Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 176/4 - April 2020

 

 

Suchet der Stadt Bestes - Karin Klingbeil

Der dankbare Samariter - Peter Lange

Chatschkare - armenische Kreuzsteine - Wolfgang Blaich

Märtyrer und herausragender Theologe - Karin Klingbeil

»Das größte Risiko ist nicht das Coronavirus« - Domenico Squillace

Noch einmal Theodor Fontane - Wolfram Zoller

Eine biblische Plage in unserer Zeit - Peter Lange

Suchet der Stadt Bestes

Jeremia 29,4-9

Man könnte denken, dass diese Aufforderung aktuell in unsere Zeiten gesprochen ist - denn gerade sind alle Bürger aufgerufen, sich im Sinne des Gemeinwohls zu verhalten...

Doch sie ergeht durch den Propheten Jeremia an die nach Babylon verschleppten Juden et­wa 590 vor unserer Zeitrechnung! Nachdem Jeremia über viele Jahre hinweg Uneinsichtigkeit und Schuld des Volkes Israel gegenüber seinem Gott angeprangert und auch seine unzähligen, nutzlosen Warnungen vor der Strafe Gottes beschrieben hatte, war es geschehen: 597 erschien König Nebukadnezar zum ersten Mal vor Jerusalem - der israelitische König Jojachim ergab sich und wurde mit einem Teil der Oberschicht nach Babylon deportiert.

Jeremia sah - wie alle Propheten - die politischen Ereignisse vor dem Hintergrund des be­sonderen Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk. Schon der Untergang des Nordrei­ches war als Bestrafung Israels wegen des Abfalls von seinem Gott empfunden worden. Auch die jetzige Situation wurde damit erklärt, dass seine Verantwortlichen und das Volk die Wei­sungen Gottes missachteten, ihr Heil in politischen Bündnissen suchten und sich anderen Göt­tern zuwandten. Gleichzeitig wiegte man sich durch die Bewahrung Jerusalems bis zu diesem Punkt in falscher Sicherheit, weil das Vertrauen in Tempel und Gottesdienst ungebrochen war.

Doch in dem Brief an die Verschleppten, den Jeremia einer offiziellen Gesandtschaft nach Babylon mitzugeben vermochte, ist keine Rede mehr von Vorwürfen und Schuld. Stattdessen wird den Deportierten der Rat gegeben, sich so zu verhalten, als wären sie zu Hause: sie sollen Häuser bauen, ihre Nahrung anbauen und davon leben, sich vermehren - damit sie nicht zahlenmäßig weniger würden.

Offenbar waren alle diese Möglichkeiten auch gegeben, denn wie bei anderen Eroberungen hatten die Babylonier vor allem Teile der Oberschicht ins Exil verschleppt, damit durch sie später kein Aufstand organisiert würde. Aber den Verschleppten boten sich vergleichsweise angenehme Lebensumstände. Sie wurden nicht wie Sklaven gehalten und saßen auch nicht weinend an den Flüssen von Babylon und dachten an Zion, wie es in Psalm 137 heißt. Sie durften sich in eigenen Kolonien ansiedeln und ohne jeden Zwang Handel und Landwirtschaft betreiben, Häuser bauen und sich selbst verwalten. Ihre Traditionen und religiöse Identität konnten sie so bewahren. Einige erhielten sogar eine Ausbildung für den babylonischen Staatsdienst. Dass es den Juden in Babylon gut ging, zeigt die Tatsache, dass später, als sie wieder in ihre Heimat zurückkehren durften, etliche von ihnen in Babylon blieben.

Der Auftrag Gottes - und den leitete Jeremia ja weiter - lautete also: nicht dem Verlorenen nachzutrauern, sondern die Realität anzunehmen und das Beste daraus zu machen. So liegt auch die Quintessenz in der Aufforderung: Suchet der Stadt Bestes! Weil nämlich, wenn es der Stadt gut geht, es auch denen, die darin leben, gut geht - auch Verschleppten. Und "suchen" heißt - damals wie heute - sich nicht zurückziehen von dem Gemeinschaftsgeschehen, son­dern sich aktiv einbringen; schauen, was dem Gemeinwohl nützt, und etwas dafür tun; auch offen sein für die Bedürfnisse der anderen und zur Besserung beitragen. Suchen heißt außerdem, erst einmal zu schauen, was notwendig ist, vielleicht auch eigene Einstellungen und Überzeugungen im Widerstreit mit anderen nochmals zu überdenken und vielleicht zu verändern, damit sie in die neue Situation passen, auch wegen der Rechte der anderen.

Außerdem heißt es weiter: betet für sie zum Herrn. Dass die Verschleppten ihre Widersa­cher in ihr Gebet einschließen sollen, halte ich für einen bemerkenswerten Rat. Aber er passt zu der Aufforderung "Suchet der Stadt Bestes". Wer für andere betet, will zumindest, dass Gott auch für diese anderen sorgt, will, dass auch diese anderen das bekommen, was sie brau­chen. Die Überlegung, auch anderen, gar Fremden oder Widersachern, das für sie Nötige zu­zugestehen, ist die wichtigste Grundlage für Frieden - und erinnert an die Aussage von Jesus: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen - auch hier ist ja nicht die emotionale Liebe und Zuneigung gemeint, sondern der Respekt vor den Bedürfnissen der anderen, selbst wenn es "Feinde" sind. Wenn wir diese Einstellung annehmen können, haben wir die beste Grundlage für einen echten Frieden gelegt. Dass dieser Rat aber schon ca. 600 Jahre vor Jesus von Gott an die nach Babylon Verschleppten ergeht, könnte ein Hinweis auf ein neues Denken sein: Gott wendet sich nicht nur an sein Volk Israel, sondern bezieht auch dessen Widersacher mit ein, wird also vom alleinigen Gott Israels zum Gott aller Völker.

