Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 174/9 - September 2018

 

 

Was mich ganz direkt angeht - Brigitte Hoffmann

A call to action - Ingrid Turner

Nachdenken über einen Abwesenden - NZZ-E-Paper

Das Auge ist des Leibes Licht - Peter Lange

Vom Kirschenhardthof nach Konstantinopel - Jörg Klingbeil

Mit Leidenschaft für Menschenrechte - Ulrike Pfeil

Neues aus dem Archiv - Birgit Arnold

Was mich ganz direkt angeht

Meine Erfahrungen mit der Bibel

Das Redaktionsteam hat sich dafür entschieden, immer mal wieder Saalansprachen oder Teile daraus von Brigitte Hoffmann abzudrucken. Sie sind in den drei Büchlein »Meine Erfahrungen mit der Bibel«, »Mein Verständnis von Jesus« und »Meine Gedanken zum Gottesreich« gesammelt - vielleicht wecken wir dadurch das Interesse bei unseren Lesern, sich diese Büchlein zuzulegen.

Vor zwanzig Jahren war die Tempelgesellschaft für mich der Ort, wo man Freunde traf, religiö­se und andere Auseinandersetzungen führte und sich in vielen Punkten über den eigenen Standort klarer wurde - aber nicht in dem letzten, entscheidenden Punkt: ob man sich mit dieser Gemeinschaft voll identifizieren könnte. Ich war längst Mitglied, ich arbeitete mit, zum Teil mit beträchtlichem Aufwand an Zeit und Kraft, weil ich mich mit ihrem Ziel der Arbeit an der Vervollkommnung der Welt und der Menschen voll im Einklang sah. Aber ich zog mich hinter dieses Zielbekenntnis zurück: wer zur Mitarbeit bereit ist, der kann dazugehören, auch ohne eine letzte Übereinstimmung in Glaubensfragen.

Deshalb war ich auch nicht bereit gewesen »Saal« zu halten. Dazu fehlte mir, wie mir schien, die Glaubensgewissheit. Doch Jahre später willigte ich dann doch ein, aus einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber den Menschen, die sie trugen, nicht aus innerer Überzeugung oder gar aus einem Bedürfnis heraus, eher mit dem Gefühl, Hochstapelei zu begehen.

Und dann machte ich, von einer anderen Seite her, die Erfahrung, dass man Glauben lernt, wenn man sich darauf einlässt. Ich war nun - äußerlich und innerlich - gezwungen, mich inten­siv mit religiösen Texten auseinanderzusetzen, vor allem ganz banal: mit der Bibel. Am Anfang sogar mit schlechtem Gewissen. Ich hielt die Bibel nicht für Gottes geoffenbartes Wort: welches Recht hatte ich, über einen Bibeltext zu sprechen als über etwas von ganz besonderer Bedeutung? Aber mir blieb ja nichts anderes übrig: der Vorrat dessen, was man »aus dem Herzen« sagen kann, ist begrenzt.

Also begann ich - was ich lange Zeit nicht getan hatte -‚ in der Bibel und über die Bibel zu lesen. Wahrscheinlich mit viel mehr Gewinn für mich selber als für meine Zuhörer. Das eine, was ich entdeckte, war, dass vieles von dem, was dort geschrieben steht, mich ganz direkt angeht, und dass es, ganz konkret, eine Hilfe für mein eigenes Leben sein kann, solche Texte genau zu lesen und zu befragen.

Das zweite hat Dr. Hellmut Haug einmal in einem Vortrag großartig formuliert: Die Bibel ist nicht geoffenbartes Wort. Sie ist auch nicht eine Sammlung von Gebrauchsanweisungen für alle Lebenslagen, küchenfertig zu übernehmen. Sie ist etwas viel Wertvolleres: ein Zeugnis von Glaubenserfahrungen, Erfahrungen mit Gott: der alten Israeliten, Jesu selbst, der Anhän­ger Jesu. Es sind nicht die unsrigen, aber wir können für die unsrigen daraus lernen, Erkennt­nisse gewinnen und Impulse. Wir machen in der Beschäftigung mit ihnen unsere eigenen Er­fahrungen.

Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil ich glaube, dass meine frühere Haltung der Bibel gegenüber der vieler Templer entspricht. Wir neigen dazu, großzügig mit ihr umzugehen. Wir berufen uns darauf, dass sie nicht im wörtlichen Sinn Gottes Wort ist, dass vieles darin steht, was ganz gewiss nicht Gottes Wort ist. Also kann ich mich nicht auf die Bibel, sondern nur auf meine eigene Überzeugung, mein eigenes Gewissen, mein eigenes Verständnis beru­fen.

Ganz falsch ist das nicht. Auch wenn ich von der Bibel ausgehe, komme ich - angesichts der Widersprüchlichkeit - letztlich an einen Punkt, wo ich selbst entscheiden muss, was ich als für mich gültig annehmen will und was nicht. Nur: ich habe den Eindruck, dass es in vielen Fällen dazu führt, dass wir gar nicht mehr darin lesen. Und das bedeutet eine Verarmung. Die eigene Erfahrung ist notwendig, aber sie ist notwendig auch begrenzt. Zu verzichten auf alle Erfahrungen, die andere vor uns gemacht haben, würde auf allen Gebieten, auch auf dem religiösen, den Rückfall ins Analphabetentum bedeuten. Wenn wir Schwierigkeiten haben mit unserem Glauben, dann vielleicht deshalb, weil wir ihm zu wenig Nahrung geben.

