Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 176/10 - Oktober 2020

 

 

Wie sind deine Werke so groß und viel - Brigitte Hoffmann

Stärke uns den Glauben! - Karin Klingbeil

Friedrich Hölderlin und die Religion - Jörg Klingbeil

Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben - Karin Klingbeil

»Grünes Band Europa« - eine bestechende Idee - Peter Lange

Wasser zu Wein - Jörg Klingbeil

Wie sind deine Werke so groß und viel

Die Bewunderung der Schöpfung (Psalm 104)

»Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich; du baust deine Gemä­cher über den Wassern. Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes.

Du lässest Wasser in den Tälern quellen, dass sie zwischen den Bergen dahinfließen, dass alle Tiere des Feldes trinken und das Wild seinen Durst lösche. Du lässest das Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst, dass der Wein erfreue des Menschen Herz und sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke.

Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, so lange ich bin.«

Das sind wunderbare Bilder, Musikbilder, Wort-Bilder, die uns zutiefst anrühren. Dürfen wir uns noch an diesen Bildern berauschen? Wir wissen, dass sie in vielen Punkten nicht der tatsächlichen Entwicklung und den tatsächlichen Zusammenhängen entsprechen. Sie spiegeln das anthropozentrische Weltbild ihrer Entstehungszeit - der Psalm wurde vor zweieinhalb Jahrtausenden gedichtet und aufgeschrieben.

Er schildert die Erde als einen Ort, der so eingerichtet ist, dass die Menschen dort das finden oder schaffen können, was sie brauchen - bis zum Wein, der ihr Herz erfreut, und zum Öl, mit dem sie sich einreiben und schön machen. Und selbst die Löwen gehen praktischer­weise vor allem bei Nacht auf Beute aus, damit die Menschen bei Tag ihrer Arbeit nachgehen können. Und das Gras wächst, damit der Mensch Vieh halten kann; der tatsächliche Zusam­menhang ist gerade umgekehrt: das Vieh kann nur dort gedeihen, wo Gras wächst.

Ich habe die Beispiele - es gäbe noch mehr - aufgezählt, weil sie mich erfreuen, mich lächeln machen. Das nimmt nichts weg von der großartigen Wahrheit, die hinter diesen Bildern steht.

Da ist vor allem anderen die selbstverständliche Überzeugung des Psalmisten, dass hinter dieser wunderbaren Ordnung der Natur und des Kosmos ein Schöpfer steht, eine göttliche Macht, die alles geschaffen hat, was ist, und mit allem verbunden ist. Das ist eine Überzeu­gung, die wir wohl alle teilen, obwohl - oder vielmehr gerade weil - sie sich nicht wissenschaft­lich beweisen lässt. Astronomen, Kosmologen, Physiker haben in den letzten Jahren und zum Teil Jahrzehnten auf Grund von satellitenübermittelten Daten die Entstehung des Kosmos zurückverfolgt bis auf Sekundenbruchteile nach dem Urknall. Aber dahinter bleibt immer noch die Frage: Was war davor? Und was bedeutet »davor«, wenn es Zeit erst seit dem Urknall gibt? Es gibt für uns keine Antwort.

Seit dem Urknall vor 10-20 Milliarden Jahren dehnt sich der Kosmos aus in die Dimension von heute, in einen Raum von ca. 16 Milliarden Lichtjahren Durchmesser (ein Lichtjahr ist die Strecke, die ein Lichtstrahl in einem Jahr zurücklegt, bei einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern pro Sekunde). Und der Kosmos wächst weiter - bis wann? wohin? Es gibt keine Antwort, es geht über unser Denk- und erst recht über unser Vorstellungsvermögen hinaus.

Dass das alles überhaupt erforscht werden konnte, erscheint uns als ein weiteres Wunder - in diesem Fall ein Wunder des menschlichen Geistes. Aber woher kommt dieser Geist? Woher kommt es, dass wir, als einzige der uns bekannten Wesen, ein Bewusstsein haben, das uns wenigstens Ausschnitte der Welt erkennen lässt, das unsere Persönlichkeit ausmacht und bewirkt, dass von den 6 Milliarden Menschen, die heute leben, jeder einzigartig ist und nicht seinesgleichen hat, nicht einmal unter eineiigen Zwillingen? Hirnforscher versuchen das zu erklären. Sie haben festgestellt, dass jedes Gehirn aus Millionen von Nervensträngen besteht und aus Milliarden von Synapsen, Verbindungsstellen, die die einzelnen Impulse weitergeben. Sie haben in manchen Fällen festgestellt, welche Hirnregion aktiv ist, wenn wir zum Beispiel einfache Entscheidungen treffen. Aber damit ist noch nichts darüber gesagt, wie diese Ent­scheidungen ausfallen, wie viele bewusste und unbewusste Wahrnehmungen, Gedankenver­bindungen, Gefühle in sie eingehen.