Zu der Aufforderung, sich in der Fremde niederzulassen und sich nicht gegen die Machtha­ber aufzulehnen, kommt im weiteren Text die Verheißung, dass die Gefangenschaft nicht endgültig sein, sondern "nur" 70 Jahre lang dauern soll. 70 Jahre sind - gemessen an einem Menschenleben - relativ viel und es war fraglich, wie viele der Verschleppten wieder in die Heimat zurückkehren würden. Aber im damaligen Denken war nicht das Individuum, sondern das Volk Israel wichtig. Ihm wurde nun die Rückkehr verheißen, und zwar nicht irgendwann, sondern zu einem ganz konkreten Zeitpunkt. Die Juden in Babylon arrangierten sich - und aus der Katastrophe erwuchs etwas Neues und Positives. Um zu verhindern, dass die Juden in dem Vielvölkergemisch Babylons aufgingen, tat sich die religiöse Elite zusammen und betonte die Besonderheit des jüdischen Glaubens. Die Thora und die jüdische Gelehrsamkeit wurden zum Mittelpunkt des Lebens, und weil der heimatliche Tempel für das gemeinsame Gebet fehlte, entstanden wahrscheinlich die ersten Synagogen. In dieser Zeit wurde mit der Priester­schrift wohl auch die letzte Fassung des Pentateuch, der fünf Bücher Mose, vervollständigt. So gilt das babylonische Exil als eine der fruchtbarsten Zeiten der jüdischen Theologie.

Es ist ein religionsgeschichtliches Phänomen, dass die Israeliten ihrem Gott treu blieben, obwohl sie durch die historischen Ereignisse - Untergang des Nordreiches, Sieg der Babylo­nier und Verschleppung, schließlich auch noch die Zerstörung des Tempels - allen Grund gehabt hätten, ganz von ihm abzufallen. Andere Völker verehrten ihren Gott in der Regel so lange, wie er sie beschützte. Wurde das Land aber besiegt, so war wohl der Sieger-Gott stärker. Dagegen führte das Exil nicht dazu, dass der Jahwe-Glaube aufgegeben und der Gott der Sieger übernommen wurde. Dafür gab es vor allem einen Grund: die Schriftpropheten. Sie lieferten eine Deutung, die das Gottesbild rettete: der Gott des Volkes Israel war nicht zu schwach, um sich gegen die Babylonier zu behaupten, sondern er bediente sich ihrer, um Israel für seine Sünden zu bestrafen. So wurde die Rede vom "Zorn Gottes" über diese Sünde zur theologischen Erklärung für das Exil.

Außerdem kündigte Gott durch Jeremia nicht nur die Rückkehr der Israeliten nach 70 Jahren an, sondern gab ihnen Hoffnung für die Zukunft, sagte ihnen Frieden statt Leid zu und brachte zum Ausdruck, dass die besondere Verbindung zu seinem Volk nach wie vor bestand: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen. Das allerdings war für die damalige jüdische Glaubensauffassung ebenfalls etwas ganz Neu­es, denn zur Zeit des Tempels war ausschließlich hier der Thron Gottes und somit der Ort der kultischen Anbetung. Hier, auf dem Zion, war die Stätte, von der Gottes Heil für Israel ausging, hier herrschte er über seine Feinde und Zion selbst würde zum Mittelpunkt des allumfassen­den Friedensreiches werden, zu dem alle Völker pilgern würden.

Ist der Text auch für uns heute noch von Belang? Ich denke schon, und zwar in verschie­dener Hinsicht. Zwar gehen wir heute anders an die Zusammenhänge heran, sowohl an die historischen als auch an die religiöse Prophetie. Die strategische Lage des kleinen Königtums Juda wurde von den Großmächten Ägypten und Assyrien, dann dem erstarkenden Babylon bedroht - dennoch wollte Israel der Realität nicht ins Auge blicken und vertraute auf den Schutz seines Gottes, wohl auch, weil Jerusalem bei der Belagerung durch die Babylonier zunächst nicht gefallen war. Wir heute stellen keine direkte Verbindung zwischen den Ereignissen und einem Gotteswort her, sondern sehen eher eine Konsequenz aus unserem Tun. Dennoch haben wir hier ein Phänomen, das wir auch heute in unserer Gesellschaft beobachten können: seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts warnen Klimatologen und Meteorologen vor der steten Erwärmung der Atmosphäre durch unsere Lebensweise - Industrie, Verkehr, Massentierhaltung zur Fleischproduktion. Doch in Zeiten der Erdölkrise waren die autofreien Sonntage wenig mehr als ein Event; die Grünen propagierten schon damals 5 DM pro Liter Benzin, damit der Verkehr reduziert würde, ernteten aber nur Spott und Häme.

Wir haben uns an unsere bezahlbare Bequemlichkeit gewöhnt - unser Konsum legt täglich Zeugnis davon ab. Erst langsam beginnt ein Umdenken darüber, was alles von dem, was wir tun, umweltschädlich ist. Solange direkte Auswirkungen uns hier in Europa nicht betrafen, wurden in der Politik halbherzig Klimaziele formuliert, die dann auch nicht eingehalten wurden - zu groß war die Furcht vor einschneidenden Veränderungen. Auch als wir hier von immer heftigeren Stürmen heimgesucht wurden, sich immer häufiger Hochwasser ereignete - anders­wo in der Welt noch viel mehr als bei uns -, die Temperaturen zumindest im Sommer spürbar anstiegen und mancherorts monatelang kaum Regen fiel, geschah auf den Klimakonferenzen nicht viel mehr. Uns Ältere werden die wirklich schlimmen Folgen unseres Raubbaus wohl nicht mehr treffen, aber was ist mit unseren Kindern und Kindeskindern? Erst als Schüler begannen, sich öffentlich um ihre Zukunft zu sorgen und nachhaltig protestierten, kam etwas Bewegung in die Politik - aber auch unsere Gesellschaft will von den Schreckensszenarien nichts hören und hofft darauf, dass es schon nicht so schlimm kommen werde.