Die Berufung auf die eigene Überzeugung wird hohl, wenn dahinter nicht mehr steht als das Bewusstsein des eigenen guten Willens; sie wird plötzlich zu etwas, was einen selber nicht mehr ganz überzeugt. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen, Anweisungen, Herausforderungen. Es muss nicht unbedingt die Bibel sein - allerdings ist sie meiner Erfahrung nach der reichste, vielfältigste und unmittelbarste Schatz, den wir besitzen, nicht die einzige, aber die wichtigste Quelle unserer Gotteserkenntnis. Was wir aber in jedem Fall brauchen, ist die Auseinandersetzung mit einer solchen Quelle. Eine Pflanze kann nicht wachsen, wenn man sie nicht gießt.

Aus einer Saal-Ansprache in der Tempelgemeinde Stuttgart, wiedergegeben in der »Warte des Tempels« September 1988, Vorwort zu »Meine Erfahrungen mit der Bibel«

Brigitte Hoffmann

A call to action

Im Templer Talk vom August ruft Ingrid Turner von der TSA-Gemeinde Sydney zur aktiven Teilnahme am Gemeindeleben auf. Wir geben hier den Inhalt zusammengefasst wieder, weil das Thema uns gleichermaßen betrifft.

Dass die Tempelgesellschaft mit ihrer speziellen Geschichte als eigenständige religiöse Gemeinschaft auch heute noch besteht, ist sicherlich etwas Besonderes. Wir werden in dieser Gemeinschaft ermutigt zu hinterfragen, wozu wir aufgerufen sind, was es bedeutet, ein Leben nach christlichem Vorbild zu führen bzw. "Tempel Gottes" zu sein. Jeder kann nicht nur von den Gottesdiensten profitieren, sondern die Gottesdienste sind das Kernstück des Gemeinde­lebens und die Teilnahme daran stellt ein wesentliches Element zum Erhalt der Gemeinschaft dar. Dabei vertreten wir eine Glaubensfreiheit, die jeden zum selber Denken anregen sollte. Selbst Außenstehende stellen fest, dass wir keine verbindlichen Glaubenssätze predigen, den Menschen nicht vorschreiben, wo ihr Platz in der Gemeinschaft ist, weder naiv über die Bibel lehren, noch so, dass man gezwungen wäre, sein kritisches Denken an der Tür ablegen zu müssen, oder so, dass die Entwicklungen der letzten 300 Jahre ignoriert würden. Die Gottes­dienste geben nicht nur spirituelle Nahrung und Lebenshilfe, sondern vermitteln auch ein Gemeinschaftsgefühl, besonders, wenn die Teilnehmer sich mit dafür engagieren, dass aus der Tempelgesellschaft die Gemeinschaft wird, die sie sein könnte, wenn wir unseren Glauben in die Tat umsetzten. Wenn der nachlassende Anstand in den politischen und sozialen Medien als normal erachtet wird, wenn der Welthandel, der die Rechte der armen Arbeiter untergräbt, akzeptiert wird und wenn Flüchtlinge wie unsere Eltern, Groß- und Urgroßeltern eingesperrt und wie Müll behandelt werden, dann ist Zeit zu handeln; ebenso, um engagiert gegen die allgegenwärtige Umweltzerstörung vorzugehen. Es ist unsere Aufgabe, sinnvoll der zuneh­menden Intoleranz und Unmenschlichkeit Flüchtlingen und Armen gegenüber zu begegnen und uns für eine faire Gesellschaft einzusetzen.

Die TSA kann eine Reihe von Institutionen vorweisen, die sich in dieser Richtung engagie­ren: die Projekte CHAMPION und das Alten- und Pflegeheim werden betrieben, Sozial- und Jugendarbeiter und ein Vermittler für Glaubensfragen werden finanziert und unterstützt - aber ohne Teilnahme bei den Veranstaltungen wird die Tempelgesellschaft nicht überleben.

Viele engagieren sich ehrenamtlich, besonders auch für die Gottesdienste. Aber es kann nicht nur ein Nehmen sein - wer je von den Gottesdiensten profitiert hat, den brauchen wir jetzt, um weitermachen zu können. Bitte setzt unsere Gottesdienste und sozialen Veranstal­tungen an eure erste Priorität - man kann an vielen Stellen mithelfen. Wenn das nicht ge­schieht, werden wir aufhören zu existieren.

Ingrid Turner, zusammenfassende Übersetzung Karin Klingbeil

Nachdenken über einen Abwesenden

Ein Schweizer Mitglied des Bundes für Freies Christentum hat uns folgenden Beitrag zuge­leitet, den wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen.

Reformation ist kein Ereignis, sondern ein Prozess. Ein Prozess, der nie an ein Ende kommt. Das war schon den Reformatoren bewusst, auch wenn die Rede von der Kirche, die ständig von neuem reformiert werden muss oder, besser, die sich selber immer wieder neu refor­mieren muss, erst rund hundert Jahre nach Luther und Zwingli geprägt wurde.