Je mehr wir von der Welt erkennen, desto mehr stehen wir mit Staunen und Bewunderung vor ihrer ungeheuren Vielfalt und Komplexität. Früher argumentierten fortschrittliche Rationalis­ten, Gott sei der Lückenbüßer für alles Unerklärliche, und wenn wir erst einmal alles erklären könnten, bräuchten wir ihn nicht mehr. Inzwischen sagen manche großen Forscher, sie seien gerade durch ihre Forschung zum Glauben an einen Gott gekommen. Natürlich nicht alle. Man kann Gott nicht beweisen. Aber man kann - und wir können - zurückkommen zur demütigen Bewunderung des Psalmisten: »Herr, wie sind deine Werke so groß und viel, und die Erde ist voll deiner Güter!«

Die Bilder des Psalmisten zeigen uns noch mehr, allen voran seine Bilder von Gott. Wir können nicht wissen, wie Gott ist. Wir können nur in Bildern von ihm sprechen. Aber die Bilder, die wir uns von ihm machen, bestimmen unsere Einstellung zum Leben.

Am Anfang unseres Psalms heißt es: »Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast.« Licht als das Kleid Gottes - das ist ein Bild, das mich begeistert. Als wir vor wenig mehr als einer Woche noch Aprilwetter hatten, mit Sonne und treibenden Wolken dazwischen, lichtdurchglühten weißen Kissen, durchsichtig weißen Federwolken darüber, dicken grauen Wolkengebirgen und solchen mit einem Silberrand aus Licht, da hatte ich ganz spontan dieses Gefühl, ein Stück vom Kleid Got­tes zu sehen.

Und noch mehr: da gehörte zu diesem Kleid Gottes nicht nur das Licht selbst, sondern alles, was es erstrahlen ließ: Bäume und Blumen, die ganze Natur, in einem weiteren Sinn auch die Menschenwelt. Man kann das pantheistisch sehen: Gott ist die Natur, oder panentheistisch: Gott ist in allem Sein, aber auch ein Umfassendes darüber, oder auch: ein göttlicher Funke ist in allem Lebendigen. Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht so wichtig, wahrscheinlich sind sie vielen Menschen gar nicht bewusst. Wichtig ist nur, dass alles Lebendige mit Gott verbunden ist. Das Bild ist einprägsamer und umfassender, eben weil es nicht festgelegt ist.

Und wenn es von Gott heißt: »Du bist schön und prächtig geschmückt« dann ist auch Schönheit ein Attribut Gottes, darin ist Schönheit und die Freude daran ein Teil unseres Glaubens und unseres Dankes an ihn. Wahrscheinlich hat es jeder schon einmal erlebt, bewusst oder unbewusst: wir werden fröhlicher und kommen leichter durch den Tag, wenn wir etwas Schönes sehen oder hören, den Gesang der Vögel oder den Duft des Flieders, eine schöne Kirche oder eine blühende Wiese. Das muss nicht immer großartige Schönheit sein wie eine aufgehende Rosenknospe oder der Prunk der Pfingstrosen, vielleicht auch etwas ganz Unscheinbares wie die wilden Gräser an den wenigen unbearbeiteten Wegrainen, die zur Zeit ihre zarten Blütenrispen im Wind wiegen, oder die Gänseblümchen, die schon zwei Tage nach dem Mähen wieder zu blühen anfangen und ein weißes Stickmuster ins Grün des Rasens setzen; oder, wie neulich auf dem Sonnenberg, ein Verkehrsteiler, so dicht bestanden mit Löwenzahn, dass er zu einem einzigen goldgelben Fanal wurde. Wenn wir nur die Augen aufmachen, gibt es gewiss keinen Tag, an dem wir nicht etwas Schönes sehen und uns daran erfreuen können.

Noch ein Bild aus diesem Psalm: es ist vom Meer die Rede, und dann heißt es: »Da sind große Fische, die du gemacht hast, damit zu spielen.« Was für ein Bild! Wenn Gott Fische macht, nur um mit ihnen zu spielen, dann will er auch von uns, die wir nach seinem Bilde gemacht sind, nicht, dass wir immer nur ernst und fleißig und hilfsbereit sind, dann gibt er auch uns Raum für Spiel und für Freude.

Das alles ist beglückend zu lesen. Aber ist es nicht ein zu einseitiges Bild von Gott und seiner Welt? Der Psalmist zeigt die Welt als eine weise Ordnung, als einen Beweis - oder zumindest ein Zeichen - für die Weisheit und Güte Gottes. Und wir wissen doch, dass es in dieser Welt Grauen und Elend gibt, und nicht nur von Menschen verursachtes. Wir alle haben in den letzten Wochen die Bilder von zwei Naturkatastrophen von verheerenden Ausmaßen gesehen: den Sturm und die Überschwemmung in Birma und das Erdbeben in China.

