Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 170/7+8 - Juli/August 2014

 

 

Jesus und die Ehebrecherin - Karin Klingbeil

Macht Religion menschlich? - Britta Baas

Das Gewissen - die Stimme Gottes in uns? - Martin Schreiber

In Sarona ist was los! - Peter Lange 

Jesus und die Ehebrecherin

Für die Andacht bei unserem Seminar zum Thema »Das Gewissen - die Stimme Gottes in uns?« habe ich mich für eine Begebenheit entschieden, die nur im Johannesevangelium beschrieben ist - obwohl sie ursprünglich offenbar auch hier nicht stand, sondern erst im 4. Jahrhundert an dieser Stelle eingefügt worden ist. Es hat wohl etliche Diskussionen gegeben, bis diese Erzählung in die Bibel aufgenommen worden ist, so ziemlich zur letzten Gelegenheit, zu der es noch möglich war. Es handelt sich um Kapitel 8, 1-11: Jesus und die Ehebrecherin:

Jesus aber ging zum Ölberg. Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie.

Aber die Schriftgelehrten und die Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.

Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

Mit seiner beeindruckenden Reaktion erreicht Jesus zweierlei: einerseits entzieht er sich der Falle, die ihm von Pharisäern und Schriftgelehrten gestellt worden war, andrerseits hält er denjenigen, die die Frau verurteilen - schlimmer noch, die sie steinigen wollen - den Spiegel vor.

Zur Situation: die frommen Juden, Schriftgelehrte und Pharisäer, suchen Jesu einer nachweislichen Gesetzesübertretung zu überführen - und versuchen, ihm eine Falle zu stellen. Dafür eignet sich die frisch ertappte Ehebrecherin besonders gut, denn Jesus weiß sehr wohl, dass das mosaische Gesetz bei Ehebruch die Todesstrafe anordnet, die sofort durch Steinigung vollstreckt werden soll. Wäre Jesus eine theologische Kapazität gewesen, wie beispielsweise Rabbi Hilel, der ebenfalls zur Zeit Jesu lebte und der versucht hatte, das Gesetz an dieser Stelle aufzuweichen, oder Rabbi Johanan ben Zakkai, der tatsächlich gut 40 Jahre später dieses Gesetz über die Todesstrafe bei Ehebruch außer Kraft setzte, ja dann wäre das etwas anderes gewesen. Aber die in den Evangelien beschriebenen Zusammen­stöße zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern resultieren aus einer Zugewandtheit Jesu zu den Menschen, die mit dem jüdischen Gesetz in Konflikt zu geraten scheint. Zugleich gilt aber das Besatzungsrecht der Römer, das besagt, dass nur sie, die Römer allein, Todesurteile aussprechen und vollstrecken dürfen. Wie immer sich Jesus entscheidet - und man kann davon ausgehen, dass er Partei für die Schwächere, hier die Frau, ergreifen würde - richtet er sich damit gegen ein geltendes Gesetz.

Dabei ist es einerlei, wie es zu dieser Überführung der Ehebrecherin gekommen sein mag, passenderweise, als Jesus gerade viele Menschen um sich versammelt hatte und sie lehrte. Für die Schuld am Ehebruch wurde nach Auffassung der damaligen Gesellschaft zumeist die Frau verantwortlich gemacht - obwohl nach dem mosaischen Gesetz auch der betroffene Mann mit gesteinigt werden sollte -; aber das Zeugnis einer Frau wog immer weniger als das eines Mannes, so dass es immer zu dieser schiefen Beweislage kam, die die Frauen benachteiligte. Heute verstößt die Steinigung als grausame Strafe gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von allen Staaten der UNO mit Ausnahme der arabischen Staaten anerkannt ist. Letztere haben eine Erklärung mit ähnlichem Wortlaut verabschiedet, die aber das islamische Gesetz, die Schari’a, berücksichtigt. So wird die Steinigung in etlichen islamisch geprägten Staaten auch heute noch bei Ehebruch angewandt. Bemerkung am Rande: die Strafe ist nicht im Koran vorgesehen, sondern stammt aus den Hadithen, der Überlieferung von dem Verhalten des Propheten Mohammed: er soll diese Strafe bei Ehebruch von Juden gemäß der Thora angeordnet haben.

