Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 171/7+8 - Juli/August 2015

 

 

Künstliche Intelligenz - Fluch oder Segen? - Jörg Klingbeil

Noch einmal: Flüchtlinge - Brigitte Hoffmann

»...du stellst meine Füße auf weiten Raum« - Karin Klingbeil

Sklaverei - bei uns? - Karin Klingbeil

Die "anderen" Templer - Peter Lange

Künstliche Intelligenz - Fluch oder Segen?

Das vielschichtige Thema »Fortschritt«, dem das diesjährige Gemeindeseminar gewidmet war, bietet weiterhin Anlass, sich mit neuen, durchaus ambivalenten technischen und gesell­schaftlichen Entwicklungen zu befassen: Dass Computer immer leistungsfähiger, billiger und schneller werden, haben die meisten von uns schon am eigenen Geldbeutel erfahren. Dass Hochleistungsrechner sogar Großmeister im Schach schlagen, war schon in den Zeitungen zu lesen. Und auch Moore’s Law, wonach sich die Zahl der Halbleiter auf einer gegebenen Fläche rund alle zwei Jahre verdoppelt, also Miniaturisierung und Speicherfähigkeit exponentiell voranschreiten, ist vielen geläufig. Wohin dieser »Fortschritt« eines Tages führen mag, können sich aber offenbar nur wenige vorstellen. So waren die Zuhörer einer Tagung in London vor kurzem auch erheblich verstört, als sie der weltbekannte britische Physiker Stephen Hawking mit der Prognose überraschte, dass Computer mit ihrer künstlichen Intelligenz »irgendwann in den nächsten hundert Jahren« den Menschen übertreffen würden. Und dann fügte er an: »Das wird das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit sein - und möglicherweise auch das letzte!« Die Entscheidung, ob diese Entwicklung zum Fluch oder zum Segen werde, liege in der Hand der Menschen selbst, so Hawking. Deshalb gelte es heute die notwendigen Entscheidungen zu treffen, damit die künftigen hochintelligenten Computer sinnvoll eingesetzt werden, also bei der Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen, bei der Überwindung von Armut und der Beseitigung des Hungers auf der Welt helfen - und nicht etwa ihre Intelligenz zum Schaden der Menschheit gebrauchen.

Wie die Zukunft aussehen könnte, machte bei derselben Tagung auch der hochintelligente Informatiker und Spieleentwickler Demis Hassabis deutlich, der mit zwölf Jahren bereits den Titel eines Schachmeisters errang und dann wissen wollte, welche Regionen seines Gehirns für gute Spielzüge verantwortlich waren. Nach seiner Doktorarbeit in Neurowissenschaften gründete er ein Unternehmen mit dem vielsagenden Namen »Deep Mind Technologies« und setzte seine Forschungen in Computerspielen um. Vor einigen Jahren entwickelte er zum Beispiel eine Software, die in der Lage war, sich selbst das Spielen klassischer Atari-Spiele beizubringen, und nach kurzer Zeit jeden Score knackte, ohne zuvor selbst irgendwelche Informationen über die Spiele und ihre Regeln gehabt zu haben. Zugriff hatte der Computer lediglich auf die Steuerung und die Ausgabe auf dem Bildschirm; außerdem erfuhr er den Punktestand, den er natürlich so schnell wie möglich erhöhen sollte. Der Rest war Versuch und Irrtum, also Lernen, und eben Künstliche Intelligenz (KI). Das Besondere: Die Software konnte natürliche Lernprozesse der Neuronen im menschlichen Gehirn simulieren. Kein Wunder, dass der Branchenriese Google diese Software umgehend für 550 Mio. Dollar kaufte; Larry Page, der Google-Chef, soll sie als »mit das Aufregendste, was ich je gesehen habe« bezeichnet haben.