Der Psalmist wusste das auch. Es gab Katastrophen auch zu seiner Zeit, und er ver­schweigt sie nicht. Schon in dem Lobgesang auf Gottes Größe zu Beginn sagt er: »Du machst Winde zu deinen Boten und Feuerflammen zu deinen Dienern«. Wind und Feuer können zerstörerisch sein. Im Schlussteil wird er noch deutlicher: »Er schaut die Erde an, so bebt sie; er rührt die Berge an, so rauchen sie«. Das bedeutet Erdbeben und Vulkanausbrüche. Sie verursachten damals wohl weniger Tote, weil die Erde weniger dicht besiedelt war, aber für die Betroffenen waren sie noch schlimmer als heute, weil es keine staatliche oder gar internatio­nale Hilfe gab.

Und trotzdem fährt der Psalmist fort: »Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, so lange ich bin«. Offenbar waren für ihn Katastrophen keine Widerlegung der göttlichen Ordnung, sondern ein Teil von ihr.

Und gerade bei Erdbeben und Vulkanausbrüchen gibt es dafür sogar ein naturwissenschaft­liches Argument. Beide sind Folgen der sogenannten Kontinentaldrift: die Kontinentalplatten, auf denen die Landmasse der Erde aufsitzt, schwimmen auf dem Magma und driften langsam, aber unaufhaltsam in eine vorgegebene Richtung. Wo zwei oder drei zusammenstoßen, gibt es immer wieder Erdbeben und, weil die Erde dort brüchig ist, Magmadurchbrüche, also Vulkane. Gleichzeitig wurden und werden durch diese Bewegung alle großen Gebirgsketten der Erde aufgefaltet: Anden und Rocky Mountains, Pyrenäen und Alpen. Der Himalaya wächst pro Jahr um etwa einen Zentimeter in die Höhe, weil die indische Platte stark gegen die zentralasiatische drückt. Gäbe es diese Bewegung nicht, wäre die Erde wohl gleichmäßig rund und eben, und das Wasser der Ozeane wäre gleichmäßig verteilt. Und dann stünde die ganze Erde etwa einen Kilometer tief unter Wasser. Dann gäbe es zwar sicher auch Leben - das Leben ist im Wasser entstanden, aber wahrscheinlich viel weniger Arten von Lebewesen - viele sind entstanden aus dem Zwang zur Anpassung an wechselnde Wasserspiegel. Und ganz sicher gäbe es dann keine menschliche Kultur.

Natürlich lässt sich daraus keine spezielle göttliche Absicht ableiten. Das können wir nicht wissen. Aber etwas können wir aus der Evolution ableiten: die Natur scheint auf Entwicklung angelegt zu sein, zu mehr Vielfalt und mehr Bewusstsein. Das bedeutet immer wieder Veränderung. Und zumindest große Veränderungen tun fast immer weh. Sie konnten das Aussterben ganzer Arten bewirken - aber damit entstand Raum für Neues. Das Aussterben der Saurier war die Voraussetzung für den Aufstieg der Säugetiere.

Noch einmal zurück zu unserem Psalm. In einer Strophe sagt der Psalmist deutlich, was er zu Leid und Veränderung meint: »Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt. Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder Staub. Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du machst neu die Gestalt der Erde«.

Tod und Leid sind Teil der göttlichen Ordnung. Aber eben dadurch wird die Gestalt der Erde immer wieder neu. Auch wo wir zunächst nur Not und Elend sehen, dürfen wir hoffen, dass etwas Neues wächst. In einem ausführlichen Bericht über China wurde an vielen Beispielen gezeigt, dass das Erdbeben eine riesige Welle privater Hilfsbereitschaft ausgelöst habe: Tau­sende, die mit einem Auto voll Nahrungsmitteln und Kleidung über 200 Kilometer angefahren kamen, andere, die ebenso spontan und freiwillig tagelang halfen, Verschüttete zu bergen - etwas, was es im staatsgläubigen China in seiner ganzen Geschichte noch nie gegeben habe. Dazu kam die ebenso neue Bereitschaft der Führung, ihren Stolz zu überwinden, andere Staaten um Hilfe zu bitten, eine offene Berichterstattung zuzulassen. Vielleicht wird nach der Überwindung der größten Not manches zurückgenommen werden - ganz zurücknehmen lässt es sich wohl nicht. Auch dieses Risiko ist die Führung eingegangen. Man kann fragen, ob der Preis dafür nicht zu hoch sei. Aber auf diese Frage gibt es keine Antwort.

Ich habe eingangs die Frage gestellt, ob wir uns an diesen schönen Bildern erfreuen dürfen. Ich habe dies in einem doppelten Sinn gemeint. Zum einen: Holen wir uns daraus nicht einen falschen Trost, der für unsere ganz anderen Verhältnisse nicht zutrifft? Meine Antwort: Wir müssen uns bewusst bleiben, dass es Bilder sind, wir dürfen sie nicht wörtlich deuten und umsetzen wollen, aber wir sollen uns um die bleibende Wahrheit bemühen, die dahinter steht.