Aber hier geht es natürlich gar nicht um die spezielle Verfehlung der Frau und ihre adäquate Bestrafung, hier geht es darum, Jesus eine Falle zu stellen, ihn in die Zwickmühle zwischen den Anforderungen der Thora, dem jüdischen Gesetz, und seinem Umgang mit Sündern und Ausgegrenzten der Gesellschaft zu bringen. Bestenfalls würde man ihn, wenn er sich als jüdischer Lehrer dem jüdischen Gesetz unterstellen würde, direkt als jemand, der das Gesetz der Römer nicht achtete, als an die Besatzer übergeben können!

Aber nach einigem Nachdenken reagiert Jesus ganz anders als erwartet. Erinnern wir uns an die Bergpredigt Jesu, da wandte er sich, als er den Ehebruch ansprach, vor allem an die Männer: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen (2. Mose 20, 14).« Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde (Matth. 5, 27-29). Auch in unserer heutigen Gesellschaft - viel mehr noch in patriarchalisch geprägten - gibt es einen ungleichen Blick auf die "Rollenverteilung" beim Ehebruch: für verführerische Frauen gibt es etliche wenig schmeichelhafte Bezeichnungen, während Männer dann oft als Frauenheld bezeichnet werden. Jesu deutliche Ansage mag zur damaligen Zeit manchen Mann vor den Kopf gestoßen haben.

Seine in der Bergpredigt vertretene Auffassung ist äußerst rigoros - aber diese Härte fordert Jesus immer nur bei denen ein, die ihm nachfolgen wollen, - und zwar nur gegen sich selbst. Niemals geht es ihm darum, einen Menschen mit seinem Fehlverhalten bloßzustellen und die angemessene Strafe für dieses Fehlverhalten zu fordern. Ihm geht es durchaus auch um die Einhaltung des - für ihn gottgegebenen - jüdischen Gesetzes, denn nicht von ungefähr macht er Folgendes klar, bevor er die Einzelbeispiele in der Bergpredigt aufzuzählen beginnt: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht (Matth. 5, 17-18). Doch ist eines für ihn wesentlich: es geht ihm nicht um den Buchstaben des Gesetzes, sondern darum, dass das Gesetz gilt, um das Miteinander der Menschen auf eine gute und sinnvolle Basis zu stellen. Und dafür kann es sein, dass sogar noch sehr viel extremere Anforderungen für den Einzelnen gelten, als sie im offiziellen Gesetz verankert sind.

Auch in unserer Begebenheit geht es ihm nicht darum, das Fehlverhalten der Frau zu thematisieren, das ohnehin nur als Mittel zum Zweck diente. So erklärt er das Gesetz, das sie zum Tod durch Steinigen verurteilt hätte, nicht als ungültig. Aber er fordert von den Pharisäern und Schriftgelehrten das ein, was ebenfalls unerlässlich für eine menschliche Rechtsprechung ist, wie sie in unser geltendes Rechtssystem offiziell eingeflossen ist: das Verständnis für Verfehlungen aus einer Schwäche heraus, die uns Menschen allen zu eigen ist: Kein Mensch ist ohne "Sünde", jeder Mensch macht Fehler.

Und diesen Umstand benutzt Jesus und kommt damit auf eine völlig andere Ebene. Es geht nicht mehr um die "äußerliche" Anwendung der Gesetze, auch nicht darum, ob jetzt das jüdische oder das römische anzuwenden sei, sondern jetzt spricht Jesus wie so oft jeden Einzelnen an: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Eigentlich hat das Fehlverhalten der Frau nichts mit dem der anderen Menschen zu tun - und es wäre unbedingt auch rechtens, sie der geltenden Rechtsprechung zuzuführen. Sicherlich war es gerade auch die Angst davor, was dieses Beispiel in der Bibel für die Gesellschaft für Folgen haben könnte; wenn moralische Vollkommenheit zur Bedingung des Gesetzesvollzugs werden sollte, könnte ja kein Verbrechen mehr verurteilt werden - und das wäre die reine Anarchie, Gesetzlosigkeit!