Sowohl der schwerbehinderte Physiker Hawking als auch der hochbegabte Software­entwickler Hassabis sehen derzeit keine Grenzen für die sich beschleunigende Entwicklung, sorgen sich aber um deren Eindämmung. Deshalb setzte Hassabis sich für die Gründung eines Ethik-Beirats bei Google ein, der die möglichen Nachteile von KI beobachten soll. Allerdings muss bezweifelt werden, ob Internetriesen wie Google, Amazon, Facebook (USA) oder Baidu (China), die in einem weltweiten Wettbewerb möglichst rasch neue Geschäftsideen rund um KI auf den Markt bringen wollen, überhaupt noch von ethischen Bedenken aufzu­halten sind. Ihnen geht es vor allem um die immer schnellere Analyse und kommerzielle Ausbeutung der riesigen Datenberge, die von den Nutzern aller Welt permanent angehäuft werden. Einstmals verblüffende Techniken aus Science-Fiction-Filmen (wie »Minority Report« und andere, also Touchscreen, Gesichts- und Mustererkennung, Gesten- und Sprachsteue­rung, Data Mining, Predictive Policing usw.) sind inzwischen längst Realität geworden. Das Internet durchdringt zunehmend alle Lebensbereiche und es geht längst nicht mehr nur um die Vernetzung von Haushaltsgeräten, die Fernsteuerung der Heizung oder das intelligente Auto auf staufreier Fahrt. So betonte Stephen Hawking auf der besagten Tagung, dass keinesfalls Kriegsgerät mit künstlicher Intelligenz ausgestattet werden dürfe, weil es sich dann letztlich nicht mehr beherrschen lasse. Aber auch hier ist der »Fortschritt« offenbar nicht mehr aufzuhalten. Vor zwei Jahren kündigte zum Beispiel die US-Armee an, ihre Truppen aus Kostengründen deutlich zu verkleinern und künftig verstärkt intelligente Drohnen und Kampfroboter einzusetzen; das wurde in Afghanistan, im Irak oder Jemen inzwischen schon fleißig erprobt. Eine der innovativsten Entwicklungsfirmen dieser Branche (Boston Dynamics) wurde bereits von Google aufgekauft. Beim Robotereinsatz geht es den amerikanischen Militärs keineswegs nur um untergeordnete Hilfsdienste für die Soldaten im Einsatz; schon werden bewaffnete Kampfmaschinen erprobt, die zunehmend selbständig über den Waffen­einsatz entscheiden sollen. Eine Zwischenstufe auf diesem Weg sind technisch aufgerüstete menschliche »Supersoldaten« mit einem externen Exoskelett, das die körperlichen Fähig­keiten drastisch verbessern und zugleich den Körper schützen kann.

Angesichts dieser Pläne verlangen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch eine Ächtung der automatisierten Kriegsführung. Insbesondere der Einsatz bewaffneter Drohnen habe zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung verursacht; auf jeden getöteten Terroristen seien 50 tote Zivilisten gekommen. Die heutigen Drohnen seien aber nur der Anfang, die künftigen Kampfroboter würden ständig hinzulernen und autonom handeln können. Noch werden Menschen benötigt, die Ziele aussuchen und die Roboter oder Drohnen steuern. Aber wie lange noch? Wann bestimmen Algorithmen, wem der Angriff zu gelten hat? Philosophen, Völkerrechtler und Ingenieure vermissen ethische Kriterien und global gültige Gesetze für deren Einsatz. Eine Einigung liegt aber in weiter Ferne. Denn unbemannte Systeme haben für Politiker und Militärs unschätzbare Vorteile: Das Risiko für die eigenen Soldaten sinkt dadurch beträchtlich, die Aufregung in der Heimat über eine abgeschossene Drohne hält sich in Grenzen, Kampfroboter brauchen weder Altersrente noch Hinterblie­benenversorgung, es wird also viel Geld gespart. Der Militärpsychologe Dave Grossman, der sich in seinem Buch »On Killing« mit der Psychologie des Tötens auseinandergesetzt hat, wies auf weitere mögliche Motive hin: Studien aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem Vietnamkrieg hätten gezeigt, dass der Mensch von Natur aus eine innere Tötungshemmung habe, denn nur 15-20% der Soldaten hätten in einem Gefecht bewusst auf den Feind geschossen. Deshalb seien moderne Armeen bestrebt, die »killing rate« ihrer Soldaten zu erhöhen, also deren Tötungshemmung abzubauen. Möglicherweise könnten entsprechende Computerspiele dazu beitragen. Für Grossman steht fest, dass die Militärs deshalb auf der Suche nach hoch effektiven und emotionslosen Kampfmaschinen sind.