Meine zweite Antwort, und sie gilt nicht nur für diesen Psalm, sondern für weite Teile der Bibel: wir brauchen diese lebendigen Bilder, zum Beispiel die Gleichnisse Jesu, auch wenn wir sie immer wieder neu interpretieren müssen, weil sie uns etwas, was sonst abstraktes Verstehen bleibt, vom Gefühl her nahe bringen. Wir alle halten die biblische Forderung »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« für die beste ethische Leitlinie, aber lebendig werden Liebe und Versöhnung in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Samariter. Wenn ich in Gänseblümchen und Spatzen und Mitmenschen Geschöpfe Gottes sehe, habe ich von selbst das Bedürfnis, ihnen nicht wehe zu tun. Und wenn unser Psalm in immer neuen Bildern die Herrlichkeit der Schöpfung preist, weckt er vielleicht in uns die Lust, diese Schöpfung genauer anzusehen und mit mehr Liebe danach zu streben, sie zu bewahren oder behutsam umzugestalten.

Ich denke, es ist gut und richtig, dass wir uns immer wieder an das Wort des Psalms erin­nern: »Und du machst neu die Gestalt der Erde«. Auch wenn die Veränderungen wehtun - es kann immer wieder Neues daraus erwachsen. Wir wollen darauf vertrauen und dankbar dafür sein.

Brigitte Hoffmann, Sonntagsandacht beim Schönblick-Seminar 2008

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Stärke uns den Glauben!

(Lukas 17,5)

Der Zusammenhang: Jesus weist seine Jünger darauf hin, dass es unmöglich sei, dass keinerlei Verführungen auf sie zukämen, und weist sie im gleichen Atemzug an, zu vergeben. Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht; und wenn er umkehrt, vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigen würde und siebenmal wieder zu dir käme und spräche: Es reut mich!, so sollst du ihm vergeben. Doch auf ihre Bitte "Stärke uns den Glauben!", weil sie sich offenbar zu schwach fühlen, dieser Anweisung zu folgen, gibt er ihnen ein Bild: wenn sie einen Glauben, (klein) wie ein Senfkorn hätten, könnten sie einem Maulbeerbaum - der nicht nur viel größer, sondern auch noch ein Tiefwurzler ist - gebieten, sich auszureißen und sich ins Meer zu versetzen.

Damit macht er ihnen klar, dass Glaube nicht quantitativ ist, es nicht einen kleinen oder einen großen Glauben gibt, sondern dass jeder Glaube Kraft hat. Wie meistens ist das Bild nicht 1:1 umsetzbar, aber es hat eine starke Aussage: Jeder Glaube hat eine bewegende Kraft. Wer sich nicht mit dem abfinden mag, was ist, und den Mut und den Willen zur Verände­rung aufbringt, entwickelt eine Kraft, die diese Veränderung auch bewirken kann. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Bewegung "Fridays for Future" geworden, die aus kleinen Anfängen der Initiative einer einzigen Person, Greta Thunberg, zu einer großen Bewegung geworden ist, die sich auf die Politik und wirksamere Maßnahmen für den Klimawandel auswirkt.

Dabei liegt die Verantwortung für den Glauben bei jedem Einzelnen. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen und feststellen, dass Veränderung und Kraft sich schon immer dann einstellen, wenn man nur mit einer Sache beginnt! Das, was meistens fehlt und uns meinen lässt, zu wenig zu glauben oder einen zu schwachen Glauben zu haben, ist das Vertrauen. Vertrauen, dass ein Vorhaben gelingt, dass wir etwas schaffen, was wir uns vorgenommen haben - und nicht den Befürchtungen zu unterliegen, dass das Unternehmen viel zu groß ist und unsre Kräfte übersteigt oder wir zu etwas nicht imstande sind - und deshalb gar nicht erst anfangen.

Immer gehört Vertrauen zum Glauben dazu - oft können wir das Wort "Glauben" sogar durch das Wort "Vertrauen" ersetzen. Denn gerade unser christlicher Glaube besteht in dem Vertrauen auf Gottes Liebe und Zugewandtheit zu den Menschen. Daran zu glauben ist beson­ders in Krisenzeiten schwer, aber Kraft, diese zu bestehen, kommt uns aus diesem Vertrauen zu, dem wir uns im Glauben öffnen.

Karin Klingbeil

Friedrich Hölderlin und die Religion

In diesem Jahr ist nicht nur an den 250. Geburtstag des Philo­sophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu erinnern, dessen Geburtshaus in der Stuttgarter Eberhardtstraße mit einer neu gestalteten Dauerausstellung auf zahlreiche Besucher wartet. Es darf auch an Hegels Studienfreund Friedrich Hölderlin erin­nert werden, der am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar ge­boren wurde. Sein Geburtshaus, das Hölderlinhaus, ist nach einer umfangreichen Renovierung und einer anschließenden unfreiwilligen Corona-Pause seit Juli wieder zugänglich. We­gen der Abstandsregeln müssen sich Besucher allerdings vor­her online für einen bestimmten Termin anmelden. Das Hölder­linhaus in Lauffen bietet zahlreiche Einblicke in das komplexe Lebenswerk des sprachgewaltigen Dichters, der seinen Le­bensabend in geistiger Umnachtung in dem nach ihm benann­ten »Hölderlinturm« am Tübinger Neckarufer verbrachte. Für uns von Interesse ist insbesondere sein Verhältnis zur Reli­gion, das vor einiger Zeit in einem Feature des SWR näher be­leuchtet wurde.