Für Leute wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die nicht nur das Recht sprechen und verwalten, ist dieses Gesetz richtig - es gibt keine Veranlassung, es zu hinterfragen, sondern nur, es auszuführen. Sie folgen einem Mechanismus, der ihnen die Illusion vorgaukelt, alle "faulen Äpfel" der Gesellschaft eliminieren zu können, wie in einem Schwarm von Möwen jedes kranke und schwache Tier mit scharfen Schnabelhieben in den sicheren Tod getrieben wird - dann ist der gesunde Möwenverband wieder unter sich, die Irritation ist beendet.

Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, und mit der Praxis der Steinigung kommt hinzu, dass nicht einer die Verantwortung dafür zugeschoben bekommt, einen Menschen vom Leben zum Tod zu befördern, sondern dass ja mehrere daran beteiligt sind - und jeder sich in der Masse verstecken kann. Das erinnert an eine Hinrichtung in den USA 1996, bei der bei dem fünfköpfigen Erschießungskommando ein Gewehr ohne Munition blieb - damit hinterher keiner wusste, ob seine Kugel todbringend war.

Bei uns fliegen heute keine Steine mehr und juristisch genießen alle Täter den Schutz vor Vorverurteilungen. Doch verhält sich unsere Gesellschaft sehr viel zivilisierter, wenn im Internet ein shitstorm losgetreten wird - ein Steinhagel öffentlicher Entrüstung, der mit Beleidigungen einhergeht und sachliche Diskussion verhindert, der den sozialen Tod zur Folge haben kann; und das auf meist völlig anonyme Art und Weise? Da stehen die "geistigen" Steinewerfer nicht einmal öffentlich zu ihrer Meinung und es wird ganz leicht, - auch vermeintliche - Missstände in Gesellschaft, Politik und Kirche anzuprangern. Und oft geschieht das völlig ohne sachliche Argumente.

Zurück zu unserer Geschichte. Jesus schafft es sehr schnell, ohne großes Argumentieren - das ohnehin nichts geholfen hätte - die Menge zu zerstreuen. Mit seiner Aufforderung "wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein" setzt Jesus der abstrakten und unpersönlichen Strafgerechtigkeit bei dieser Begebenheit ein Ende. Nun steht da ein Mensch unter anderen Menschen, der gefehlt hat - aber gleichzeitig sind alle, die darum herum stehen und über dieses Fehlverhalten geurteilt haben, vor die Gewissensfrage nach dem eigenen Fehlverhalten gestellt.

Kein Mensch ist ohne Sünde, kein Mensch ist ohne Verfehlung gegen eine Beziehung. Es spricht für die Anwesenden, dass sie mit dieser Frage an ihr Gewissen ehrlich umgehen und durch ihre Reaktion öffentlich auch eigene Verfehlungen zugeben - allen voran "die Ältesten".

Auch Jesus urteilt nicht über die Frau oder ihr Vergehen. Mit seiner Aufforderung "Geh und sündige fortan nicht mehr" bringt er das Wissen zum Ausdruck, dass Menschen, die sich einer Schuld bewusst sind, sich dieser Schuld stellen und versuchen werden, denselben Fehler nicht ein zweites Mal zu machen.

Trotzdem steht jeder Mensch jederzeit in der Gefahr, die Spielregeln des menschlichen Miteinanders zu verletzen. Dieses Wissen ist in das Vaterunser eingeflossen in der Zeile »und führe uns nicht in Versuchung« - eher gemeint als Bitte um Stärkung, all den kleinen und großen Versuchungen, denen wir als menschliche Wesen ausgesetzt sind, widerstehen zu können.

Ich wünsche uns allen, dass uns unser Gewissen weiterhin eine gute Richtschnur im Leben sein möge, die eher Orientierung gibt als einengt, die uns unsere Ideale verfolgen lässt, ohne die Befindlichkeit unserer Mitmenschen aus dem Auge zu verlieren.