Das andere Thema, das in unserem Text angesprochen ist und das heute ebenso aktuell ist, ist das Thema Exilanten oder, allgemeiner, Flüchtlinge. Die Israeliten waren zwar unfrei­willig in ein anderes Land deportiert worden, und es geht darum, wie sie sich integrieren und dort leben sollen. Vieles davon - sich für das Gemeinwohl einzubringen und sich zu enga­gieren - würden wir gerne Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, sagen - aber lassen wir überhaupt eine solche Integration bei uns zu? Wir versuchen doch mit allen Mitteln, Flüchtlinge jeder Art aus unserem Europa fernzuhalten und sie abzuschrecken, z.B. dadurch, dass sie hier nicht direkt arbeiten dürfen.

Ich weiß, dass wir nicht alle Flüchtlinge, die gern zu uns kämen, hier aufnehmen können, aber mich bedrückt der Gedanke, wie diese Menschen, die aus einer persönlichen Not - sei es Krieg, Verfolgung oder wirtschaftliche Not - geflohen sind und dabei oft ihr Leben riskiert haben, menschenunwürdig in Lagern ihr Leben fristen müssen, mit Wasserwerfern und Trä­nengas daran gehindert werden, sich der europäischen Grenze auch nur zu nähern. Wie können wir unserer christlichen Verantwortung, auch dem anderen das zuzugestehen, was er nötig hat, in dieser Situation nachkommen - außer vielleicht zu spenden und zu hoffen, dass das Geld die Menschen erreicht?

Flüchtlinge haben immer ein schweres Schicksal, ob selbst gewählt oder vertrieben. Sie haben ihre Heimat verlassen, die Familien sind auseinandergerissen, sie müssen sich am neuen Ort neu orientieren und ihren Platz finden. Das galt für viele gerade auch aus Süd­deutschland ab dem 18. Jahrhundert aus Hungersnot, Krieg, religiöser, aber auch politischer Verfolgung - und im 19. Jahrhundert gehörten unsere Vorfahren, die Templer, auch dazu. Heute, einige Generationen später, blicken wir auf ein durch schwere Arbeit und viel Entbehrung erreichtes Gelingen zurück - aber haben sich die Templer in die neue Heimat, die Palästina für sie wurde, integriert, so, wie wir es von den Flüchtlingen bei uns wünschen?

Schließlich wurden auch sie Vertriebene und ihrer neuen Heimat verlustig - ohne die Chan­ce zurückzukehren. Aber immerhin bekamen sie eine Entschädigung, die ihnen erlaubte, nicht völlig mittellos neu anzufangen - auch wenn der Ersatz nicht dem Verlust entsprach. So gut erging es nicht allen Vertriebenen; die meisten konnten nur retten, was sie tragen konnten, und haben alle sonstigen Besitztümer verloren. Auch solche haben wir etliche in Deutschland, bedingt durch die Flucht vor dem Einmarsch der Russen in Schlesien, Pommern und Ost­preußen im Rahmen des 2. Weltkriegs. Und doch liegt auch hier der Sachverhalt anders als z.B. bei den Palästinensern. Während bei unseren Vertriebenen die Geschehnisse in den Familien nach wie vor ganz sicher präsent sind, denn Eltern und Großeltern haben davon erzählt, wurde der Zusammenbruch und die Teilung Deutschlands vor allem als Konsequenz der Untaten des 3. Reichs mehr oder weniger akzeptiert - und es gab einen Lastenausgleich.

Das ist bei den Palästinensern anders. Sie sind zwar zur etwa gleichen Zeit vertrieben wor­den, haben aber ein anderes Bewusstsein. Der Unterschied liegt auch darin, dass die Palästinenser völlig schuldlos in diese Geschichte involviert wurden - sie können nichts für den Holocaust, nichts für das Leid des jüdischen Volkes. Sie sind die Leidtragenden, weil es wichtig und gerecht war, dass ein jüdischer Staat Zufluchtsort für all die Opfer des Naziterrors wurde - und dass es dieses Land geworden ist, das für beide Völker Heimat bedeutet. Die Vertreibung ist für die Palästinenser bis heute leidvoll erlebte Gegenwart, zumal es nie eine Entschuldigung, geschweige denn eine Entschädigung gegeben hat und ihre Perspektivlosig­keit ständig wächst.

Trotzdem gibt es viele Initiativen, die Brücken schlagen: die Dar Al Kalima Schule, inzwi­schen der größte Arbeitgeber in Bethlehem. Oder Daoud Nassars »Zelt der Völker«, der unter dem Motto »Wir weigern uns Feinde zu sein« jedes Jahr Friedenscamps für Kinder und Jugendliche aus aller Welt durchführt, oder Neve Schalom in Israel, wo Bildungs- und Begegnungsprogramme durchgeführt werden, durch die Israelis zum ersten Mal in ihrem Leben ein Flüchtlingscamp betreten oder Palästinenser sich in Yad Vashem mit dem Holocaust beschäftigen - alles Projekte, die dem Frieden dienen, dem Kennenlernen, der Toleranz.

Die Christen in Betlehem - zwar keine Flüchtlinge, aber immer weiter zurückgedrängte Min­derheit - erfüllen in hohem Maße, was unser Text mit den Worten "Suchet der Stadt Bestes" fordert: obwohl sie in Palästina nur noch einen Bevölkerungsanteil von 2% ausmachen, übernehmen sie Verantwortung in der Gesellschaft, tragen die Hauptlast im Gesundheits- und Bildungswesen, haben Mitglieder im Parlament. Bethlehem wird von einer Christin regiert, die sich für die Belange aller Menschen einsetzt. Angelehnt an den Ausspruch Luthers sagt der Friedenspfarrer Mitri Raheb: »Auch wenn wir wüssten, dass die Welt morgen untergeht, würden wir heute noch in den Garten gehen und Olivenbäume pflanzen. Hoffnung ist, was wir heute im Angesicht der Perspektivlosigkeit tun. Der Olivenbaum spendet morgen Schatten, in dem unsere Kinder spielen können, er liefert Olivenöl, und er wird Olivenzweige geben, mit denen wir winken werden, wenn der Frieden kommt.«

Vielleicht tut es uns gut, von solchen Beispielen grenzenlosen Gottvertrauens, das sich auch auf die Zusage wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen stützt, zu hören und uns ein Beispiel daran zu nehmen - für unsere Hoffnung, die uns durch unsere Schwierigkeiten zu helfen vermag und uns treiben möge, auch etwas für ihre Erfüllung zu tun.