Die Diskussion um die Gefahren von Künstlicher Intelligenz im Zusammenhang mit militärischen Systemen hält unvermindert an. Prominente wie Stephen Hawking oder Elon Musk, der Tesla-Motors-Chef, warnen schon vor einem Ende der Menschheit. Der an der Universität Oxford lehrende Philosoph und Physiker Nick Bostrom hat in seinem 2014 erschienenen Buch »Superintelligenz« nicht ausgeschlossen, dass sich künstliche Intelligenz zukünftig selbständig verbessern könnte; eine anschließende »Intelligenzexplosion« mit unkontrollierbaren Folgen sei nicht auszuschließen. James Barrat, Autor des Buches »Unsere letzte Erfindung - künstliche Intelligenz und das Ende der menschlichen Ära«, malt ein furchterregendes »Terminator«-Szenario an die Wand, mit vollautomatischen Robotersoldaten, die Entscheidungen selbständig treffen, niemals müde oder hungrig werden und zuverlässig alle als »legale Ziele« einprogrammierten Personen ausschalten. Von derartigen Horror­szenarien seien wir noch weit entfernt, meint hingegen das Referat »Zukunftsanalyse« der deutschen Bundeswehr. Derzeit kämpfe man noch mit aktuellen Schwächen künstlicher Intelligenz: Überforderung bei unvorhersehbaren Ereignissen, eine geringe auftragsbezogene Flexibilität und keine Fähigkeit zur Improvisation. Dennoch seien durchaus sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für KI denkbar, zum Beispiel Roboter zur Minenräumung oder zur Bergung von Verwundeten. Künftige Einsätze der Bundeswehr in Krisengebieten würden eher komplexer und anspruchsvoller und damit für autonome Maschinen weniger geeignet. Die entscheidende Sichtweise sei aber die ethisch-rechtliche, die allerdings von den Verbündeten unterschiedlich gesehen werde. Offenbar ein dezenter Hinweis auf die andere Militärstrategie der USA.

Hawking und Hassabis weigern sich, schwarz zu malen, und hoffen lieber darauf, dass - wie bei allen industriellen Revolutionen der Vergangenheit - auch die hochintelligenten Computer mehr Arbeit und mehr Wohlstand bringen, wenn auch nach teilweise erheblichen Anpassungs­prozessen. Sie glauben an den »Fortschritt«: Bald würden Menschen mit Hilfe der Computer in der Lage sein, beim Telefonieren auf Deutsch hineinzusprechen und vom Gesprächspartner auf Chinesisch verstanden zu werden. Auf die automatischen Kriegsmaschinen bezogen, flüchtet sich Hawking allerdings in schwarzen Humor: »Als wir das Feuer erfunden haben, haben die Menschen damit auch eine Weile Mist gebaut; aber irgendwann haben wir auch den Feuerlöscher erfunden.«

Jörg Klingbeil

Noch einmal: Flüchtlinge

Das Thema steht derzeit ziemlich weit oben auf der politischen Agenda, und das ist gut so. Auch wir in der »Warte«haben in nur einem Jahr dreimal darüber berichtet - in den Ausgaben von März und April 2014 und von April 2015. Es ist eines der Themen, bei denen Politik und Ethik (fast?) unauflöslich ineinander verhakt sind.

Auf der einen Seite gehört die Hilfe für die Notleidenden zur DNA (zur Erbsubstanz, zum Kern) des Christentums, auf der anderen steht eine grausame Realität: zu den vor einem Jahr geschätzten 25 Millionen, die nach Europa drängen (genaue Zahlen gibt es naturgemäß nicht), sind inzwischen wohl ein bis drei Millionen dazugekommen, für dieses Jahr rechnet man mit 100.000 und die Zahlen steigen weiter. 2014 hat Baden-Württemberg ­­20.000 aufgenommen, Hunderttausende sind im Mittelmeer ertrunken, in der Sahara verdurstet, an Krankheiten und Entkräftung gestorben.

Zu den Problemen im Allgemeinen (Schengen-Abkommen, Asylrecht u.a.) s. die genannten »Warte«-Artikel. Was hat sich in diesem Jahr (und z.T. auch in der Zeit davor) geändert? Im Abstand von wenigen Monaten war es zu zwei schweren Seenotfällen gekommen. Zwei schrottreife, bis zum Rand mit Menschen vollgestopfte Frachter waren gekentert und über 1.000 Menschen waren ertrunken, weil keine Hilfe rechtzeitig vor Ort sein konnte. Die welt­weite Empörung bewirkte, dass das Thema auch in der Öffentlichkeit präsent war und die Politiker aufschreckte. Das - nicht nur die Unglücksfälle, sondern auch der bisherige Umgang mit Flüchtlingen - war eine Schande für Europa. Es musste etwas geschehen.