Karin Klingbeil, Morgenandacht beim Wochenendseminar Schönblick 2014

Macht Religion menschlich?

Woher wissen wir, was richtig ist? Über das Vertrauen in vernünftige Entscheidungen und die Angst vor Fundamentalisten. Fragen an die Theologen Mouhanad Khorchide und Joachim Va­lentin.

Herr Khorchide, Ihr aktuelles Buch »Scharia - der missverstandene Gott« beginnen Sie mit der Erzählung von einer Begegnung am Flughafen von Casablanca. Die Leiterin der Passkontrolle verwickelt Sie in ein Gespräch, in dem sie sich als Muslima zu erkennen gibt, die die Regeln des Islams so genau wie möglich befolgt. Sie sagt: »Ich habe Angst vor Gott.« Was haben Sie ihr geantwortet?

Mouhanad Khorchide: Diese Begegnung fand im Mai statt. Ich hatte mein Buch eigentlich schon weitgehend fertig; die Begegnung war aber perfekt für die Einleitung. Denn sie bestä­tigte mich in dem, was ich in dem Buch geschrieben hatte. Ich habe der Frau also in etwa Folgendes gesagt: Wenn man sich Gott als Befehlshaber denkt, muss man immer Angst haben, es ihm nicht recht zu machen. Meine Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine andere. Sie ist dialogisch. So finde ich sie auch im Koran. Ich sehe da keinen restriktiven Gott, der verherrlicht werden will, sondern einen, der nach Mitliebenden sucht. Er schenkt Liebe und erwartet eine liebende Antwort. Weil viel zu viele Menschen aber ständig Angst vor Gottes Strafe haben, interpretieren sie auch die Scharia als Strafenkatalog. Dabei kann man sie auch ganz anders verstehen: als Weg zu Gott in einem dialogischen Sinne. Gott will keine Satisfaktion. Er ist dem Menschen zugetan.

Herr Valentin, in Deutschland hört man oft: »Der Islam muss die Aufklärung nachholen. Wenn das geschehen ist, muss man sich auch nicht mehr über solche Dinge wie die Scharia strei­ten.« Haben Christen eine aufgeklärte Religion, während Muslime sie nicht haben?

Joachim Valentin: Unter den aktuellen kirchenpolitischen Bedingungen, wie wir sie gerade im Bistum Limburg erleben, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen: offenbar nicht...

Britta Baas

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 22/2013, Seite 35.

Das Gewissen - die Stimme Gottes in uns?

Wochenendseminar 13. - 15. Juni 2014

Wie jedes Jahr trafen sich etwa 25 Mitglieder (von 18 bis 88) zum Wochen­end­seminar auf dem Schönblick in Schwäbisch Gmünd. Wunderbares Wetter, die schöne Unterbringung und frohe Geselligkeit machten das Seminar wieder weit über das Interesse am Thema hinaus zu einem reichen Erlebnis.

Das Gewissen erschien zunächst für die Meisten keine bedrückende Instanz. Einige verspüren allerdings bedrückende Gewissensbisse, niemals genug (für andere) getan zu haben, und kämpfen mit Blick auf die Ressourcen dieser Welt mit einem ständig quälenden Gewissen. Das »schlechte Gewissen« scheint für viele eher ein Erlebnis der Kindheit und Schulzeit.

Jörg Klingbeil gab Streiflichter des Verständnisses des Gewissens quer durch die Geschichte und musste feststellen, dass das Gewissen offensichtlich schon immer sehr unterschiedlich verstanden und beurteilt wurde: Von Ovid (»Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen«) bis Albert Schweitzer (»Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels«) und von Darwin (anthropologische Bedeutung im Leben der Gruppe) bis zum Erlebnis von Schande und Schuld bei religiös sanktionierten Verstößen. Dimensionen des Gewissens weisen auf Vergangenes und Künftiges, auf Gott und Familie, Partner und Gesellschaft.