Beide hätten der Formel »ecclesia semper reformanda« zugestimmt, zumindest grundsätz­lich. Was sie angestoßen hatten, war ja mehr als eine Kirchenreform. Die Reformatoren zielten auf Grundsätzlicheres ab: Sie bestimmten das Verhältnis des Menschen zu Gott neu. Jeder Mensch steht in unmittelbarer Beziehung zu Gott. Das war ihre Kernbotschaft. Das hieß: Für einen gnädigen Gott braucht es keinen Vermittler. Das Verhältnis des Gläubigen zu Gott kommt aus dem Glauben und aus Gottes Gnade.

Hegel bezeichnete die Reformation als »Hauptrevolution« der europäischen Geschichte. Weil sie »den Menschen in sich selbst zurückgeführt« und sein Recht auf freies Selbstsein erkämpft habe. Das entscheidende Moment erkannte er darin, dass die Reformatoren den Christen die Bibel in ihrer Muttersprache zugänglich machten - »eine der größten Revolutio­nen, die geschehen konnte«. Denn erst in der eigenen Sprache, so Hegel, kann der Geist zum Bewusstsein seiner selbst kommen.

Reformation ist also ein Geschenk. Aber das Geschenk enthält eine Verpflichtung. Die Ver­pflichtung, die Freiheit zu gebrauchen. Und das heißt: selbständig zu denken. Über sich selber nachzudenken. Über die Welt. Und über Gott. Daran will die Reformierte Kirche des Kantons Zürich erinnern. Man könnte auch sagen: Sie will es einfordern. Und zwar indem sie zum Reformationsjubiläum eine Preisfrage ausschreibt.

»Was fehlt, wenn Gott fehlt?«, fragen die Zürcher Reformierten und laden ein, im Trubel der nicht enden wollenden Gedenkveranstaltungen zu Luther und Zwingli und den Folgen die Fragen nicht aus den Augen zu verlieren, die im Mittelpunkt standen, als die Reformation es wagte, die Gläubigen zu Gott zu befreien. »Was fehlt, wenn Gott fehlt?« - Gesucht sind Essays, Szenen, Raps, Gedichte, Erzählungen, Songtexte oder größere Kolumnen, die eine Antwort wagen oder auf der Suche nach einer Antwort die Frage vertiefen.

Auf dem Umweg der Verneinung, ein wenig verschämt, aber insistent fragen die Reformier­ten also, was Gott sei. Oder sein könnte. Ob Gott fehlt, lässt die Frage offen. Sie setzt, spielerisch fast, den Fall. Als Sprungbrett für das Denken, das immer im Versuch besteht, etwas, das sich entziehen will, begrifflich zu fassen. Nachdenken über einen abwesenden Gott also? Über einen Gott jedenfalls, der sich jeder Festlegung verweigert. Man wartet gespannt auf die Antworten.

Beiträge zur Preisfrage »Was fehlt, wenn Gott fehlt?« können bis zum 1. Januar 2019 einge­schickt werden.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 11. Juli 2018

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Das Auge ist des Leibes Licht

(Mt 6,22-23)

Das Auge wird hier als Spiegel des menschlichen Gefühlslebens verstanden. Ein ?böses Auge? ist im Evangelium der Ausdruck dafür, dass etwa Missgunst, Neid und Habgier einen Menschen beseelen, ein ?lauteres Auge? hingegen, dass er frei ist davon. Man sieht es einem Menschen also an seinen Augen an, in welcher Art und Weise er gestimmt ist. Mit der Lampe? seines Auges sendet er Signale aus, die seine Umgebung entweder erhellen oder verdunkeln können.

Die Aussage »Das Auge ist des Leibes Licht« kann ich jedoch auch anders interpretieren. Im Unterschied zum biblischen Verständnis bringt dabei das Licht meines Auges nicht mein Inneres nach außen, sondern umgekehrt das Äußere, nämlich die Welt, in mein Inneres. Schon immer haben wir Menschen uns Gedanken gemacht über das Wesen der uns umgebenden Welt. Wir sind aus dem Tierreich hervorgegangen dank der Fähigkeit, unsere Umwelt durch unsere Sinneseindrücke zu erkunden und Nutzen aus ihnen zu ziehen. Unsere Augen nehmen bei diesem Erkunden einen der vordersten Plätze ein.

Die Naturwissenschaft der Optik hat uns in ihrer Entwicklung ein immer höheres Maß an Erkenntnis über das Wesen der Welt eingebracht. Sie hat uns zur grundlegenden Feststellung verholfen, dass das Licht unserer Welterkenntnis letztlich aus dem Licht der Sonne kommt, dessen Vorhandensein in der Evolutionsgeschichte erst zur Bildung unserer Augen führte.

Der meisterliche Dichter und Naturbeobachter Johann Wolfgang von Goethe hat dies in gekonnter Weise in die bekannte Versform gebracht: »Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt‘ es nie erblicken, läg‘ nicht in uns des Gottes eig‘ne Kraft, wie könnt‘ uns Göttliches entzücken?« Damit hat er uns die Erkenntnis nahe gebracht, dass schon in der Schöpfungswirklichkeit der Impuls für unser Verstehen dieser Wirklichkeit angelegt ist. Die Linse unseres Auges ist also für unser Erkennen der Welt von ähnlich großer Bedeutung wie unser aufrechter Gang, dessen Funktion sich erst durch das Vorhandensein der Schwerkraft unserer Erde heranbildete.