Was vor wenigen Wochen geschah, erschien zunächst als ein kleines Wunder: die Staaten der EU einigten sich darauf, dass die Flüchtlinge gerechter auf die EU-Länder verteilt werden müssten. Das Wunder hat allerdings zwei Schönheitsfehler. Der wichtigste: nach bisherigem internationalen Recht entscheiden die Einzelstaaten souverän über ihre Flüchtlingspolitik, mit je eigenen Regeln; zu den deutschen siehe die genannten »Warte«-Artikel (im Folgenden kurz: Art. 2014/2015). Die EU kann sie nicht zwingen. Für die EU gemeinsam gilt nur das skandalöse Schengen-Abkommen (s. Art. 2014).

Der zweite Schönheitsfehler: diejenigen Länder, die bis jetzt prozentual die meisten Flücht­linge aufnehmen, erhoffen sich eine Erleichterung, die ärmeren hoffen, dass sie verschont bleiben, etliche verweigern sich kategorisch. England z.B. hat eine solche Weigerung bereits zu einer der Bedingungen für den Verbleib in der EU gemacht. Viele - z.B. Frankreich, die Niederlande u.a. - haben rechtspopulistische bis halbfaschistische Parteien und befürchten, dass denen ein stärkerer Zustrom von Flüchtlingen weiteren Auftrieb geben würde. Dass in dieser Gemengelage je ein gemeinsamer Beschluss zustandekommt, ist sehr unwahrschein­lich - das wäre tatsächlich ein Wunder.

Ohne Wunder geändert hat sich der Einsatz von Frontex. Die kleine, gut ausgerüstete und bewaffnete Flotte mit speziell trainierten Mannschaften wurde Anfang des Jahrhunderts von der EU gegründet und erhält von ihr Aufträge - eine Art schneller Eingreiftruppe, speziell zu dem Zweck, die Flüchtlingsboote im Mittelmeer abzufangen und unter Androhung von Waffen­gewalt - zu Kämpfen kam es meines Wissens nie - zurückzutreiben zu der Küste, von der sie gekommen waren; meist diejenige Libyens. Was dort aus den Flüchtlingen wurde, interessierte niemanden. Meist verschwanden sie in Camps in der Sahara.

Jetzt lautet der neue Auftrag für Frontex: die Menschen aus den Booten retten und zur nächsten europäischen Küste bringen - fast immer die italienische. Griechenland wird schon seit ein bis zwei Jahren nicht mehr angelaufen, seit bekannt wurde, dass die dortigen Flücht­lingslager sich, bis auf die Gaskammern, kaum von Konzentrationslagern unterscheiden.

In Spanien liegen die Dinge etwas anders. Die Straße von Gibraltar ist leicht zu über­wachen, und außerdem nimmt Spanien eine zwar begrenzte, aber ziemlich große Zahl von illegalen Zuwanderern bereitwillig auf, als Saisonarbeiter für die jeweiligen Ernten von Obst, Gemüse und Oliven. Sie müssen von einem Ernteort zum nächsten wechseln, werden miserabel bezahlt und können sich nicht wehren - aber sie haben immerhin ihr Auskommen.

Bleibt Italien. Die Frontex-Truppe macht ihre Sache so gut, dass innerhalb von wenigen Mo­naten dort schon mehrere tausend Flüchtlinge angekommen sind. Das ist zwar zahlenmäßig ein Tropfen auf einen heißen Stein. Aber es ist ein Schritt zu mehr Menschlichkeit. Diese paar Tausend sind nicht ertrunken und es steht durchaus zu erwarten, dass die Aktion in gleichem Sinne weiterläuft.

Allerdings: mit der Ankunft in Italien hört die Berichterstattung über die Flüchtlinge auf. Dabei war der Ruf Italiens bisher in dieser Hinsicht kaum besser als der Griechenlands: niemand kümmerte sich um sie. Dabei ist dieser zweite Teil der Aufgabe mindestens ebenso wichtig: den Geretteten wieder zu einem sinnvollen Leben zu verhelfen. Aber das ist offenbar keine Meldungen wert, wahrscheinlich, weil dabei keine schnellen Erfolge zu erwarten sind. Dazu braucht es viele engagierte Helfer, professionelle und ehrenamtliche, Hilfen bei Behördengängen, bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft, Sprachkurse und vieles andere, und Erfolge werden erst langfristig sichtbar. Vielleicht ändert sich ja allmählich auch in Italien etwas.