Hölderlin wurde in eine tiefreligiöse Familie hineingeboren; der Vater war Klosterhofmeister, die Mutter entstammte einer württembergischen Pfarrersfamilie. Dem elterlichen Wunsch ent­sprechend besucht Hölderlin zunächst die Klosterschulen in Denkendorf und Maulbronn und studiert dann Theologie an der Kaderschmiede der württembergischen Theologen, dem Tübin­ger Stift. Doch er leidet »Seelenqualen« an der »Galeere der Theologie«, an einer verkruste­ten Dogmatik, die jede spirituelle Erneuerung, wie sie ihm und seinen beiden Zimmergenossen Hegel und Schelling vorschwebt, unterbindet. Mit ihnen zusammen philosophiert er unter dem Begriff »Reich Gottes« über eine neue Mythologie, die Dietmar Jaegle, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Literaturarchiv in Marbach, noch immer für aktuell hält: »Das ist eigentlich eine ganz moderne Theologie. Es geht um das Reich Gottes hier auf Erden, es geht um Wahrheit und Gerechtigkeit und es geht um eine andere Gesellschaft. Im Prinzip ist es ein Jesus- und Urchristentumbild, wie es auch heute manchmal vertreten wird. Wir haben alles, was wir brauchen, um dieses von Gott, von Jesus geforderte bessere Leben hier auch schon auf der Welt zu verwirklichen.«

Im »Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus« beschreiben die drei Freunde, wie Vernunft, Sinn und Sinnlichkeit wieder zusammenführt werden können: »So müssen end­lich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philo­sophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.«

Hölderlin hat Probleme mit den kalten und rationalen Seiten der Aufklärung. Fremd er­scheint ihm auch ein Christentum, das auf Gebote und Verbote, auf Lehre, Würdenträger und eine bestimmte Wahrheit setzt. Er fühlt sich dagegen eher der bunten griechischen Götterwelt verbunden, Göttern, die jähzornig und eifersüchtig, aber auch heldenhaft sein können. Aus dieser Quelle speist sich sein dichterisches, aber auch - was weniger bekannt ist - sein reli­giöses Selbstverständnis. Dietmar Jaegle hält das Thema Hölderlin und die Religion für etwas ganz Wichtiges, wenn man Hölderlin überhaupt verstehen wolle. Er verweist auch auf dessen Aufsatz über Religion, in dem es um eine Religion gehe, wie sie so noch gar nicht existiere. Eine Religion, wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren. Für Hölderlin sei »alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.«

Hölderlin sehnt sich nach einem Leben in Freiheit und Harmonie, in Schönheit und Liebe und strebt nach einer Versöhnung der heidnischen Welt mit dem christlichen Erbe. Religion und Mythologie sind für ihn gleichwertige Begriffe. »Alles ist in Gott« und »Es glimmt in uns ein Funke der Göttlichen« hat er einmal formuliert. In diesem Funken steckt für ihn eine große spirituelle Kraft, die er in der Natur findet und in der Lyrik, die den Menschen vor Entfremdung in einer durchrationalisierten Welt schützen soll, gewissermaßen Poesie als Gottesdienst.

Hierzu Dietmar Jaegle: »Vielleicht sollte man es sicher eher so vorstellen, dass Gedicht und Gebet in ihren Wurzeln, auch in ihren sprachlichen, ein wenig verwandt sind. Wer also dichtet, transzendiert sozusagen die normale Sprache, womöglich auch die normale Gedankenwelt, die Welt an sich. Und genauso würde man auch Religion verstehen können. Es geht um ein Überschreiten in einer poetischen Sprache und dies geht im Prinzip auf zwei Gebieten: im Gebiet der Religion und im Bereich der Dichtung.«

Jörg Klingbeil

 

Passend zur Jahreszeit soll hier Friedrich Hölderlin selbst zu Wort kommen:

Der Herbst

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,
Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,
Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,
Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

 

Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet
Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet
Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen
Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen

 

Die Zweig’ und Äste durch mit frohem Rauschen,
Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.

Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Am Beispiel der artgerechten Tierhaltung und der ökologischen Landwirtschaft

Unter diesem Titel hielt der Bund für Freies Christentum vom 11. - 13. September 2020 zusam­men mit weiteren Kooperationspartnern seine Jahrestagung in der Tagungsstätte der Evangeli­schen Akademie Baden, dem Hohenwart Forum in Pforzheim, ab. Die lange geplante Tagung hatte durch aktuelle Ereignisse wie das Bekanntwerden der in Schlachtbetrieben - für Mensch und Tier - herrschenden unhaltbaren Zustände große Aktualität erlangt. Ein Rückblick.