Karin Klingbeil, aus der Saalansprache vom 8. März 2020

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Der dankbare Samariter

Lukas beschreibt in seinem Evangelium, wie in der Gegend von Samaria zehn Männer Jesus aufsuchen, damit er sie von der schlimmen Krankheit Aussatz befreie, was er auch tut. Auf ihrem Heimweg erfahren sie den Erfolg dieser wundersamen Heilung, doch nur einer von ihnen kehrt zu Jesus zurück. »Laut pries er Gott, warf sich vor Jesus nieder, das Gesicht zur Erde, und dankte ihm. Und das war ein Samariter« (Lk 17,11-19).

»Warum kam denn nur einer? Sind nicht alle zehn gesund geworden? Ist kein anderer zurückgekommen, um Gott die Ehre zu erweisen, nur dieser Fremde hier?« fragte Jesus. Und so fragen wir auch heute. Haben die anderen nicht auch Dankbarkeit für ihre Ausheilung empfunden? Der Evangelist weist darauf hin, dass es hier der Fremde ist, der Israel beschämt. Neben den allgemein Mustergültigen tritt der mustergültig »dankbare Samariter« hervor. Mustergültig ist die Spontaneität, mit der er Gott preist, mehr aber noch, dass die Lobpreisung Gottes sich verbindet mit seiner spontanen »Umkehr« zu Jesus, und dass der Mann Jesus »dankt«.

Was will uns dieser alte Text für unser Leben von heute sagen? Vielleicht, dass unsere Dankbarkeit für günstige Lebensumstände nicht »spontan« genug erfolgt. Dass wir zwar eine Dankbarkeit empfinden, aber diese nicht an die Quelle der Wohltat richten. Es gibt sicherlich viele »Wohltäter«, die uns in unserem Leben einfallen, denen gegenüber wir das »Danke!« aber nicht verbal äußern. Vielleicht kann es Gründe dafür geben, warum wir das dem Wohltäter gegenüber »nicht extra« sagen.

Als Kind wurde ich von meinen Eltern immer wieder ermahnt, mich bei dem und jenem für ein Geschenk oder ein Entgegenkommen zu bedanken. Dies hatte ich damals als »nicht unbedingt nötig« empfunden und habe es dann auch meistens unterlassen. Mit der Zeit habe ich jedoch eingesehen, dass es ein wertvoller innerer Impuls ist, sich dankbar zu zeigen und die Dankbarkeit auch auszusprechen. Ich denke, dass man das auch lernen kann.

Es gibt doch so viele Anlässe, für etwas dankbar zu sein. Sicherlich ist dafür die Reife des Lebens eine Voraussetzung. Wir können unsere Dankbarkeit auch nicht nur verbal zum Ausdruck bringen, sondern ebenso durch Händedruck, E-Mails, Grußkarten. Und wenn wir meinen, dass wir unseren Dank für etwas schon mehrfach geäußert hätten, dann wird es unseren Wohltäter sicher auch ein weiteres Mal erfreuen. So gesehen, ist es sicher ange­bracht, vor allem Gott für unser Leben zu danken. So, wie es das uns bekannte Morgenlied ausdrückt: »Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann«.

Peter Lange

Chatschkare - armenische Kreuzsteine

Wo das Kreuz nicht Leid, sondern Leben symbolisiert

Chatschkare – armenische KreuzsteineWer in Armenien reist, trifft sie überall an, die Kreuzsteine, Chatschkare in armenischer Sprache. Manchmal stehen sie einzeln in der Landschaft, manchmal in Gruppen bei einer Kir­che, manchmal sogar in großen Feldern.

Sie stellen ein Kulturgut dar, das besonders typisch für Ar­menien ist. Diese Kreuzsteine dienen als Denkmal, als Sinn­bild christlicher Hoffnung, als Mahner für die andersgläubigen Eindringlinge aus aller Herren Länder, als Beschützer von Kir­chen, Weiden und Quellen, als Orientierung für Pilger, und in seltenen Fällen als Grabstein.

Die Chatschkare sind den Armeniern heilig. Sie werden oft ehrfurchtsvoll geküsst, von betenden Händen berührt; oft sieht man auch besonders ältere Frauen andächtig kniend im Ge­bet vor einem dieser Kreuzsteine. Manchmal werden beide Hände auf einen solchen Kreuzstein gelegt, um Kraft und Energie zu tanken.

Der armenische Kreuzstein ist eine einseitig reliefierte Steinplatte, die in der Regel auf einem Sockel steht. Das beherrschende Motiv ist eine Kreuz­darstellung auf der Vorderseite. Dieses Motiv begründet die allgemeine Bezeichnung des Steins als Kreuzstein. Die Ursprünge gehen bis ins 5./6. Jahrhundert zurück, die Blütezeit in der Entwicklung lag zweifellos im 12. Jahrhundert, als es mit dem Aufblühen der Klosterkultur auch zu einem ungeheuren Schaffensdrang armenischer Steinmetze kam. Ab diesem Zeit­punkt überwiegen die geometrisch-linearen und pflanzlichen Ornamente in der Ausschmü­ckung der Kreuzsteine. Die Linien des Flechtwerks scheinen ohne Anfang und Ende zu sein. Auf Grund der ununterbrochenen Windungen wird das Ornament Ausdruck der Unendlichkeit und Ewigkeit. Hier beginnen die armenischen Kreuzsteine das Kreuz als Lebensbaum darzustellen. Kreuz und Lebensbaum verbinden sich. Das wird dadurch verstärkt, dass das Kreuz in der Mitte oft von den Symbolen der Weintraube und des Granatapfels, Bilder für Leben und Fruchtbarkeit, umgeben ist. Was aber die Kreuzsteine von unseren westlichen Kreuzdarstellungen besonders abhebt - die Enden der Kreuzbalken sind geöffnet, stellen Blü­ten oder Blätter dar, und das untere Ende ist meistens wie Wurzeln gestaltet, Wurzeln, die Ver­bindung, Halt, Zuversicht geben.