Die optischen Instrumente sind für unsere Beobachtungen der Umwelt inzwischen immer weiter verfeinert worden, sodass wir sowohl in die winzigsten Bausteine der Materie als auch in die weitest entfernten Himmelskörper und Galaxien im Kosmos blicken können. Was wir Menschen jedoch überwiegend noch nicht geschafft haben, ist, an einer Verfeinerung unseres Gefühlslebens zu arbeiten, am Leuchten unserer »inneren Lampe«, wie das Bibelwort es meint.

Peter Lange

Vom Kirschenhardthof nach Konstantinopel

Der Aufbruch ins Heilige Land vor 150 Jahren (Teil 2)

In der vorigen Ausgabe hatten wir über die gut besuchte Abschiedsversammlung auf dem Kirschenhardthof am 26. Juli 1868 berichtet, bei der Christoph Hoffmann und Georg David Hardegg mit ihren Familien nach Palästina verabschiedet wurden. Am 6. August bestiegen die Reisenden in Waiblingen den Zug. Zahlreiche Jerusalemsfreunde aus der näheren und weiteren Umgebung waren zum Bahnhof gekommen, um Lebewohl zu sagen. Nun folgt die nächste Etappe der Reise, zunächst bis Konstantinopel, wo mit der Regierung des Osmani­schen Reiches über die Ansiedlung der Templer im Heiligen Land verhandelt werden soll. Die Schilderung der Ereignisse folgt den Berichten und Briefen der Tempelvorsteher, die zwischen Ende August und Mitte Oktober 1868 in der »Süddeutschen Warte« (Nr. 35-43) abgedruckt wurden. Hinsichtlich Rechtschreibung und Stil gilt das in der letzten »Warte« Gesagte.

Die Bahnreise führte die Tempelvorsteher zunächst nach Nördlingen; bis dorthin reisten noch einige Verwandte mit, um »den Eindruck der Trennung durch ein allmähliches Ablösen der Fäden den Scheidenden zu erleichtern«. Am nächsten Morgen setzte die kleine Reisegesellschaft, »bestehend aus drei Männern, drei Frauen, vier erwachsenen Töchtern und drei Kindern«, ihre Reise fort und kam am Abend in München an. Dort wurde ein Aufenthalt von zwei Tagen genommen, um mit Vertretern aus Kirche und Politik - wie später auch auf weiteren Stationen der Reise - über das Anliegen des Deutschen Tempels zu sprechen. »Aus Fürsorge für die Gesundheit der Gesellschaft« wurde beschlossen, für die Weiterreise die Donauschifffahrt zu benutzen. Am 10. August fuhren die Reisenden daher mit dem Zug nach Regensburg und bestiegen am übernächsten Tag das Dampfschiff nach Wien, wo sie am Abend des 13. August eintrafen. In den auszugsweise wiedergegebenen Briefen von Georg David Hardegg und Christoph Hoffmann wird die Skepsis, auf die sie mit ihrem Plan bei den Gesprächspartnern stießen, nicht verschwiegen. Das schien sie nicht entmutigt zu haben, denn - so Christoph Hoffmann - »den Glauben kann und wird der Herr durch Tatsachen schaffen.« Hoffmann erwähnt auch eine Begegnung in Wien mit Dr. Kuhlmann, dem Verfasser einer Schrift über »Palästina als Ziel und Boden germanischer Auswanderung und Kolonisation« (1868); da dessen Kolonisationsideen aber »nicht auf die Weissagung gebaut« seien, so könne es keinen Weg zur Überzeugung des Volkes mit diesen Ideen geben.

Am 21. August 1868 teilt Christoph Hoffmann mit, dass die notwendigen Geschäfte in Wien erledigt seien und es morgen mit dem Schiff nach Pest weitergehe, wo sie drei Tage bleiben würden. In Wien hätten sie von Regierungsvertretern die Zusicherung erhalten, dass die kaiserliche Regierung ihren (konsularischen) Vertretern im Orient die Sache der Tempelgesell­schaft empfehlen werde. In Anbetracht des bevorstehenden Treffens mit den osmanischen Regierungsstellen in Konstantinopel schließt Christoph Hoffmann diesen Bericht mit den eindringlichen Worten: »Dort [in Konstantinopel] und in Syrien wird sich unser Schicksal entscheiden. Lasst uns beiderseits festhalten an unserem Ziel, dem Tempel in Jerusalem, der für zwei Welten, für die jetzige und die zukünftige, von entscheidender Bedeutung ist, und beharren in der Glückseligkeit, die die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens hat. Betet für uns, wie wir es für euch tun.«