Unsere Gesetze - bestätigt durch Gerichtsurteile - setzen das Gewissen voraus und anerkennen es als höchste Instanz: Die Freiheit des Gewissens ist unverletzlich (Art. 4 GG), und der Abgeordnete ist letztlich nur seinem Gewissen verantwortlich.

Mit der Erkenntnis von Gut und Böse ist dem Menschen das Gewissen in der Schöpfung mitgegeben. Im Alten Testament kommt es kaum ausdrücklich vor (z.B. bei Hiob), öfters ist die Rede vom Gewissen als an innere Organe gebunden, an »Herz und Nieren«. Im Neuen Testament verweist nur Paulus auf das Gewissen, das Heiden und Christen haben. Thomas von Aquin spricht vom ­Urgewissen, das sich nicht irren könne. Martin Luther beruft sich auf sein Gewissen als höchste Instanz - gebunden an die Heilige Schrift. Er unterscheidet drei »Tiefen« des Gewissens: Äußere Werke und Zeremonien, tiefer dann die moralischen Gebote wie Demut und Treue (aus Furcht vor Schande, Strafe und Hölle); und das »Allerheiligste«: Die freiwillige Erfüllung der Gebote »durch göttliche Gnade und Christus«. Eine entscheidende Abkehr von den »Gewitterpredigten«, der Androhung des Zornes Gottes, bildet die Aufklärung. Immanuel Kant versteht das Gewissen dann als »Gerichtshof, in dem der Verstand der Gesetzgeber, die Urteilskraft der Ankläger und Sachwalter, die Vernunft aber der Richter ist.« Während das Gewissen als Thema heute in den Hintergrund gerückt scheint, wird es in der Werbung inflationär als Mittel der Manipulation eingesetzt: Das gute Gewissen durch den Kauf des richtigen Waschmittels; oder die versprochene gute Tat des Herstellers verkauft mit dem Produkt ein gutes Werk (Spenden) und gutes Gewissen.

Wochenendseminar 13. - 15. Juni 2014

Ich selbst versuchte mit drei Modellen und unterstreichenden Beispielen, die Entstehung des Gewissens zu erklären, und war mir dabei der Begrenztheit meines Versuchs bewusst. Mit Hilfe der Gestaltpsychologie wurde das Gefühl des »Schlechten Gewissens« dargestellt als Störung jeweils sozial vermittelter »guter Gestalt«. Wenn unsere sozial vermittelte »Sinnwelt« gestört wird, haben wir ein schlechtes Gewissen.

Die Tiefenpsychologie sieht im Gewissen die verinnerlichte Autorität, das »Über-Ich«. Die Entwicklung des Gewissens erfolgt psycho-ökonomisch: Zunächst ist die Mutter da; das Kind entwickelt Vertrauen. Das Kind will ihr, der Mächtigen (oder ihrem Ersatz) gefallen - aus Angst vor Liebesentzug, der physischen Lebensgrundlage, Angst vor dem Tod - der Ur-Strafe. Mit zunehmendem Alter nimmt Autorität einen immer wichtigeren Platz ein: Wir wollen dazugehören, der Ur-Strafe entgehen. Wir tun fast alles, der Autorität zu folgen, ihr zu gefallen, aus (Todes-)Angst, wir würden sonst ausgestoßen, allein sein. Die zunächst äußere Autorität ist für uns so überwältigend, dass sie zum Maßstab allen Denkens wird. Sie braucht uns bald nicht mehr zu strafen oder Strafe anzudrohen: ­

Es ist viel einfacher für uns (und für die Autorität!), wenn wir sie »verinnerlichen«. Dann ist sie immer da. Wir verankern die Autorität in uns selbst, dann nicht mehr als »Stimme« des Vaters, der Mutter, Gottes oder der Autorität, sondern wir nennen sie »eigenes Gewissen«. Und so ist das Gewissen weit mächtiger als alle äußere Autorität: Der ursprünglich gefürchtete Liebesentzug wird zum gefürchteten Selbstachtungsverlust.

