uns, ist nichts Festgefügtes - es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt und die daher in jedem Moment veränderbar ist. Sie wird durch die Entscheidungen, die die Menschen treffen, die Richtung, die die Gesellschaft einschlägt, gestaltet. Sie bestimmen, wohin sie gehen wollen, wie sie darauf hinleben und hinarbeiten. Dann ist die Zukunft nicht das reine Überleben, sondern die Möglichkeit, ohne Angst um die Existenz friedlich leben zu können.
Darf man keine Angst haben, um eine solche Zukunft zu gewinnen? fragt Prantl. Aber er weiß, dass Angst zum Leben gehört, dass es keine angstfreien gesellschaftlichen Räume gibt. Aber auch wenn Angst nicht schön ist, hat Angst eine Funktion. Sie kann lebenswichtig sein, sie schützt, sie kann Quelle sein für Kreativität und Befreiung und ihr wohnt der Wunsch inne, sie zu überwinden. Das wollte Greta im Januar 2019 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos allen deutlich machen: »Ich will, dass ihr Angst habt«, hat sie der Wirtschaftselite dort zugerufen, »Erwachsene«, so sagte sie, »sagen immer wieder: wir sind es den jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu geben. Aber: Ich will Eure Hoffnung nicht. Ich will, dass Ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.« Angst, das meint sie, weckt auf. Angst ist wie Schmerz ein Warnsystem. Wer Angst nicht zulässt, bringt sich und andere in Gefahr. »Wir Kinder tun dies, um Sie, die Erwachsenen, aufzuwecken. Wir Kinder tun dies, weil wir unsere Hoffnungen und Träume zurückhaben wollen.«
Es geht nicht darum, eine lähmende Angst zu erzeugen, sondern darum, fruchtbar damit umzugehen. Angst kommt von Enge und erzeugt das diffuse Gefühl, bedroht zu sein. Dagegen spricht man von Furcht, wenn man etwas Konkretes befürchtet. Der Aufruf »Ängstigt euch nicht!« bedeutet: verwandelt eure lähmende Angst in produktive Furcht. Machen wir uns klar, was uns bedroht, ist das der erste Schritt dazu.
»Ja, man muss sich fürchten, wenn die Mieten unbezahlbar werden. Ja, man muss sich vor Armut im Alter fürchten, wenn die ordentlich bezahlten Stellen zu knapp sind. Ja, man muss sich vor Kriegen fürchten, wenn Teile der Erde unbewohnbar werden. Ja, ja und ja. Aber man kann etwas dagegen tun, man kann die Ursachen bekämpfen, wenn genug Wille da ist. Und auch dafür kann man etwas tun«. Extremistische Populisten verallgemeinern anstatt zu konkretisieren und verschleiern anstatt zu analysieren, lenken die Angst auf die falschen Objekte: "die Migranten", "den Islam" und verwandeln dadurch die Angst in Hass. Außerdem kann sie anfällig machen, sich manipulieren zu lassen.
Dann erhält die Sicherheit einen besonderen Wert. Oft wird dann die Verhältnismäßigkeit neuer Maßnahmen gar nicht mehr lange geprüft - Hauptsache, es geschieht etwas. Wie beim Krieg gegen den Irak merkt man dann oft erst später, dass die Dinge am Ende schlimmer sind als vorher. »Im Namen der Sicherheit wird überwacht, was das Zeug hält, werden Rechte ausgeschaltet, Kriege angezettelt. Im Namen der Sicherheit werden Daten gesammelt ohne Ende.« Aber je mehr Sicherheit beschworen wird, desto furchtsamer werden die Menschen. Angst kann sich verselbständigen und durch die sogenannten sozialen Netzwerke beschleunigt werden - Mobbing ist die Sache eines einzigen Klicks. Im Internet entstehen zunehmend Räume, in denen sich Menschen aus Ängstlichkeit nur in solchen Gruppierungen bewegen, die ihre eigene Meinung - und Vorurteile - wiederspiegeln. Aber Abschottung ist nicht das Mittel gegen Angst und Ängstlichkeit - dagegen hilft nur Begegnung - das ist die Pfingsterfahrung. »Wären die Jünger damals hocken geblieben, hätten sie sich die Ohren zugehalten vor dem Brausen, die Feuerflammen ausgepustet und die Türen verriegelt - es gäbe uns heute hier nicht, es gäbe keinen Kirchentag, es gäbe kein Christentum.«
Außerdem: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (2. Timotheus 1,7). Der Geist der Kraft treibt uns zu Taten an. Es ist eine Kraft, die manchmal sogar nach Schwäche aussieht: die Kraft auf den eigenen unmittelbaren Vorteil zu verzichten, die Kraft nicht zurück zu schlagen, ein verletzendes Wort ungesagt zu lassen, die Kraft, von neuem die Verhandlung zu suchen.