Unter dem Datum vom 9. September 1868 berichtet Christoph Hoffmann dann über die Ankunft in der für damalige Verhältnisse riesigen Metropole Konstantinopel. Er beschreibt rückblickend, wie die Reisegesellschaft in Pest von einigen dort lebenden Jerusalemsfreunden freundlich aufgenommen wurde, und vergisst auch nicht zu erwähnen, dass die Direktion der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft in Anerkennung des gemeinnützigen Zwecks der Reise eine bedeutende Fahrpreisermäßigung gewährt habe. Konstantinopel Vue de Bebek Bosphore,
 G. Berggren,
 Fotograf (nach 1870),
 Library of Congress,
 Washington D.C.In Rustschuk (heute: Russe, fünftgrößte Stadt Bulgariens) habe man zuerst türkischen Bo­den betreten und ein Gespräch mit dem dortigen Judenmissionar und Prediger der freien schotti­schen Kirche geführt. Von dort sei die Reise mit der Eisenbahn bis Varna am Schwarzen Meer und schließlich mit einem Schiff nach Konstantinopel fortgesetzt worden, wo man am 1. September ein­traf. Es seien dann umgehend die erforderlichen Schritte unternommen worden, um zu einer Unter­handlung mit der türkischen Regierung »über die Bedingungen der beabsichtigten Ansiedlung im ge­lobten Land zu gelangen.« Hoffmann versichert den Anhängern in der Heimat und denen, die Opfer ge­bracht hätten, dass die bewilligten Mittel zweckent­sprechend verwendet würden, »um zur Entscheidung der Frage zu gelangen, ob es der Wille des Herrn ist, jetzt die Pforten des heiligen Landes für eine größere Ansiedlung aufzuschlie­ßen, eine Entscheidung, die wir mit gebührender Demut von dem König aller Könige zu erwarten haben.« Hoffmann schließt mit dem optimistischen Ausblick: »Jedenfalls hat schon der ernstliche Versuch die Wirkung gehabt, den göttlichen Gedanken des Tempels in Kreise zu tragen, die sonst nie davon berührt worden wären, und unsere Reise ist also schon jetzt eine Mission im Geiste der Weissagung gewesen.«

Am 16. September 1868 berichtet Christoph Hoffmann über die Verhandlungen mit der Hohen Pforte: »(...) Die Gesandtschaft des Norddeutschen Bundes unterstützt unser Geschäft mit großer Fürsorge und Freundlichkeit. Dadurch ist es möglich geworden, unsere Bitte (um Landeinräumung unter günstigen Bedingungen) gestern der hohen Pforte zu überreichen. Wenn nun auch eine definitive Erledigung dieser wichtigen Frage, wenn die Pforte auf diesen Wunsch eingeht, längere Verhandlungen erfordern wird, die wir hier nicht abwarten brauchen, so können wir doch nicht abreisen, ohne wenigstens einen vorläufigen Bescheid erhalten zu haben. Wir können daher noch nicht wissen, ob es möglich sein wird, vor Ende dieses Monats nach Beirut abzugehen. (...) Von Berlin habe ich die Nachricht erhalten, dass S. Majestät der König von Preußen von unserem Unternehmen Kenntnis genommen und befohlen hat, es den Vertretern Preußens und des Norddeutschen Bundes im Orient zur Förderung zu empfehlen.«

Welchen Inhalt die Eingabe vom 15. September 1868 an die Regierung des Osmanischen Reiches hatte, erfährt man aus der »Süddeutschen Warte« Nr. 43 vom 22. Oktober 1868. Dort ist das an den Großwesir des Sultans gerichtete Schreiben im Wortlaut abgedruckt: »Die Unterzeichneten sind die Abgesandten und Vorstände einer Gesellschaft in Württemberg, genannt der "Tempel" welche 2-3000 Seelen zählt und sich aus religiösen Beweggründen in Palästina niederzulassen wünscht. Die Mitglieder dieser Gesellschaft würden sich nach und nach in dieses Land begeben, um sich dem Ackerbau und der Industrie zu widmen und daselbst Institutionen zum allgemeinen Nutzen zu gründen. Sie würden in diesem Land sich einzig nur in der Absicht niederlassen, um durch ihr Beispiel am sittlichen und materiellen Fortschritt mitzuarbeiten. Die Unterzeichneten fühlen sich gedrungen, der Hohen Pforte jetzt schon die feierliche Versicherung zu geben, dass die Genossenschaft, welche sie vertreten, lediglich keinen politischen Zweck verfolgt.« Es folgt dann die konkrete Bitte, der Sultan möge einen Ferman (eine Bewilligung) ausstellen, kraft dessen die Gesellschaft eine Fläche von drei Quadratmeilen auf dem Berg Carmel vorläufig pachten könnte; da das Land jetzt schon zum Anbau und zur Errichtung von Gebäuden genutzt werden solle, möge die Hohe Pforte bereits jetzt den Preis bestimmen, welchen die Gesellschaft nach 5-7 Jahren zu bezahlen hätte, damit das Gebiet dann in ihren eigenen und erblichen Besitz übergehe. Für die Dauer dieser fünf bis sieben Jahre Pachtzeit solle die Gesellschaft von Lasten und Steuern, Zwangsabgaben und militärischen Einquartierungen bei einer »nur mäßigen Pacht« vollkommen befreit werden. Anschließend sei über Steuern und Abgaben erneut zu verhandeln. Außerdem wolle die Gesellschaft - mit Ausnahme der Kriminalfälle - ihre bürgerlichen und religiösen Angelegen­heiten selbst regeln. Abschließend wird eine Unterstützung des Siedlungswerks mit dem Argument schmackhaft gemacht, dass auf diese Weise die Sympathie des christlichen Europa gewonnen und aus den derzeit noch unbebauten Ländereien mit der Zeit bedeutende Einnah­men erzielt werden könnten.

Wie die Hohe Pforte auf das Ansinnen reagierte und wie sich die Weiterreise nach Beirut und schließlich Haifa gestaltete, wird in einer der nächsten Ausgaben geschildert.

Jörg Klingbeil

Mit Leidenschaft für Menschenrechte

Ihr Leben widmete sie einem gerechten Frieden zwischen Israel und den Palästinensern. Nun ist die Alternative Nobelpreisträgerin Felicia Langer gestorben.