Flüchtig betrachtet ähneln sich viele Kreuzsteine, doch bei genauerer Betrachtung gleicht keiner einem anderen. Was sie aber gemeinsam haben, ist das Relief eines Kreuzes mit gespaltenen Enden und mit reichem Flechtwerkmuster. Wo bei unseren Kreuzen die geraden Balkenenden tatsächlich ein Ende symbolisieren, öffnen sich die Balkenenden in hoffnungs- und lebensspendenden floralen Symbolen - das Kreuz ist nach armenischer Auffassung nicht nur ein Todessymbol, sondern stellt zugleich einen Lebensbaum dar. Es steht also zwar für Tod, aber vor allem für Auferstehung. So symbolisiert das Kreuz nicht Leid, sondern Leben.

Wolfgang Blaich

Zum 75. Todestag von Dietrich Bonhoeffer

Märtyrer und herausragender Theologe

Am 9. April 1945, nur einen Monat vor Kriegsende, ist der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer wegen seines Widerstands gegen das nationalsozialistische Dritte Reich im Kon­zentrationslager Flossenbürg (Oberpfalz) im Alter von nur 39 Jahren ermordet worden.

1906 geboren, begann er sich gegen Ende des 1. Weltkriegs mit Fragen über Tod und Ewig­keit auseinanderzusetzen, weil sein Bruder Walter gefallen war und seine Mutter so schwer trauerte. 1923 entschied er sich für das Studium der Theologie, wurde mit 21 Jahren promo­viert, ging als Vikar in die evangelische Kirchengemeinde Barcelona und dann als Stipendiat an das Union Theological Seminary nach New York, wo er durch den Kontakt mit den Har­le­mer Gemeinden der Schwarzen nach eigener Auffassung »vom Theologen zum Christen« geworden sei. Von dem strikten Pazifismus eines Mitstudenten angeregt, befasste er sich intensiv mit dem Thema "Frieden". So hatte die Bergpredigt und die Nachfolge Jesu für Bonhoeffer große Bedeutung, was sich bei ihm in der Übereinstimmung von Glauben und Han­deln äußerte.

1930, nach seiner Rückkehr aus Amerika, erfolgte die Habilitation mit 24 Jahren, Bonhoeffer wurde Studentenpfarrer in Berlin. Schon direkt nach Hitlers Machtergreifung galt er als ent­schiedener Gegner der Nationalsozialisten und trat der Bekennenden Kirche bei. Er war einer der ersten Theologen, der die Kirche in Deutschland dazu aufforderte, ihre Stimme für die Ju­den zu erheben.

Nun setzten die Repressalien gegen Bonhoeffer ein, der trotzdem - heimlich - weiterhin un­terrichtete. Bei einer erneuten Reise in die Staaten wurde ihm 1939 das verlockende Angebot einer Professur in New York gemacht, das er aber ablehnte, weil er »dem christlichen Volk in Deutschland beistehen« wollte. Nach weiteren illegalen Seminaren wurde er 1940 unter Rede­verbot gestellt, bekam über seinen Schwager Hans von Dohnanyi Zugang zu der Wider­standszelle um Admiral Canaris, die Attentatsversuche gegen Hitler unterstützte. 1943 geriet Bonhoeffer mit seinen Mitverschwörern in die persönliche Gefangenschaft Hitlers. Aber erst, als nach dem missglückten Versuch von Stauffenberg zufällig in einem Geheimarchiv der Abwehr Tagebuchaufzeichnungen Canaris‘ gefunden wurden, konnten sie der konspirativen Tätigkeiten überführt werden. Am 7. Februar wurde er ins KZ Buchenwald verlegt, Anfang April ins KZ Flossenbürg, wo ihm und seinen Mitverschwörern am 8. April kurzer Prozess gemacht wurde und alle zusammen am Tag darauf erhängt wurden.

Dietrich Bonhoeffer hat ein umfangreiches theologisches Werk hinterlassen und darüber hinaus in seinen Briefen viele bedenkenswerte Texte formuliert, die Glaubenszuversicht, Trost und Hoffnung vermitteln - auch wir singen zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten sein Lied »Von guten Mächten wunderbar geborgen«, das er seiner Verlobten 1944 als Weihnachtsgruß aus der Gefangenschaft übermittelte.

Zur Jahreswende 1942/43 hatte er einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Ge­schichte formuliert, die wie in unsere heutige Zeit gesprochen zu sein scheinen:

»Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.«

Karin Klingbeil

 

Nach der Berichterstattung über die Ausbreitung des Corona-Virus in China über den ganzen Februar ist das Virus nun bei uns in Deutschland angekommen und die Behörden verfügen starke Maßnahmen, um das normalerweise exponentielle Wachstum eines (neuen) Virus zu bremsen und so besser mit den Infizierten mit schweren Verläufen umgehen zu können. Doch viele Bürger lassen sich von Panikmache anstecken und fühlen sich persönlich bedroht, tätigen Hamsterkäufe - es geht bis hin zur Entwendung von Desinfektionsmitteln in Kranken­häusern, wo diese bedeutend wichtiger sind als im privaten Bereich.