Mit dem Geist der Liebe ist etwas sehr Konkretes und Tätiges gemeint. Gemeint ist zupackende Solidarität. Der Geist der Liebe fragt danach: was braucht dieser Mensch hier und jetzt? Es ist dieser Geist, der der Flüchtlingspolitik so sehr fehlt.
Mit dem Geist der Besonnenheit ist gemeint, nichts mit Unvernunft zu tun. Man muss nicht seinen Verstand abstellen, wenn man das Gebiet der Religion betritt. Man muss seine Sinne benutzen, ... das Hirn einschalten. Denken ist besser als Twittern. Und der kleine Widerstand gegen den alltäglichen Rassismus, gegen den Nationalismus, gegen die Entsolidarisierung, gegen die Ökonomisierungsexzesse und gegen den Datensammelwahnsinn ist besser als das Surfen mit dem Zeitgeist. ... Der Widerstand, von dem ich rede, heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang. Er besteht ... im Mut zu offener Kritik, in der Demaskierung von Übelständen.
Dieser kleine Widerstand ist oft auch der Widerstand gegen die eigene Angst, gegen die eigene Bequemlichkeit, gegen das eigene Angepasstsein. Gleichzeitig steckt in diesem Widerstand die Kraft der Hoffnung, für die das wichtigste christliche Zeichen, das Kreuz, steht. Ängstigt euch nicht. Fürchtet euch nicht. Die Kraft der Hoffnung ist die Kraft gegen die Angst.
Zusammenfassung: Karin Klingbeil
Es ist zwar kein rundes Jubiläum, aber wir sollten das Jahr 2020 nicht vorübergehen lassen, ohne an die Anfänge unserer Zeitschrift zu erinnern, die 1845 unter dem Namen »Süddeutsche Warte - Zeitschrift für das gesamte Volksleben Deutschlands« erstmals erschien. Die erste Ausgabe datierte vom 17. Mai 1845 und ließ bereits im Vorwort die pietistisch-nationalkonservative Linie erkennen, die die drei Herausgeber, die Gebrüder Philipp und Immanuel Paulus und ihr Freund und Schwager Christoph Hoffmann, mit dem neuen Wochenblatt verfolgen wollten: Ziel sei es, den evangelischen christlichen Glauben auf die »Zustände und Zeiterscheinungen unseres deutschen Volkslebens« anzuwenden. Die dem deutschen Volk von Gott verliehenen Güter könnten nur bewahrt werden, »wenn wir an den Grundlagen der bestehenden Ordnung festhalten, das göttlich und sittlich Geheiligte hochachten, dem Fortschritt der Wissenschaft und Kunst gewissenhaft folgen und mit ernstem Sinn der Einheit und Belebung des deutschen Volksgeistes dienen.« Der »religiösen und politischen Zuchtlosigkeit« wolle man sich entgegenstellen, aber auch der Engherzigkeit und »Teilnahmslosigkeit für die allgemeinen Interessen.« Beachtlich war die Bandbreite der geplanten Rubriken: In »leitenden Artikeln« sollten »wichtige Zeitfragen erörtert, gefährliche Irrtümer bekämpft, ausgezeichnete Persönlichkeiten und sonstige Erscheinungen beurteilt« werden. Auch geschichtliche Aufsätze und Korrespondenzen fänden dort ihren Platz. Dass man über den schwäbischen Tellerrand hinausschauen wollte, wurde in der Ankündigung deutlich, unter der Überschrift »Weltlage« die wichtigsten Ereignisse des In- und Auslandes darzustellen. In einem Abschnitt »Schwaben« wolle man sich dagegen stärker mit den Vorfällen in der Heimat befassen. Buchbesprechungen seien unter der Überschrift »Musterung« zu finden und bei Bedarf werde zur »Verteidigung gegen besondere Gegner und ihre Angriffe« eine Rubrik »Polemik« eingeschaltet.