Felicia Langer,
 Quelle WikimediaEs war ihr Leitmotiv: »Bis zum letzten Atemzug«, versprach Felicia Langer vor 50 Jahren in den Trümmern eines zerstörten palästinensischen Dorfs, werde sie für die Rechte der dort Vertriebenen kämpfen. Sie hat Wort gehalten.

Noch am 8. Mai, zum Jubiläum der »Gesellschaft Kultur des Friedens« in Tübingen, sprach sie den israelisch-palästinensischen Konflikt, ein Schlüssel­problem des Weltfriedens, in einer Grußbotschaft an. Wenige Wochen später musste sie, geschwächt von einer Krebserkrankung, ins Krankenhaus.

Am Freitag, den 22. Juni 2018, ist Felicia Langer mit 87 Jahren im Eninger Hospiz gestorben, fried­lich und im Beisein der nächsten Angehörigen. Für sie gilt, was man nur von wenigen Menschen ohne falsches Pathos behaupten kann: Sie war eine unbeugsame, eine leidenschaftliche Kämpferin für die Sache, der sie sich verschrieben hatte. Sie war, wie es ein Buchtitel ausdrückt, »die Frau, die niemals schweigt«.

Selbst erfahrenes Unrecht

Eine Quelle ihrer unerschöpflichen Energie war selbst erfahrenes Unrecht, schon als Kind. Die einzige Tochter eines jüdisch-polnischen Rechtsanwalts aus Tarnow musste 1939 nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen mit ihren Eltern in die Sowjetunion emigrieren. Der Vater starb dort an Entkräftung. In Krakau fand Felicia nach dem Krieg ihre große Liebe. Mieciu Langer, ein polnischer Jude, hatte mehrere Konzentrationslager überlebt und alle Angehörigen im Holocaust verloren. Aber nicht die Kraft, nach vorne zu schauen. Das junge Paar emigrierte 1950 in den jungen Staat Israel. Der Start dort war nicht leicht. Doch schließlich, inzwischen Mutter eines Sohnes, konnte Felicia Langer ihren Traum vom Jura-Studium verwirklichen. Ihre große Herausforderung als Anwältin kam nach dem Sechstage­krieg von 1967. In den von Israel besetzten Gebieten wurden Palästinenser von Militärgerich­ten abgeurteilt. Felicia Langer wurde die erste Anwältin, die sie verteidigte. Einen Namen machte sie sich im Fall des Bürgermeisters von Nablus, dessen Freispruch sie erzielte. Sie prangerte aber auch die Haftbedingungen, willkürliche Enteignungen und Vertreibungen von Palästinensern öffentlich an. Sie nahm die UN-Charta der Menschenrechte beim Wort. Um ihre Mandanten kümmerte sie sich mit großer Empathie, sie ging in ihre Häuser, in die Gefäng­nisse. Vor Gericht trug sie die Verluste, Ängste, Schikanen vor, die ihre Mandanten und deren Familien zu erleiden hatten. Viele dankten es ihr mit lebenslanger Freundschaft.

In Israel jedoch wurde Felicia Langer zunehmend kritisiert, geschmäht und sogar bedroht. Als sie für die Palästinenser in den Gerichten nichts mehr erreichte, schloss sie 1990 ihr Anwaltsbüro in Jerusalem und emigrierte ein drittes Mal, nach Tübingen. Hier lebte ihr Sohn Michael Langer, der als Schauspieler damals beim LTT engagiert war. Später gründete er das Ensemble »Jontef«, das an die jiddische Poesie und die Musik der europäischen Juden an­knüpft.

Im Jahr ihrer Ankunft in Deutschland erhielt Felicia Langer internationale Anerkennung und Beachtung durch den Alternativen Nobelpreis für ihre Tätigkeit als Menschenrechtsanwältin. Viele weitere Auszeichnungen folgten, darunter der Bruno-Kreisky-Preis, der Erich-Mühsam-Preis und schließlich, 2012, der Palästinensische Verdienstorden. Sie hatte Lehraufträge an den Universitäten Bremen und Kassel, hielt landauf, landab Vorträge und Reden über die Situation der Palästinenser. Und sie schrieb Bücher, 14 insgesamt. Darunter »Die Zeit der Steine« über die erste Intifada, den Palästinenser-Aufstand Ende der 1980er Jahre; die Autobiographie »Zorn und Hoffnung« (1991); die Anklageschrift »Lasst uns wie Menschen leben!« (1999).