In Deutschland gibt es seit der steigenden Flüchtlingswelle einige Ansätze dazu. Ein Ge­setz, dass Asylverfahren nicht länger als ein Jahr dauern dürfen, gibt es schon seit ein paar Jahren. Es wurde wohl sehr lax gehandhabt - wahrscheinlich, weil es nicht anders ging (s. Art. 2015). Jetzt will der Bund für eine Verdoppelung der Richterstellen an Asylgerichten sorgen. Trotzdem wird es dauern, bis alle diese Stellen besetzt sind.

Bisher durften Flüchtlinge, bis ihr Asylantrag genehmigt war, weder arbeiten noch ihren Wohnort verlassen - das war ursprünglich als Abschreckungsmaßnahme gedacht. Sie waren also gezwungen, untätig und ohne Perspektive herumzusitzen - Gift für die Menschen, die oft traumatisiert sind. Viele wurden depressiv. Jetzt soll die Residenzpflicht aufgehoben, das Arbeitsverbot auf drei Monate beschränkt werden, es soll von Anfang an Deutschkurse geben. Es soll Finanzhilfen geben für Kommunen, die zu arm sind, um Flüchtlingshilfe zu orga­nisieren; es gibt viele davon. Das häufige »soll« in meinen Sätzen zeigt: es dauert, bis solche Neuerungen in Gesetzen oder Verordnungen geregelt sind.

Die Flüchtlingswelle hat aber auch eine erfreuliche Entwicklung sichtbar gemacht: seit in den 60er Jahren mit angeworbenen (!) Gastarbeitern die Masseneinwanderung begann, ist, zumindest in den alten Bundesländern, die deutsche Gesellschaft sehr viel offener geworden. Damals begegnete man selbst EU-Ausländern mit Misstrauen oder Ablehnung, heute sind sie aus unserer Gesellschaft und unserem Straßenbild nicht mehr wegzudenken, von den Döner-Buden bis zur Ausbesserungsschneiderei. Dass unsere Gesellschaft ohne die Altenpflege­rinnen aus Indonesien und die Müllmänner aus aller Herren Länder gar nicht mehr funktio­nieren würde, ist wohl den meisten nicht bewusst, wird aber im Einzelfall meist dankbar anerkannt (zumindest bei den Pflegerinnen).

Im letzten Jahr wurde zwecks Flüchtlingsverteilung Stuttgart in 17 Bezirke aufgeteilt. Meines Wissens gab es nur in einem davon Proteste, und auch die verstummten, als man mit den Ein­wohnern redete und sie mit Flüchtlingen zusammenbrachte und diese von ihren grauenvollen Erlebnissen in ihrer Heimat und auf der Flucht berichteten. Von »Sozialschmarotzern« redete dann niemand mehr. Es bildeten sich auch dort, wie in allen Bezirken, von denen ich ein bisschen weiß, schon vor der Ankunft der Flüchtlinge Freundeskreise, die Kleidung, Spielzeug, Bettwäsche u.a. brachten und ehrenamtliche Hilfe anboten, z.B. kostenlosen Deutschunter­richt.

Vielleicht ist mein Kurzbericht zu einseitig, in anderen Regionen mag es anders aussehen. Schließlich ist Baden-Württemberg eines der reichsten Bundesländer, die Fildervororte, die ich ein bisschen kenne, sind privilegierte Teile Stuttgarts; und natürlich spielt es eine Rolle, ob man sich Hilfe und Hilfsdienste leisten kann oder ob man im Fremden einen Konkurrenten um die knappen Arbeitsplätze sieht. In den neuen Bundesländern ist die Situation sowieso komplizierter - aber das wäre ein Thema für sich.

Auch wenn mein Bild einseitig ist: dass es dieses Bild auch gibt, und nicht nur vereinzelt, sondern in der ganzen Region und in Einzelfällen in ganz (West-)Deutschland - ich weiß von einer Reihe Beispielen -, ist ein kleiner Schritt in der Richtung zu einer Gesellschaft mit mehr Mitmenschlichkeit. Möge er weiter Schule machen!

Brigitte Hoffmann

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

»...du stellst meine Füße auf weiten Raum« (Psalm 31, 9)

Der Psalm, aus dem das Zitat stammt, spiegelt das Hin- und Hergerissensein des Beters, der mal die größte Bedrängnis ausdrückt, sich selbst dann wieder der Güte und Gerechtigkeit Gottes versichert und Halt und Geborgenheit darin findet. Uns begegnen einige bekannte Verse wie: in deine Hände befehle ich meinen Geist (Vers 6) oder meine Zeit steht in deinen Händen (Vers 16) - und, inmitten einerseits der Gewissheit, dass Gott den Beter trägt und ihn in Güte annimmt, andererseits der Klage über Bedrängnis und Angst, unvermittelt: du stellst meine Füße auf weiten Raum. Diese Aussage hat mich spontan sehr angesprochen, ohne dass ich zunächst hätte sagen können, warum.