Durch die Globalisierung unserer Zeit verbreiten sich auch Viren in unvorstellbarer Ge­schwindigkeit - dadurch ist die gesamte Menschheit mit einer ernsthaften Krise konfrontiert. Diese kann aus Furcht spalten oder aber in gemeinschaftlichem Ziel vereinen: Krisen bringen das Schlimmste im Menschen hervor - und das Beste. In diesem Sinne drucken wir den Brief eines Mailänder Schulrektors aus dem Berliner »Tagesspiegel« bereits vom 3. März 2020 hier ab.

»Das größte Risiko ist nicht das Coronavirus«

In der italienischen Stadt Mailand häufen sich Infektionsfälle, auch Schulen wurden geschlos­sen. Ein Rektor wendet sich nun an seine Schüler. Der Autor, Schulleiter des Mailänder Liceo Alessandro Volta, verfasste diesen Brief vor wenigen Tagen. Aus dem Italienischen von An­drea Dernbach.

»Die Pest, von der die Gesundheitsaufsicht bereits gefürchtet hatte, dass sie mit den deut­schen Truppen in die Gegend von Mailand kommen würde, war, wie man sah, tatsächlich ge­kommen; und genauso sah man, dass sie dort nicht bleiben würde, sondern einen guten Teil Italiens befallen und entvölkern würde.«

Mit diesen Worten beginnt das 31. Kapitel der »Verlobten« von Alessandro Manzoni. Dieses und das folgende Kapitel sind ganz der Pest gewidmet, die Mailand im Jahre 1630 heim­suchte.

Es ist ein lehrreicher, ungemein moderner Text, ich empfehle euch, ihn aufmerksam zu le­sen in diesen verworrenen Tagen. Alles findet man hier: die Gewissheit, dass Fremde ge­fährlich sind, den Streit der Behörden, die verzweifelte Suche nach dem Patienten Null, die Verachtung von Fachleuten, die Jagd auf Krankheitsüberträger, die Gerüchte, die verrück­testen Heilmittel, das Hamstern von Lebensmitteln, den Ausnahmezustand ...

Hier findet ihr auch Namen, die ihr von den Straßen rings um unser Gymnasium kennt: Lu­dovico Settala, Alessandro Tadino, Felice Casati.

Unsere Schule steht, wir sollten das nicht vergessen, genau dort, wo früher Mailands Lazza­retto war, das historische Seuchenhospital. Also: Mehr als aus Manzonis Roman scheinen seine Worte aus einer Zeitung von heute zu stammen.

Liebe Schüler, »nichts Neues unter der Sonne« liegt mir da auf der Zunge. Aber angesichts unserer geschlossenen Schule muss ich reden. Eine Schule gehört zu den Einrichtungen, deren Rhythmen und Riten den Verlauf der Zeit und den geordneten Ablauf des Zivillebens anzeigen. Nicht umsonst verfügen Behörden die zwangsweise Schließung von Schulen nur selten und in Ausnahmefällen.

Ich kann nicht beurteilen, ob die Anordnung angemessen war, ich bin weder Experte noch will ich so tun, als sei ich es. Ich respektiere die Behörden, vertraue ihnen und folge ihren Empfehlungen. Was ich euch allerdings sagen will, ist: ruhig Blut! Lasst euch nicht in die allgemeine Hysterie ziehen, führt bei aller nötigen Vorsicht weiter euer normales Leben. Nutzt diese Tage für Spaziergänge, lest ein gutes Buch!

Es gibt, wenn ihr gesund seid, keinen Grund, euch zu Hause einzuschließen. Es gibt keinen Grund für einen Run auf Apotheken und Supermärkte. Überlasst Atemmasken den Kranken, nur sie brauchen sie. Die Geschwindigkeit, mit der es ein Virus vom einen Ende der Welt ans andere schafft, gehört zu unserer Zeit.

Die Barbarisierung des Umgangs ist die große Gefahr

Es gibt keine Mauern, die es aufhalten könnten. In früheren Jahrhunderten passierte das genauso, nur etwas langsamer. Allgemein ist das größte Risiko in solchen Situationen - das lehrt Manzoni und Boccaccio vielleicht noch etwas mehr - die Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen, die Barbarisierung des zivilen Umgangs.

Es ist ein urzeitlicher Instinkt bei einem unsichtbaren Feind, ihn überall zu vermuten. Man ist geneigt, alle Mitmenschen als Bedrohung und potenzielle Angreifer zu sehen. Anders als während der Epidemien des 14. und 17. Jahrhunderts haben wir heute die moderne Medizin an unserer Seite, ihre Fortschritte und Sicherheiten. Glaubt mir, das ist nicht wenig.

Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule.

Domenico Squillace

Noch einmal Theodor Fontane

In der Februar-Nummer der »Warte« hat Peter Lange einen sehr schönen Beitrag anlässlich des 200. Geburtstags von Theodor Fontane verfasst und dessen großartige Altersweisheit an dessen Gedicht »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« veranschaulicht. Solche Weis­heit ist eine Frucht der tiefen Menschenkenntnis des Dichters, die sich ja in seinen großen Romanen beweist. Aber er war auch ein Historiker, der den größten Teil seiner Gedichte Begebenheiten aus der englischen (er war ja jahrelang Journalist in London) und vor allem der preußischen, speziell märkischen Geschichte gewidmet hat, was manche davon wegen des damaligen Zeitgeistes für uns heute oft schwer verdaulich macht.

Unvergänglich aber sind seine Verse zur Lebensweisheit, die vor allem im Alter gefordert ist angesichts des meist unerfreulichen Weltgetriebes und der abnehmenden eigenen Kräfte. Und ich denke, es tut uns gut, uns davon noch ein paar wenige weitere Beispiele zu Gemüte zu führen, die uns zeigen, wie man allen Widrigkeiten mit einem menschenkundigen Humor, aber auch mit einem letzten Vertrauen auf den Weltgrund begegnen kann.