Zur Begrüßung verwies die Akademiedirektorin Pfarrerin Uta Engelmann auf viele Initiativen der EKD, besonders die Denkschrift »Umkehr zum Leben« von 2009, in der eine nachhaltigere Wirtschafts- und Lebensweise verlangt worden sei; leider sei man mit dieser Botschaft nicht durchgedrungen. Sie wies ferner auf den »Evangelischen Dienst auf dem Lande« der Landes­kirchen hin, der Landwirte in der Praxis berate.

Zum Auftakt referierte ein Vorstandsmitglied des Bundes, Dr. Michael Großmann, über »Die Beziehung von Mensch und Tier im Wandel der Geschichte« und zeigte die Entwicklung vom Paläolithikum bis in die Gegenwart auf. Großmann ging dabei ausführlich auf Domestikation, Tierkult, religiöse Bezüge, die Entwicklung der Evolutionslehre und aktuell die "genetische Re­volution" ein. Gleichwohl könne man nicht von einer linearen Entwicklung ausgehen; die ambivalente Beziehung zwischen Mensch und Tier sei vielmehr sowohl durch teils grausame (Aus-)Nutzung als auch durch emotionale Zuwendung zum Tier geprägt gewesen.

Im folgenden Vortrag beleuchtete der Präsident des Bundes, Prof. Dr. Werner Zager, unter dem Titel »Ehrfurcht vor den Tieren?« neuere Entwürfe der Tierethik im Licht von Albert Schweitzers Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" (»Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will«). Dabei beschrieb er prägende Erfahrungen Albert Schweitzers in seiner Kindheit und zitierte frühe Predigten, in denen Schweitzer "menschliches" Verhalten ge­genüber Tieren anmahnte. Die "Ehrfurcht vor dem Leben" sah er als ethisches Grundprinzip, nämlich als ethische Vollendung des Einzelnen wie der Gesellschaft, an. Daraus ergäben sich auch tierethische Konkretionen. So sei in diesem Sinne »gut«, Leben zu erhalten und zu fördern, dagegen »böse«, Leben zu vernichten und zu schädigen. Beispielhaft nannte der Re­ferent einige VertreterInnen einer Ethik des Mitgefühls und verwies auf die sich seit den 1960er Jahren formierende Tierrechtsbewegung, die die Tiere in die menschlichen Moralbegriffe aufnehmen wolle und fordere, dass Tiere keine Sache mehr sein sollten.

Die Bioethikerin Prof. Dr. Eve-Marie Engels ging der Frage »Alternativen zur Massentierhal­tung?« nach. Sie stellte u.a. den Hallenser Pfarrer Fritz Jahr (1895-1953) als Begründer der Bioethik vor, der den bioethischen Imperativ formuliert habe, wir sollten jedes Lebewesen als Selbstzweck beachten. Den gesetzlichen Rahmen der Bioethik, die vom Eigenwert und der Schutzwürdigkeit der Lebewesen ausgeht, bildet heute das Tierschutzgesetz von 1972, in dem das Tier als Mitgeschöpf bezeichnet wird, dem ohne vernünftigen Grund keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden dürfen. Die Tierschutzidee habe im württembergischen Pietismus ihren Anfang genommen. Die Referentin bejahte entschieden die Notwendigkeit bioethischer Anforderungen und politischen Handelns, zeigte allerdings keine Alternativen zur Massentierhaltung auf.

Der Vortrag eines weiteren Vorstandsmitglieds des Bundes, Prof. Dr. Hans-Georg Wittig, befasste sich mit »Die Grenzen des Wachstums und die Maßlosigkeit des Menschen - ein unlösbares Dilemma?« Darin wies er auf die Denknotwendigkeit hin, zum Schutz des Planeten Grenzen des Wachstums einzufordern; dieser Maxime stehe jedoch die Gedankenlosigkeit aus Bequemlichkeit gegenüber. Seit 50 Jahren würden die Grenzen des Wachstums ange­mahnt, aber die Staaten könnten dieses Problem nicht lösen, es sei ein Bewusstseins- und Einstellungswandel nötig. Die Probleme des Kapitalismus seien eine Folge der Machtkonkur­renz - es gehe um die Vermehrung des Kapitals, egal, wie das erreicht werde. Vernunft könne aber die Machtkonkurrenz transzendieren und zu einer vernunftgeleiteten Solidarität führen. Die Lösung vieler Probleme könne in der gemeinsam angewandten Vernunft liegen (von Weiz­säcker).