Sie vermittelt eine Weite, die wir als uneingeschränkte Freiheit unseres Lebens verstehen können. Eine Freiheit, die wir Menschen uns alle für unser Leben wünschen, die uns zusagt, dass wir das Leben, das uns geschenkt ist, so gestalten können, wie wir es uns vorstellen, ohne irgendwelche Einengung oder Unterdrückung. Aber: Freiheit fordert auch Entschei­dungen von uns - immer wieder neu. Dass diese Entscheidungen nie so ausfallen sollten, dass sie die Freiheit eines anderen beeinträchtigen, hört sich selbstverständlich an, ist aber oft gar nicht so einfach - siehe auch den folgenden Beitrag. Auch Jesus hat durch seine Sündenvergebung den Menschen Freiheit zugesprochen, die ihnen zum befreiten Weiterleben ­verholfen haben. Diese Freiheit ist für uns Menschen die Grundlage dafür, unser Potenzial positiv - und auch für andere - nutzen zu können.

Der persisch-islamische Mystiker Galal ad-Din Rumi (1207-1273) drückt diese Überle­gungen so aus:

 

Du bist mit einem Potenzial geboren worden. Du bist mit Güte und Vertrauen geboren worden. Du bist mit Idealen und Träumen geboren worden. Du bist mit Größe geboren worden. Du bist mit Flügeln geboren worden. Du bist nicht zum Kriechen geboren worden, also krieche nicht. Du hast Flügel. Lerne sie zu gebrauchen und fliege.

Jahresbegleiter »weltverbunden leben«

 

Auch Fliegen vermittelt den Eindruck von Freiheit und Weite - und zusammen mit allem, was der Mystiker zuvor sagte, bekommen wir auch von ihm die Aufforderung, das, was uns als Menschen mitgegeben worden ist, zu nutzen - und in unserem Leben umzusetzen.

Und noch etwas sagt der hier zugrunde gelegte Psalmvers für mich aus - ohne dass es deutlich ausgeführt würde: du stellst meine Füße... heißt es. D.h., da ist etwas oder jemand -beim Beter des Psalmverses ist es ganz fraglos Gott-, der meine Füße, mich, hinstellt. So ist in dieser Aussage auch noch etwas beinhaltet, wonach sich jeder Mensch - vielleicht gerade in aller seiner Freiheit - sehnt: ein Kümmern um uns und unser Leben, eine Sicherheit und Geborgenheit im Hintergrund, die immer da ist.

Karin Klingbeil

Sklaverei - bei uns?

Eine Aussage bei unserem Wochen­end­seminar auf dem Schönblick war, dass es ein Fortschritt sei, dass es keine Sklaverei mehr gebe - doch wer macht sich schon klar, dass jeder in unserer westlichen Gesellschaft für - moderne - Sklaverei mitverantwortlich ist? Um unseren hohen Lebens- und Konsumstandard halten zu können, arbeiten nach Schätzung des US-Außenministeriums weltweit über 27 Millionen Menschen als Sklaven. Das heißt, dass sie für unzureichenden oder gar ganz ohne Lohn arbeiten müssen und keine Möglichkeit haben, sich aus dieser Situation zu befreien - und teils auch selbst wie Ware gehandelt werden. Auf der Internetseite der Menschenrechtsorganisation »Made In A Free World« (angestrebtes Siegel) kann man sich - vergleichbar mit der Berechnung des CO2-Fußabdrucks - seinen persönlichen "Sklavenfußabdruck" berechnen lassen. Die Zahl, die generiert wird, kann sich natürlich nur auf Durchschnittswerte beziehen, aber selbst, wenn man seinen Verbrauch sehr zurückhaltend eingibt, heißt das Ergebnis: für deinen Konsum arbeiten 25 Sklaven. Denn unter unwürdigen Umständen liefern Menschen Material für Kleidung, Autos, Elektronik, Sportartikel, Kosmetik, Schmuck, Elektronik, Lebensmittel ... Nach Schätzungen von Terre des Hommes sind darunter etwa 5,5 Millionen Kinder. Sie bauen in indischen Minen mit Pickeln, die größer sind als sie selbst, Glimmer und Mineralien ab für das tägliche Makeup, pflücken Baumwolle auf usbekischen Feldern, pulen in Thailand über zehn Stunden am Tag Garnelen für den Weltmarkt, die zudem unter Bedingungen erzeugt werden, die das Ökosystem zerstören. Auf thailändischen Fischkuttern müssen zumeist aus Burma oder Kambodscha gekaufte oder verschleppte Arbeiter unter Zwang und Gewalt bis zu 20 Stunden arbeiten - davon berichten Geflohene. In Pakistan lassen sich Eltern Geld für Verträge mit ihren 13-jährigen Söhnen bezahlen, die diese bis zu deren 30. Lebensjahr verpflichten.