Der letzte Punkt verdeutlicht, dass die neue Zeitschrift in erster Linie als »Kampforgan« gegen prominente Vertreter der historisch-kritischen Bibelauslegung wie etwa Ferdinand Christian Baur, Theodor Vischer und David Friedrich Strauß dienen sollte. Theodor Vischer war im Jahr zuvor zum Professor für Ästhetik an der Universität Tübingen berufen worden und hatte sich in seiner Antrittsvorlesung zum Pantheismus bekannt, was die Pietisten im ganzen Land empörte. Dagegen hatte sich Christoph Hoffmann zu Beginn des Jahres 1845 mit seiner Schrift »21 Sätze wider die neuen Gottesleugner in Tübingen« gewandt; für ihn war das Bekenntnis zum Pantheismus gleichbedeutend mit Gottesleugnung und Götzendienst. Durch die kleine Schrift wurde Hoffmann in pietistischen Kreisen weithin bekannt. Mit dem neuen Kampforgan »Süddeutsche Warte« wollten Hoffmann und seine Freunde nun den vermeintlich verderblichen antichristlichen Einflüssen entgegentreten und die »Schäden der Zeit« schonungslos aufdecken. Durch die Zeitschrift wuchs die Popularität Hoffmanns unter den Pietisten weiter, mit deren Unterstützung er schließlich 1848 als Gegenkandidat von David Friedrich Strauß im Wahlkreis Ludwigsburg in die Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt wurde.
Berufliche Wirkungsstätte Hoffmanns und seiner Mitherausgeber war in dieser Zeit die »christlich-wissenschaftliche Bildungsanstalt« auf dem Salon bei Ludwigsburg, die 1837 von Beate Paulus, der Tochter Philipp Matthäus Hahns, gegründet worden war. Hier unterrichtete Hoffmann bis 1853 Philologie und Geschichte. Ab 1. Juli 1852 fungierte er als alleiniger Herausgeber der »Warte«, um seinen immer kompromissloseren Weg zur Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem auf der Grundlage der biblischen Weissagungen ohne Einfluss Dritter vertreten zu können. War die Zeitschrift bis dato das Sprachrohr breiter christlich-pietistischer Kreise, so wurde sie nun zum Publikationsorgan der religiösen Weltsicht Christoph Hoffmanns, der zunehmend in Distanz sowohl zur Amtskirche als auch zum konservativen Pietismus geriet.
Im Laufe der Zeit änderte die Zeitschrift Name, Erscheinungsbild, Umfang und Veröffentlichungsturnus mehrfach. 1854 wurde sie in »Süddeutsche Warte, religiöse und politische Zeitschrift für das christliche Volk« umbenannt, zwei Jahre später in »Süddeutsche Warte, religiöses und politisches Wochenblatt für das Volk«, 1868 in »Süddeutsche Warte, religiöses und politisches Wochenblatt für das deutsche Volk«, 1877 in »Die Warte des Tempels« mit gleichem Untertitel, 1882 in »Die Warte des Tempels, Wochenblatt zur Belehrung über die wichtigsten Fragen unserer Zeit«, dann zur »Beleuchtung der wichtigsten Fragen unserer Zeit«, 1912 in »Jerusalemer Warte« (in Palästina herausgegeben und gedruckt) und 1926-1939 in »Die Warte des Tempels, Halbmonatsschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens«.
Die erste Unterbrechung in ihrem Erscheinen kam durch den Ersten Weltkrieg. Seit Januar 1912 war die Zeitschrift als »Jerusalemer Warte« in Palästina verlegt und gedruckt worden, ab Februar war sie mit dem arabischen Schriftzug versehen. Doch ab November 1917 erschien sie wegen der Einnahme Jerusalems durch die Briten bis April 1921 nicht mehr. Deshalb wurde die Redaktion wieder nach Deutschland verlegt; der Schriftleiter Prof. Dr. Imanuel Hoffmann begrüßte seine Leser nach diesen dreieinhalb Jahren Pause mit den Worten, dass zwar die »Warte« beim Wiederaufbau nicht fehlen dürfe, dass man aber Mittel und Kräfte nicht überschreiten dürfe, sondern lieber wieder klein anfangen solle. Daher kam über dieses ganze Jahr die »Warte« nur als vierseitiges Monatsblatt heraus, bis es ab Januar 1922 zwar immer noch vierseitig, aber wieder als ein Halbmonatsblatt herausgegeben wurde.