Im letzten Referat ging der Vorsitzende der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Dr. Gottfried Schütz, auf die Frage ein: »Wovon, womit und wofür leben wir? Landwirtschaft und Ernährung im Spiegel von Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben«. Er zeigte die massiven Probleme der Landwirtschaft auf (Überdüngung, Wasserbelastung, Preis­verfall), die zur Kostenreduzierung vielfach auf Monokulturen umgestiegen sei, was zu weite­ren Problemen geführt habe (Verlust der Artenvielfalt, Pestizideinsatz, Ernterückgang wegen fehlender Bestäubung, erhöhter Schädlingsbefall). Hinzu kämen umfangreiche Waldrodungen u.a. für den Sojaanbau, durch die jährlich knapp 5 Mio Tonnen mehr CO2 freigesetzt würden. Auch die (in Deutschland verbotene) "grüne Gentechnik" habe eher negative Auswirkungen. Der Weltagrarrat sehe eine zukunftweisende Lösung in einer nachhaltigen Landwirtschaft (kleinflächig, vielfältig, mit lokal angepassten Mischkulturen, Saatpflege); selbst mit ökologi­scher Landwirtschaft könne die Weltbevölkerung ohne Begleitschäden ernährt werden. Die Subventionierung der Landwirtschaft müsse überdacht werden, um die Entwicklung der Land­wirtschaft und das Einkommen der Landwirte richtig zu steuern. Hoffnungsvoll stimme die Zunahme landwirtschaftlicher Ökobetriebe.

Abgerundet wurde die inhaltsreiche, interessante Tagung durch eine anregende Andacht und einen Gottesdienst, der das Verhältnis von (Wild)Tier und Mensch auf humorige, aber nachdenklich stimmende Weise aufgriff, ferner durch eine musikalische Hommage an Ludwig van Beethoven zum 250. Geburtstag durch Dr. habil. Wolfgang Pfüller, ebenfalls Vorstands­mitglied des Bundes.

Karin Klingbeil

»Grünes Band Europa« - eine bestechende Idee

Ich möchte gleich gestehen, dass ich vom Begriff eines »Grünen Bandes Europa« erst vor kurzem gehört und gelesen habe. Das »Grüne Band«, das sich von Norden nach Süden durch Deutschland zieht und den Grünstreifen markiert, der von der 1989 aufgehobenen deutsch-deutschen Grenze gebildet wurde, war mir natürlich schon bekannt gewesen, obwohl ich nie eine Reise oder eine Wanderung entlang dieses Streifens unternommen hatte.

Grünes Band Europa (Quelle: Wikipedia)
Quelle: Wikipedia

Ich hätte jedoch gut daran getan, diese 1.400 Kilome­ter lange naturbelassene Landschaft von der Ostsee bis nach Bayern wenigstens an einigen Stellen selber zu er­leben, die von Büschen und Wäldern, von Sümpfen und Heiden charakterisiert ist und die einer einmaligen Tier- und Pflanzenwelt, die sonst nur noch stellenweise vor­kommt, Schutz und Lebensraum bietet. Von mehreren Naturschutz-Verbänden gehen mir von Zeit zu Zeit Be­richte zu, wie versucht wird, diese Landschaft weiterhin vor einer Zerstückelung zu retten und die noch heimi­schen Pflanzen und Tiere vor einer Ausrottung zu be­wahren.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) macht in seinen Natur- und Umweltschutz-Blät­tern nun auf die Idee aufmerksam, dieses innerdeutsche Grüne Band zu einem »Grünen Band Europa« zu erweitern, und fordert »Macht das Grüne Band Europa zum Welterbe!« Dieses erweiterte Band würde sich über 12.500 Kilometer durch Europa zie­hen und die Heimat der Robben an der finnisch-russischen Grenze mit den Revieren des Luchses im Süden verbinden. Von den Seen und ausgedehnten Nadelwäldern im hohen Norden, wo Elch, Braunbär, Wolf und Vielfraß zuhause sind, würde es sich zu den marinen Unterwasserwelten, Dünen und Stränden an der Ostseeküste, den Rückzugsräumen der Zug­vögel und Robben bis in den Balkan mit seinen Gebirgszügen, wilden Wäldern und Steppen hinziehen.

Diese Idee ist 2002 vom BUND das erste Mal als Vision geäußert worden. Seither ist sie zu einem Sinnbild für den europäischen Gedanken gewachsen und hat zahlreiche Unterstützer gefunden. »Heute«, schreibt BUNDextra, »arbeiten Verbände, Behörden und wissenschaftli­che Institutionen aus 24 Ländern zusammen, um diese Rückzugsräume für gefährdete Tier- und Pflanzenarten zu bewahren. Deshalb fordert der BUND nun: Das Grüne Band Europa soll UNESCO-Weltnatur- und -kulturerbe werden! Wenn im Juli 2020 Deutschland die EU-Ratsprä­sidentschaft übernimmt, bietet sich eine große Chance, die wir nicht versäumen dürfen.«

Dies ist fürwahr ein bestechender Gedanke, der die Kooperation zwischen den Ländern Europas in eine neue und vielleicht weniger umstrittene Perspektive rückt. Eine Realisierung hätte sicherlich eine verbindende Auswirkung. Dabei sollten auch bestehende Nationalparks und Schutzgebiete in das Grüne Band integriert und so eine Wanderung von Tieren zwischen einzelnen Habitaten ermöglicht werden. Es scheint dies eine Mammut-Aufgabe zu sein, die man aber sicherlich durch Aufteilung in einzelne Aufgaben-Etappen lös- und tragbar machen könnte, vor allem zur nicht hinausschiebbaren Rettung der noch vorhandenen Tier- und Pflan­zenwelt.