Unerschrockene Kritikerin

Hellsichtig bezweifelte Felicia Langer von Anfang an die Wirksamkeit der Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 über einen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. Nicht, weil sie sich als Kassandra gefiel, sondern weil sie realistisch bewertete, dass zu viele entscheidende Fragen ausgeklammert worden waren. In einem von israelischen Siedlungen zerstückelten Gebiet wie dem Westjordanland könne niemals ein lebensfähiger Palästinen­serstaat entstehen. Als unerschrockene Kritikerin der israelischen Besatzungs- und Siedlungs-Politik (das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967 stellte sie niemals infrage), machte sie sich in Deutschland zumal unter jüdischen Repräsentanten nicht nur Freunde. Einen Höhepunkt erreichten die Anfeindungen anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreu­zes, 2009. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sprang ihr damals öffentlich bei. Auch ihren Mann Mieciu, mit seiner moralischen Autorität als Holocaust-Überlebender, wusste sie bei allen Anfechtungen immer solidarisch unterstützend an ihrer Seite. »Er war meine Klage­mauer«, sagte sie anlässlich ihres Jubiläums von 65 Ehejahren. Die Familie, treue Freunde und die politische Lebensaufgabe halfen ihr beim Weiterleben nach dem Tod des geliebten Ehepartners vor drei Jahren. Eine ihrer schönsten Ehrungen erfuhr Felicia Langer zu ihrem 85. Geburtstag: Im überfüllten Lustnauer Gemeindehaus gab ihr der syrisch-palästinensische Pianist Aeham Ahmad ein Konzert. Zu Hause hatte er in den Kriegstrümmern musiziert, als Zeichen der Hoffnung. Die Palästinenser verlieren in Felicia Langer eine große Fürsprecherin. Tübingen verliert eine Bürgerin und Zeitgenossin, die das Bild einer weltoffenen und toleranten Stadt nach draußen trug. Die Trauer um Felicia Langer ist nicht nur bei ihrer Familie, den fünf Enkeln und drei Urenkeln groß, sondern auch bei den vielen, die sie zu persönlicher Solidarität mit den Benachteiligten im Nahost-Konflikt bewogen hat, wie dem Verein »Flüchtlingskinder im Libanon«.

Die Trauerfeier und Beisetzung von Felicia Langer erfolgte am Donnerstag, 28. Juni, um 11 Uhr auf dem Tübinger Bergfriedhof.

Ulrike Pfeil, erschienen am 23.06.2018, © Schwäbisches Tagblatt GmbH

Neues aus dem Archiv

Unser Archiv wird in seiner Geschichtsarbeit immer wieder durch engagierte Historiker und Familienforscher unterstützt. Hierfür sind wir sehr dankbar, so auch für den nachfolgenden Beitrag von Birgit Arnold aus Korntal, die erneut (vgl. ihren Beitrag in der »Warte« vom März 2015) den Spuren der Templerfamilie Tietz aus Südrussland nachgegangen ist. Dank auch an Dr. Wolfgang Lutz, der die persönlichen Aufzeichnungen von Anna und Katharina Tietz zur Verfügung gestellt hat.

»Am 8. August ging Otto in den Krieg«

Die Reise von Anna und Katharina Tietz nach Palästina

Am 6. März 1913 heirateten in Stuttgart Otto Lutz aus Heilbronn und Berta Tietz (*1892 in Tempelhof, Tochter von Friedrich Wilhelm Tietz und Anna Hausknecht). Die große Hochzeits­feier fand nur wenig später in Olgino im Kaukasus statt, und bald darauf siedelte das junge Paar über nach Palästina, wo Otto Lutz in Haifa als Architekt arbeitete.

Ein Jahr später machte sich die 1911 verwitwete Anna Tietz geb. Hausknecht vom Kauka­sus aus auf den Weg nach Palästina, um ihre Tochter bei der Geburt des ersten Enkels im Sommer 1914 zu unterstützen. Mit ihr reiste ihre 20jährige ledige Tochter Katharina. Anna Tietz schrieb Reisenotizen, die bis heute im Besitz der Familie Lutz erhalten sind, ebenso gibt Katharinas Poesiealbum Aufschluss über Aufenthalte und Reisebekanntschaften der beiden Frauen.

Der Reisebericht beginnt am 19. März in Simferopol; mit der Bahn geht es zunächst nach Odessa, von dort aus mit dem Schiff über Konstantinopel, die Dardanellen, Smyrna, Chios, Rhodos, Mersina, Iskenderun, Tripoli und Beirut nach Haifa, wo sie am 1. April ankommen. Zwei Monate später, am 7. Juni 1914, wird in Waldheim der Enkel Bruno geboren.

Als am 1. August 1914 der erste Weltkrieg beginnt, wird Otto Lutz eine Woche später eingezogen und verlässt Palästina. Eine Heimreise nach Russland ist für Mutter und Tochter erst einmal nicht möglich. Den Winter verbringen die drei Frauen mit dem Kind bei Familie Grossmann in Tiberias; Ende April 1915 ziehen sie nach Waldheim um, wo sie zwei Zimmer mieten. Am 19. Juni stirbt Bruno Lutz, ein gutes Jahr alt, an einer Durchfallerkrankung. Erst drei Monate später kann Otto Lutz seine Familie wiedersehen.

Otto Lutz ist als Ingenieur beim Bau der Bagdadbahn eingesetzt, die von deutschen Firmen und mit deutscher Finanzierung gebaut wird. Anfang Oktober 1916 nimmt er seine Frau und seine Schwägerin Katharina mit nach Aleppo, dort bleiben sie aber nicht, sondern reisen weiter nach Keller (heute: Fevzipasa), etwa 140 km weiter nördlich, nahe einer Tunnelbau­stelle der Bagdadbahn, und lassen sich dort nieder. Hier lernen die beiden Frauen das Schweizer Ehepaar Fritz und Clara Sigrist-Hilty kennen. Fritz Sigrist, Ingenieur, arbeitet eben­falls auf der Baustelle. Seine Frau Clara hat schon im Vorjahr, im Sommer 1915, von ihrem Haus am Berg aus die Todesmärsche der Armenier auf der alten Straße im Tal beobachtet und als Augenzeugin in einem ausführlichen Bericht und in ihrem eigenen Tagebuch festgehalten (siehe hierzu auch Dora Sakayan: »Man treibt sie in die Wüste« - Clara und Fritz Sigrist-Hilty als Augenzeugen des Völkermordes an den Armeniern 1915-1918, Limmat-Verlag Zürich, 2016). Das Ehepaar Lutz und Katharina Tietz werden darin mehrfach erwähnt. Die drei Frauen treffen sich zum Tee und handarbeiten, vor Weihnachten wird zusammen gebacken. Katharina und Clara pflücken Blumen und zeichnen sie. Ob sie wohl über die politischen Verhältnisse und das fortwährende Elend der Armenier vor ihren Augen gesprochen haben? Es ist anzu­nehmen, aber nicht vermerkt.