Über die Realität des Weltlaufs machte sich Fontane keine Illusionen, er kannte sowohl ihn wie sich selber. Das erstere hat er drastisch in den Zweizeiler gefasst:

 

Du hast die Wahl nur zwischen zwein:

Du musst frère-cochon oder einsam sein.

 

(für die Leser ohne Französischkenntnisse: frère-cochon = »Sau-Bruder«). Aber die eigene Un­zulänglichkeit kannte er sehr wohl auch:

 

Man wird nicht besser mit den Jahren,

wie sollt’ es auch, man wird bequem

und bringt, um sich die Reu’ zu sparen,

die Fehler all in ein System.

 

Das gibt dann eine glatte Fläche,

man gleitet unbehindert fort,

und »allgemeine Menschenschwäche«

wird unser Trost- und Losungswort.

 

Die Fragen alle sind erledigt,

das eine geht, das andre nicht,

nur manchmal eine stumme Predigt

hält uns der Kinder Angesicht.

 

Ohne eine gewisse humorvolle Resignation lässt es sich unter diesen Umständen nicht leben:

 

Such’ nicht, wie’s eigentlich gewesen,

wolle nicht in den Herzen lesen.

 

Sieht’s freundlich aus, nimm’s freundlich an,

nimm den Biedertuer als Biedermann.

 

Alle Flügelmänner auf Sammellisten,

nimm sie hin als Musterchristen.

 

Wenn sie nur geben beim Liebe verkünden,

forsche nicht nach den letzten Gründen.

 

Aber Fontane kann sich auch sehr ernsthaft über die wahre Lebensweisheit äußern, wenn er z.B. schreibt:

 

Geliebte, willst du doppelt leben,

so sei des Todes gern gedenk

und nimm, was dir die Götter geben,

tagtäglich hin als ein Geschenk.

 

Mach’ dich vertraut mit dem Gedanken,

dass doch das Letzte kommen muss,

und statt in Trübsal hinzukranken,

wird dir das Leben zum Genuss.

 

Du magst nicht länger mehr vergeuden

die Spanne Zeit in eitlem Hass,

du freust dich reiner deiner Freuden

und sorgst nicht mehr um dies und das.

 

Du setzest an die rechte Stelle

das Hohe, Göttliche der Zeit,

und jede Stunde wird dir Quelle

gesteigert neuer Dankbarkeit.

 

Fontane hat freilich im Alter auch Zeiten tiefer Niedergeschlagenheit und Resignation erlebt, wie die folgenden Zeilen zeigen, überschrieben mit »Ausgang«:

 

Immer enger, leise, leise

ziehen sich die Lebenskreise,

schwindet hin, was prangt und prunkt,

schwindet Hoffen, Hassen, Lieben

und ist nichts in Sicht geblieben

als der letzte dunkle Punkt.

 

Solche Tiefen kennen wir wohl alle. Aber dann ist es umso wichtiger, sich den lichten Seiten des Daseins auszusetzen, etwa in der Natur. Dort wird Fontane der Himmel zum Gleichnis der Treue und Liebe Gottes und die Schöpfung zum Vaterhaus, daher sein »Guter Rat«:

 

An einem Sommermorgen

da nimm den Wanderstab,

es fallen deine Sorgen

wie Nebel von dir ab.

 

Des Himmels heitre Bläue

lacht dir ins Herz hinein,

und schließt, wie Gottes Treue,

mit seinem Dach dich ein.

 

Rings Blüten nur und Triebe

und Halme, von Segen schwer,

dir ist, als zöge die Liebe

des Weges nebenher.

 

So heimisch alles klinget

als wie im Vaterhaus,

und über die Lerchen schwinget

die Seele sich hinaus.

 

Diese Zeilen sind wohl in jüngerem Alter geschrieben, aber das darin Gesagte gilt erst recht in unseren alten Tagen, wenn es auch manchmal schwer fällt (»Frühling«):

 

Nun ist er endlich kommen doch

in grünem Knospenschuh;

»Er kam, er kam ja immer noch«

die Bäume nicken sich’s zu.

 

Sie konnten ihn all erwarten kaum,

nun treiben sie Schuss auf Schuss;

im Garten der alte Apfelbaum -

er sträubt sich, aber er muss.

 

Wohl zögert auch das alte Herz

und atmet noch nicht frei,

es bangt und sorgt: »Es ist erst März,

und März ist noch nicht Mai«.

 

O schüttle ab den schweren Traum

und die lange Winterruh’,

es wagt es der alte Apfelbaum,

Herze, wag’s auch du.

 

Wagen wir’s also, das Leben wie es ist, und machen das Bestmögliche daraus!

Wolfram Zoller

AUS DER TEMPLERGESCHICHTE

Eine biblische Plage in unserer Zeit - die Wüstenheuschrecken

Ein kleines Tier hat in biblischer Zeit Schrecken in der Welt hervorgerufen. Schon in der Mose-Geschichte verbreiteten die kleinen, 7-9 cm großen flugfähigen Insekten Angst und Unheil. Und der Prophet Joel fand im Alten Testament bestialische Vergleiche für ihr Treiben: »Es zog herauf gegen mein Land ein Volk, mächtig und ohne Zahl; das hatte Zähne wie die Löwen und Backen wie die Löwinnen. Es verwüstete meinen Weinstock und fraß meinen Feigenbaum kahl, schälte ihn ab und warf ihn hin, dass seine Zweige weiß dastehen« (Joel 1,6-7).