Inzwischen ziert das Motiv "grünes Band Deutschland" sogar ein aktuelles Postwertzeichen.

Peter Lange

Wasser zu Wein

Zusammenarbeit von deutschen und israelischen Winzern

Im September hat in vielen Weinanbaugebieten Deutschlands die Hauptlese begonnen, die Ernteaussichten sind jedoch düster. So rechnet etwa der Fränkische Weinbauverband mit hohen Ernteausfällen und nur der Hälfte des üblichen Ertrags, regional noch weniger. Als Ursachen werden Spätfröste im Frühjahr, aber auch die zunehmende Trockenheit genannt. Besonders betroffen ist dabei aus geographischen Gründen der unterfränkische Ort Iphofen. Fielen beispielsweise in Südbayern durchschnittlich 1000-1200 Millimeter Niederschlag pro Jahr, so waren es in Iphofen 2018 nur 470, Tendenz fallend. Viele Winzer treibt daher die Frage um, wie die Weinstöcke künstlich bewässert werden können. Dabei profitieren sie auch von israelischem Know-How. Denn Israel ist aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen mit einer hocheffizienten Landwirtschaft in einem heißen Klima heute weltweit führend bei spar­samen Bewässerungsmethoden. Im Kreis Würzburg wurde bereits ein Pilotprojekt mit israeli­scher Tröpfchenbewässerungstechnologie begonnen. Dabei geht es nicht nur um spezielle Bewässerungsschläuche, sondern auch um digitalisierte Feuchtigkeitsmessungen des Bodens oder Drohnenflüge mit Wärmebildkameras. Als Vater der Tröpfchenbewässerung gilt Simcha Blass (1897-1982), der nach einem Ingenieur- und Landwirtschaftsstudium 1927 nach Palästi­na auswanderte. Eine tropfende Wasserleitung soll Blass den Anstoß gegeben haben. Ein Freund hatte ihm einen Baum gezeigt, um den der Boden völlig trocken zu sein schien. Aber aus einer ein paar Meter entfernten Leitung tropfte regelmäßig Wasser. Blass begann zu expe­rimentieren und konnte den Wasserverbrauch um bis zu 40 Prozent verringern.

Auch das Weingut Wirsching in Iphofen, das seit 1630 in 14. Generation betrieben wird, ar­beitet eng mit einem israelischen Weingut in Kfar Gishorit (Galiläa) zusammen und setzt Tröpf­chenbewässerung schon auf einem Sechstel seiner Anbaufläche ein; Dutzende solcher Part­nerschaften gibt es in Deutschland bereits. »Es gibt in Israel heute nur einen einzigen Winzer, der ohne Bewässerung arbeitet«, erklärt die Iphöfer Winzerin Andrea Wirsching. Aber auch der betropfe seine Reben nur in den ersten Jahren, bis ihre Wurzeln das Grundwasser erreichen. »Ohne Bewässerung wird es bei uns in Zukunft keinen Qualitätsweinbau mehr geben«, gibt sich Wirsching überzeugt. Wenn Trauben unter extremem Trockenstress litten, führe dies zur sogenannten Notreife, was sich negativ auf den Geschmack auswirke. Dennoch dürfe man den Reben schon etwas zumuten; sie sollten sich für gute Trauben ruhig anstrengen. Es gehe darum, mit minimalem Wassereinsatz maximale Ergebnisse zu erzielen. Anders als bei einer Sprinklerbewässerung verdunstet bei der Tröpfchenbewässerung kein Wasser; stattdessen erreicht das Wasser zielgenau die gewünschten Stellen. Viele Winzer in Iphofen scheuen aller­dings die hohen Kosten einer künstlichen Bewässerung, solange die entscheidende Frage nicht gelöst ist: Wo soll all das Wasser herkommen und wie soll man es speichern? Dezentrale Regenwasserzisternen stehen ebenso zur Debatte wie eine teure Zuleitung vom 10 km ent­fernten Main samt Speicher. Einig ist man sich allerdings darüber, dass man künftig in Unter­franken ein besseres Wassermanagement braucht und dass man in dieser Hinsicht von Israel noch viel lernen kann.

Jörg Klingbeil

(in Anlehnung an einen Beitrag im Evangelischen Gemeindeblatt vom 13.09.2020)

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