Ähnlich unwürdig geht es bei den Zu­lieferern der Bekleidungsindustrie zu: im südin­dischen Tirupur, einem der größten Textilstandorte der Welt, werden z.B. 120.000 junge Mädchen und Frauen wie Sklavinnen gehalten und ausgebeutet. Nach dem »Sumangali-System« werden junge Mädchen aus ihren Familien rekrutiert. Obwohl es seit 1961 offiziell verboten ist, bezahlen Familien traditionell bei der Heirat hohe Brautpreise für ihre Töchter, was sie dazu veranlasst, sie zum Geldverdienen in die Fabriken zu schicken. Menschen­händler nutzen diese Situation aus und suchen in den Dörfern gezielt nach solchen Mädchen. Willigen die Eltern - aus Armut und Not - in solche Verträge ein, beginnt für ihre Töchter eine jahrelange Tortur. Sie werden auf dem Fabrikgelände eingesperrt, schlafen in dunklen Baracken dichtgedrängt auf dem Fußboden, müssen täglich 12-16 Stunden arbeiten, werden immer wieder von den Aufsehern beschimpft, geschlagen und sexuell belästigt, bekommen minderwertiges Essen. Häufig verletzen sie sich an den alten Maschinen, werden krank und vor dem Ablauf der Vertragsfrist fortgejagt und so um den versprochenen Lohn, der ­unter dem indischen Mindestlohn liegt und am Ende bezahlt werden soll, betrogen. Sie haben kaum Kontakt mit ihrer Familie; täglich versuchen einige zu fliehen; etliche sehen den Selbstmord als einzigen Ausweg.

Diese Zustände habe ich deshalb so ausführlich beschrieben, weil sich bei uns wohl nur wenige vorstellen können - und wollen -, wie diese verdeckte Sklaverei aussieht und was für Leid sie Tag für Tag für die Betroffenen bedeutet. Dabei hat Deutschland als reiches und konsum­orientiertes Land (würden alle so leben, wie die Deutschen 2013, bräuchten wir 2,6 Erden, um den damit verbundenen Ressourcenverbrauch abdecken zu können!) eine besondere Verantwortung, gegen Klimawandel, Umweltverschmutzung und Ressourcenver­knappung anzukämpfen. Denn diese, verbunden mit unserem Wirtschaftssystem des perma­nenten Wachstums, gehen einher mit gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit weltweit: Milliarden Menschen kämpfen gegen Armut, Mangelernährung und Hunger. Daran wird sich nur etwas ändern, wenn die reichen Länder mehr für ihre Konsumgüter bezahlen - damit Arbeiterinnen und Arbeiter von gerechten Löhnen ihre Familien ernähren können und somit auch nicht auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen sind.

Was können wir tun? Die Schwierigkeit ist, dass in den Lieferketten immer wieder Bestand­teile und Zutaten enthalten sind, deren Herkunft schwer nachvollziehbar ist - die Transparenz ist äußerst mangelhaft. Aber wenn wir die Zusammenhänge kennen, sollten wir nicht die Augen verschließen, sondern versuchen, möglichst solche Dinge zu konsumieren, deren Herkunft wir nachvollziehen können. Es ist eine Schande, dass Deutschland hinsichtlich unternehmerischer Ausbeutung im Ausland weltweit an fünfter Stelle rangiert, nach den USA, Großbritannien, Kanada und China. Leider setzt unsere Regierung in dieser Hinsicht (noch?) auf freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen (s. G7-Gipfel in Elmau), anstelle schon heute verbindliche Regeln aufzustellen. In Frankreich z.B. ist die Sorgfaltsprüfung im Bereich Menschenrechte und Umwelt für Unternehmen verpflichtend, Zuwiderhandlungen werden mit bis zu 10 Millionen Euro geahndet oder führen zu einer zivilrechtlichen Haftung.