In unseren Tagen hat sich die biblische Plage ein weiteres Mal wiederholt, in einem nie für möglich gehaltenen Ausmaß. Von Saudi-Arabien aus sind seit November 2019 riesige Schwär­me der Wüstenheuschrecken (auch »Wanderheuschrecken« genannt) über das Horn von Afrika hinweg in Somalia und Kenia eingefallen und haben weite Landstriche dort verwüstet. Thomas Hoerz, Entwicklungshelfer in Somaliland, der selbst einmal in einem solchen Schwarm gestanden hatte, beschreibt die Massen-Invasion folgendermaßen: »Es ist beäng­stigend. Man kann die Augen nicht auflassen, schließt sie aus Angst vor Verletzungen. Die Tiere düsen einem an den Kopf, sie wiegen um die zwei Gramm, das ist ungefähr das Gewicht eines Ein-Cent-Stücks. Mit dem Auto durch einen Schwarm zu fahren, ist nur im Schritttempo möglich, die Tiere zerplatzen wie Knallkörper an der Windschutzscheibe, die so klebrig wird, dass man die Schicht nur mit Benzin entfernen kann.«

Somalia hat bereits den Notstand ausgerufen. Nach Meldungen der »Stuttgarter Nachrich­ten« (Christoph Link) sollen Schwärme mit rund 200 Milliarden Tieren unterwegs sein. »Die fressen binnen Stunden alles weg: Weideflächen, die ja Futterbäume für Kamele und Ziegen sind.« Das sehe danach aus wie ein Laubwald im Winter. Die Bekämpfung ist nahezu wir­kungslos. Ein Agrarökologe stöhnt: »Es ist für uns schmerzhaft, das zu sagen, aber es gibt zurzeit gegen die Heuschrecken kein anderes Mittel, als Pestizide mit Flugzeugen zu versprü­hen.« Manche Bekämpfungsmaßnahmen seien so wertlos, als ob einer einen Waldbrand mit dem Gartenschlauch löschen wolle.

Beim Lesen all dieser Nachrichten und dem Betrachten der Bilder aus Afrika ist mir unwill­kürlich eine Berichterstattung aus unserer Templergeschichte eingefallen. Marie Lorch, Ehe­frau des bekannten Arztes am Deutschen Krankenhaus in Jaffa, Dr. Karl Lorch, beschreibt in ihrem Tagebuch vom Ersten Weltkrieg einen solchen Einfall der Wüstenheuschrecken in den Pflanzungen der Küsten-Kolonien der Templer in Palästina vor über 100 Jahren, der sich über zwei Monate hingezogen hatte. Ihre Beschreibungen gleichen einer Berichterstattung von den Ausmaßen militärischer Operationen:

11. März 1915. Unser Thermometer zeigte mittags um 1 Uhr im Schatten 35 Grad Celsius. Nach 4 Uhr kam’s wie ein Nebel, zum Teil wie leichte Wolkenstreifen oder wie Rußflocken von Süden her. Es waren Heuschrecken. Milliarden zogen über die Gegend hier, so weit das Auge blickt nichts als Heuschrecken, ungefähr eine Stunde lang. Die Landesbewohner machten Lärm mit Blechbüchsen, um sie von den Orangengärten zu verscheuchen. Seit 1870 seien kei­ne mehr aufgetreten, und jetzt in der Kriegszeit, wo die Not ohnehin schon so groß ist, kommt die­se Plage noch hinzu.

14. März. Herr Lippmann brachte uns soeben einen Bericht über die Heuschrecken im Apostelgarten. Und zwar haben sie sich dort so massenhaft niedergelassen, dass man sich keine Vorstellung davon machen könne. Herr Lippmann hat gestern und heute trotz des Sonn­tags zusammen mit 18 Arbeitern Heuschrecken totgeschlagen, zu Haufen zusammengetrie­ben und in Gräben verscharrt.

7. April. In der Summer Markung haben die Heuschrecken großen Schaden angerichtet. Groll muss Vieh verkaufen, da er kein Futter mehr für alle Tiere hat. In dreieinhalb Stunden sei sein prächtiger Kleeacker abrasiert worden von den Heuschrecken. Bei Weinmann sind sie sogar über den Weizen hergefallen. In der Biare (Orangenplantage) von Alonzo sollen etwa 2.000 Bäume abgefressen und sogar die Rinde abgenagt worden sein.

10. April. Unterwegs auf einer Fahrt kamen wir an verschiedenen Trupps Fellachenweibern und jungen Mädchen vorbei, die alle Heuschreckeneier nach der Stadt (Jaffa) trugen. Jedem Dorf (der Araber) ist von der Regierung auferlegt, je nach Einwohnerzahl ein gewisses Quantum Brut zu liefern. Wenn sie dies unterlassen, müssen sie Strafe bezahlen. Für die Eier bekommen sie 2 Bischlik per Rottel (ca. 500 g). In Samarin und Umgebung seien schon 4.000 Kilo Heuschreckeneier gesammelt worden.

2. Mai. Seit drei Tagen ist in Sarona Jung und Alt auf den Beinen, um die Plage auszutilgen. Auch die Jaffaner Schuljugend war gestern und heute trotz Sonntag draußen zum Treiben. Die Heuschrecken werden in Scharen in Gräben getrieben und mit Erde zugedeckt. Auf dem Weg sahen wir wieder neue Scharen ausgewachsener Heuschrecken fliegen, also ist noch kein Ende abzusehen. Die Saroner haben beim Konsul um Hilfe nachgesucht, da sie’s allein nicht bewältigen können, und durch seine Vermittlung schickte der Kaimakam (oberster Beamter) Militär hinaus, 83 Mann. Die seien aber zu müde geworden vom Stehen und haben’s vorgezo­gen, zu sitzen und die Beine in die Gräben zu hängen.

11. Mai. Heute war der letzte Tag, um die Heuschreckensteuer zu entrichten. Männer von 15 bis 60 Jahren, die nicht selbst zum Vertilgen hinausgehen, müssen 1½ Medj. bezahlen. Über­all hört man von Heuschrecken reden, wohin man auch kommt, sie sind überall. Die Menschen werden damit nicht fertig, trotz allem Fleiß. Wenn nicht andere Hilfe kommt, fällt den Plage­geistern alles zum Opfer.

Peter Lange, mit freundlicher Genehmigung der Tagebuch-Besitzerin, Karin Stäcker, Hamburg

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