Die zweite, bedeutend längere Unterbrechung war durch den Zweiten Weltkrieg bedingt. Die letzte Nummer war am 31. August 1939 erschienen, dann war es lange Zeit wegen der allgemein auferlegten Beschränkungen nicht möglich, Zeitschriften herauszugeben. In Deutschland gab die Gebietsleitung, vertreten durch Jon Hoffmann, stattdessen sogenannte Rundschreiben heraus. Die 16. Ausgabe im Dezember 1941 erschien noch, die Veröffentlichung der folgenden Ausgabe wurde allerdings untersagt. Erst Weihnachten 1946 wandte sich Gebietsleiter Jon Hoffmann erneut an seine Leser. Bis März 1949 kamen in unregelmäßiger Folge weitere Rundschreiben heraus, die - nach einer kurzen geistlichen Betrachtung - Nachrichten über die Mitglieder in Deutschland, Palästina und Australien und andere Mitteilungen von Wichtigkeit enthielten. Dann entschied die Gebietsleitung, die »Warte« wieder erscheinen zu lassen, und so erschien im September 1949 »Die Warte des Tempels, Zeitschrift der Tempelgesellschaft« mit der Nummer 1 erneut, mit Jon Hoffmann als Schriftleiter. In dieser ersten Ausgabe verdeutlichte er nochmals das Ziel der Zeitschrift:
» ... Ort und Umstände des Erscheinens der Warte, wie auch der Name, haben im Lauf der Geschichte wiederholt gewechselt. Aber in der Sache ist sie sich gleich geblieben. «Zeitschrift für das gesamte Volksleben Deutschlands» hatte sie sich anfangs im Untertitel genannt und damit ihr umfassendes Streben angedeutet. Diese Weite der Schau hat sie beibehalten und sie soll ihr erhalten bleiben. Erhalten bleiben soll ihr aber auch die Aufgabe, die sie sich frühzeitig gestellt hatte und die sich deckt mit der Aufgabe der Tempelgesellschaft überhaupt: das Wirken für die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden. ...«
Bis 1973 änderte sich an der Gestaltung der »Warte« nichts, dann wurde die Aufmachung modernisiert; sie erhielt den Untertitel »Monatsschrift zur Vertiefung in die Daseinsfragen des Menschen« und der Umschlag bekam Farbe, die jeweils für einen Jahrgang beibehalten wurde. 1983 änderte sich der Untertitel in »Monatsschrift für freie Christen«. Im Jahr 2000 bekam die »Warte« nochmals ein neues Gesicht, das sie bis heute hat. Der Untertitel lautet nunmehr »Monatsschrift für offenes Christentum«. Diese Bezeichnung ist Programm - von der engen konservativen Haltung der Anfangszeit ist das heutige Redaktionsteam, das sich aus Mitgliedern des Ältestenkreises zusammensetzt, denkbar weit entfernt. Dennoch: Für neue Redakteure und spannende Beiträge aus der Feder unserer Leserinnen und Leser sind wir stets dankbar.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das entsprechende Kapitel in unserer Publikation »Die Tempelgemeinde Stuttgart im Wandel der Zeiten«, 2017, S. 52/53, verwiesen. Das reich bebilderte Buch kann weiterhin für 18 Euro bei der Verwaltung bezogen werden.