»Ich gehe früh schnell bei Lutzens Abschied nehmen«, schreibt Clara am 13. Juni 1916 in ihr Tagebuch. Kurz darauf verlassen das Ehepaar Lutz und Katharina die Gegend und reisen nach Aleppo, denn die Geburt des zweiten Kindes steht bevor.

Schon im Mai 1916 hatte Berta ihre Mutter eingeladen, zu ihr nach Aleppo zu kommen. Wir wissen nicht, warum sich diese Reise nicht so schnell realisieren ließ, jedenfalls erfährt Anna Tietz in Jerusalem erst mit drei Wochen Verspätung, dass am 20. Juli 1916 der Enkel York geboren wurde. Ihn lernt sie schließlich im Oktober kennen, als sie endlich in Aleppo eintrifft, wo sie die nächsten zwei Jahre verbringen wird.

Anna Tietz lebt in dieser Zeit - zwischen Oktober 1915 und Oktober 1916 - in Jerusalem, wo sie bei der alten Frau Berner wohnt. Dort hat sie viele Kontakte zu alten Bekannten aus dem Kaukasus, d.h. zu den Familien Fast, Lange, Dyck und Schmidt, berichtet von Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen. Sie besucht die Heiligen Stätten und wird zu Ausflügen einge­laden. Am 2. Dezember 1915 nimmt sie an der Feier zum 100. Geburtstag Christoph Hoff­manns teil.

Nachrichten aus ihrer Heimat, dem Kaukasus, sind spärlich, was Anna Tietz große Sorgen macht. Gelegentlich gibt es Neuigkeiten auf Umwegen; am 4. September 1915 kommen z.B. Nachrichten auf dem Weg über Amerika. Am 21. Februar 1916 erwähnt sie die Internierung von Frauen und Kindern nach Sterlitamak in Baschkirien. Ein Jahr später erhält sie aus Olgino ein Foto ihres dort im August 1914 geborenen Enkels Werner, den sie noch nie gesehen hat. Dessen Vater, ihr Sohn Oskar, wird im Juni 1917 ins zaristische Heer eingezogen, »kommt aber wieder frei«, wie sie erleichtert hinzufügt. Der Brief der Schwiegertochter Selma geb. Dyck aus Olgino, in dem die Geburt der Enkelin Nora (*28. Mai 1917) angekündigt wird, ist mehr als ein halbes Jahr unterwegs und löst erst am 25. Januar 1918 in Aleppo große Freude aus. Die Nachricht vom Tod des Sohnes am 2. Oktober 1918 - er stirbt auf der Flucht vor den »Roten« an einer nicht behandelten Peritonitis - wird sie nicht mehr erreichen.

Anna Tietz korrespondiert auch mit ihrem Neffen Leonhard Pfanzler, der seit 1914 in einem Kriegsgefangenenlager in Burgstädt in Sachsen lebt: «Den 3. Januar 1916 erhielt ich von Leon einen Brief aus Burgstädt.«

Die Zeit in Aleppo ist abwechslungsreich, aber auch gekennzeichnet von Sorge um den kleinen York, mit dem Berta Tietz mehrfach in die Berge reist, um dem ungesunden Klima in der Ebene zu entfliehen. Anna und Katharina Tietz erleiden Malariaanfälle. Ab Ende 1917 kommt es zu Versorgungsengpässen und einer Teuerung. Der Waffenstillstand mit Russland Ende 1917 wird hoffnungsvoll und freudig begrüßt. Zu Kaisers und Königs Geburtstag gibt es im Winter 1918 Feiern.

Am 11. Mai 1918 reist Otto Lutz mit seiner Frau und dem Sohn York - Schwiegermutter und Schwägerin können als Volksdeutsche nicht mit - nach Deutschland ab. Sie kommen dort sicher an; am 19. Juli macht sich Otto Lutz auf die Rückreise, am 1. August trifft er in Aleppo ein. Er wird nach »Nisibin« (Nusaybin) versetzt, offenbar zum Weiterbau der 500 fehlenden Kilometer Richtung Bagdad, was wegen der unklaren politischen Lage jedoch aufgegeben wird. Jedenfalls wird Otto Lutz schon einen Monat später nach Deutschland versetzt. Das Ende des Krieges zeichnet sich ab, die Sicherheitslage, vor allem für Deutsche, wird kritisch. So besteigen am 7. Oktober 1918 alle drei in Aleppo einen Zug der Bagdadbahn. Für die 650 km bis Konya brauchen sie zwei Wochen, nach weiteren drei Tagen sind sie am 25. Oktober 1918 endlich in Konstantinopel und beziehen dort ein Hotel.

(Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)

Birgit Arnold

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