Aber wir Verbraucher können viel tun: immerhin hat sich der "faire Handel" - gerade durch das Verhalten der Verbraucher! - mittlerweile sehr gut etabliert und verzeichnet weiterhin guten Zuwachs; wenn auch Verbraucher in Großbritannien und der Schweiz drei- bis viermal so viel für Fairtrade-Waren ausgeben wie die Deutschen (1,6 Millionen Kleinbauern und Plantagen­arbeiter in 58 Ländern profitieren inzwischen von existenzsichernden Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen). Es gibt eine ganze Anzahl weiterer Siegel, die für Konsum ohne Aus­beutung stehen: für Blumen, Natursteine, Teppiche, Kleidung (Fair Wear Foundation, Cotton Made in Africa, GOTS=Global Organic Textile Standard), Tourismus. Auf den Internetseiten z.B. von INKOTA-Netzwerk e.V. und von Terre des Hommes kann man umfassende Informationen zum Thema finden; Letztere bieten Informationen zu Produkten und Dienstleis­tungen, sowie Erklärungen der einzelnen Siegel.

Karin Klingbeil

Die "anderen" Templer

Einigen Wortassoziationen nachgegangen

In unseren Veröffentlichungen über Geschichte, Gemeinde und Glauben der Tempelgesell­schaft weisen wir immer wieder darauf hin, dass unser Name nicht mit dem mittelalterlichen »Tempelritter-Orden« verwechselt werden dürfe. Diese Verwechslungsgefahr ist weit verbrei­tet, obwohl der Orden einer längst vergangenen Zeitepoche angehörte, und wir werden oft darauf angesprochen.

Und es gibt auch noch weitere Templer, die in keinem Zusammenhang mit uns stehen. So zum Beispiel die »Guttempler«, die sich für von Alkohol und bewusstseinsverändernden Drogen sowie für Brüderlichkeit und Frieden einsetzen. Diesen Zielen können wir inhaltlich durchaus beipflichten.

Einer Vereinigung mit ähnlich klingendem Namen, dem »Neutempler-Orden«, können wir dagegen überhaupt nichts abgewinnen, sondern müssen seine Ziele im Gegenteil scharf verurteilen. Der Orden wurde 1900 von Jörg Lanz von Liebenfels in Wien gegründet und ab 1915 als »Ariosophie« bezeichnet. Der Orden verband christliche Frömmigkeit mit modernen Begriffen der Rassenkunde und der Eugenik.

Es handelt sich bei den Neutemplern nicht um einen historischen Geheimbund des letzten Jahrhunderts, sondern um eine Vereinigung, dessen Ziele auch nach Auflösung der Rassen­diktatur des Dritten Reiches erneut auflebten. Wikipedia schreibt, dass der Neutemplerorden noch bis 1973 aktiv gewesen sei.

Die Geschichte dieser Bewegung hat in den letzten Jahren Walther Paape von der DRK-Bergwacht in Dietfurt bei Sigmaringen erforscht, weil Dietfurt einstmals der Hauptsitz der Neutempler gewesen war. Paape referierte vor Kurzem in der Alten Synagoge in Hechingen über seine Forschungsergebnisse, worüber wir einen kurzen Zeitungsbericht des »Hechinger Tagblatts« erhielten.

In dem Tagblatt-Bericht heißt es wörtlich: »Der aus Wien stammende Josef Adolf Lanz, ein aus dem Kloster entsprungener Zisterziensermönch, geschmückt mit einem angemaßten Adelsrang und einem unberechtigten Doktortitel, vertrat in vielen seiner Schriften ausge­sprochen rassistische, anti­semitische und frauenfeindliche Auffassungen. Sie haben nach­weislich den jungen Adolf Hitler beeinflusst und bewogen sogar prominente Zeitgenossen zum Eintritt in diese elitäre Organisation, etwa den schwedischen Dichter August Strindberg oder den Maler ­Alfred Kubin.«

Wir wollen nicht hoffen, dass wir Templer mit solchen Vereinigungen aus Unkenntnis in einen Topf geworfen werden. Wir tragen jetzt einen schon über 150 Jahre alten Namen, der einen biblischen Hintergrund hat und die christliche Gemeinde symbolhaft als »Haus Gottes« sieht. Das dürfen wir immer wieder auch anderen Zeitgenossen erklären. Warum auch nicht?

Peter Lange

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