In Erfurt hat ein Künstlerduo aus Israel im September einen acht Meter hohen Olivenbaum auf dem Petersberg, unweit vom katholischen Dom, errichtet, allerdings nicht aus Holz, sondern aus Stahl und Kupferblättern. Der Paradiesbaum, wie die Künstler ihn nennen, ist ein Symbol für Frieden und Hoffnung. Es gibt ihn schon in ähnlicher Form in Israel und es ist natürlich kein Zufall, dass ein arabisch-christlicher Künstler und eine Jüdin aus Israel sich zu diesem Projekt zusammengefunden haben. Die Erfurter konnten zum Wachstum des Baumes beitragen, indem sie ein Kupferblatt kauften und an dem Baum befestigten. Der israelische Bildhauer Nihad Dabeet (Jahrgang 1968) aus Ramleh ist von der Akzeptanz der Erfurter Bevölkerung sehr angetan: »Die Leute hier sind neugierig und ich spüre ein großes Wohlwollen. Aber meine Arbeit ist getan; es ist jetzt euer Baum geworden, er gehört nun euch und eurer Stadt.« Die Idee zu dem Paradiesbaum hatte Alexandra Nocke, Kulturwissenschaftlerin aus Berlin. Sie hatte in Jerusalem eine Skulptur in Form eines schönen Olivenbaums entdeckt und sich in den Kopf gesetzt, etwas Ähnliches nach Erfurt zu holen, als Teil der ACHAVA-Festspiele, die in verschiedenen Orten Thüringens erstmals 2015 stattfanden und ein Zeichen für Toleranz und Dialog setzen sollen. Das hebräische Wort »Achava« (Brüderlichkeit) ist dafür ein Schlüsselwort. Die Thüringer Landeshauptstadt ist für diesen jüdischen Beitrag zum interreligiösen Dialog prädestiniert, befindet sich doch dort die Alte Synagoge Erfurt, die älteste erhaltene Synagoge Europas, die zum Teil aus dem 11. Jahrhundert stammt. Zu den ACHAVA-Festspielen gehören etliche Konzerte internationaler Künstler, Ausstellungen und Gesprächsreihen sowie Schüler-Programme.
Auch der Erfurter Paradiesbaum verbindet Menschen und Religionen, denn neben dem israelischen Christ Nihad Dabeet hat die israelisch-jüdische Künstlerin Ruth Horam (Jahrgang 1931) aus Jerusalem daran gearbeitet. Hierzu Nocke: »Zwei Menschen, die sich gefunden haben, die ungleicher nicht sein können, die beide in Israel aufgewachsen sind, wo eben der Olivenbaum Teil ihrer Seelenlandschaft ist und Teil ihrer Kindheit.« Den Stamm des Baumes hat Nihad Dabeet auf Abrisshalden gesucht und gefunden: dicker, gewundener Baustahl, der einst Häusern Halt gab. Jetzt wachsen daraus filigrane Kupferblätter, die er verdrahtet und verlötet, jedes ein Unikat. 70000 sind es bisher, aber Nihad Dabeet findet, dass da noch Platz für mehr wäre. Wer wollte, konnte ein paar Blätter vorab erwerben und auch selbst befestigen; viele haben das getan. Auf die Frage, wie es für ihn sei, diesen Baum gemeinsam mit einer jüdischen Israelin zu schaffen und das auch noch in Deutschland, erklärt Nihad Dabeet: »Das ist eine gute Frage. Ich komme zwar aus einer christlichen Familie, aber Zeit meines Lebens glaube ich: wir machen die Religion, die Länder, die Flaggen, die Nationalitäten. Es sind unsere Kreationen; wir sind dafür verantwortlich und sind alle Menschen. Es ist absolut egal, ob du Jude bist, Moslem oder Christ, Buddhist oder was auch immer. Keiner von uns konnte vorher auswählen, was er sein wollte.« Und so kommt er mit Menschen ins Gespräch, über Religionen, über Kunst, über Israel. Sein Lebensmotto ist einfach: tue Gutes und nutze im Leben die Zeit, die du hast. Der Olivenbaum, so hofft er, gibt auch seine gute Energie weiter und die seiner Freundin Ruth. Mit der Menschheit sei es wie mit der Kunst, es müsse nicht kompliziert sein: »Meine Frau ist Muslima, ich selbst bin Christ und wir leben friedlich zusammen. Und mein bester Freund ist Jude.« Während er dies lächelnd sagt, klemmt er ein neues Kupferblatt an den Baum und fügt hinzu: »Das Beste ist, nach dem ersten Regen werden diese Blätter grün und bleiben es auch.« Dann werden sie fast so aussehen wie echte Blätter eines Olivenbaums.