In einem dritten Modell versuchte ich die ersten beiden zu integrieren in ein Entwicklungs­modell der Ich-Identität (Erikson). Unsere Identität entwickelt sich über tiefgreifende Krisen (grundgelegt von Urvertrauen gegen Urmisstrauen), balancierend zwischen Über-Anpassung und uns ausschließendem Widerstand, zu einem reifen Ich, das das Gewissen immer einschließt. Wer die Entwicklung des Gewissens erklären will, muss die Entwicklung des Selbst-Bewusstseins, der Ich-Identität beschreiben. Das Gewissen ist nicht eine besondere Instanz, sondern eingebettet in unsere sozial vermittelte Identität.

Die Teilnehmer schienen sich einig, dass der Inhalt des Gewissens sozial vermittelt wird und nicht die »Stimme Gottes« sei; die Suche nach dem »objektiv immer Guten« muss ohne Erfolg bleiben. Auf Gott verweise allerdings die Schöpfungstatsache, dass wir ein Gewissen haben.

Peter Lange forschte im Archiv nach Templer-Aussagen zum Gewissen und fand (»nur«) in Rohrers »Ist die Bibel die Quelle der Gotteserkenntnis?«, das Gewissen sei der Maßstab für die ewige Wahrheit, die er der Bibel entnehme, allerdings nicht der Autorität von Verfassern oder historischen Wahrheiten, sondern im Erkennen ihres tiefen Sinnes: Wahr sei, was den Menschen seiner Bestimmung näherbringe, der Mensch sei berufen zur Gottähnlichkeit. Diese Rückbindung des Gewissens an die Bibel, wie wir es schon bei Luther gehört hatten, erscheint uns heute nicht mehr eindeutig genug.

Während das Kind die Rückbindung des Gewissens an die Erwartungen seiner relevanten Anderen erlebt, wollen wir Erwachsene unser Gewissen rückgebunden sehen an die Vernunft und an ein mit anderen gemeinsames Wertkonzept (wie z.B. niedergelegt in der Charta der Menschenrechte).

Am Sonntagmorgen hielt Karin Klingbeil die Andacht (Jesus und die Ehebrecherin, Johannes 8, 1-11, s.o.). Das »...der werfe den ersten Stein« wurde zum geflügelten Wort und mahnt auch uns.

Brigitte Hoffmann versuchte anhand eines Beispiels aus der ZEIT die Gewissensfrage zu aktualisieren, was aber aufgrund des Umfangs des beschrieben »Falles« nur stückweise gelang. Die individuelle Rückbindung eigener Gewissens-Erfahrungen an die vorgestellten Modelle hätte sich ein Teilnehmer noch mehr gewünscht und war damit sicher nicht allein. Diese wohlverstandene und gut gemeinte Kritik verstärkte das Gefühl eines offenen und lebendigen Austauschs ohne Beschränkungen. Dies Gefühl ist eine wichtige und unver­wechselbare Basis aller erlebten TGD-Gemeindeseminare - so auch dieses Mal wieder! Dank allen Teilnehmern! Bis zum nächsten Jahr!

Martin Schreiber

BILDERBOGEN

In Sarona ist was los!

Über die fortschreitenden Arbeiten beim Restaurierungs-Projekt »Historischer Park Sarona« haben wir in der »Warte« immer wieder berichtet. Im Bild dargestellt wurden bisher zumeist Änderungen an einzelnen Templer-Häusern. Der Bilderbogen in diesem Heft will zeigen, wie diese Verschönerungs-Aktionen von den Bewohnern Tel Avivs angenommen werden. Die Bilder in diesem Heft zeigen vor allem das »Drumherum« der Siedlerhäuser mit seinem Baum- und Pflanzenbewuchs und den zu einem Park gehörenden Elementen. Aus dem Bilderbogen geht deutlich hervor, wie die Sarona-Park-Zone den Eindruck einer Oase in einem Meer von Wolkenkratzertürmen macht und wie viel wertvolle Fläche die Großstadt für ihr Sarona-Park-Projekt zur Verfügung gestellt hat.

Christophstraße (Koloniestraße) nach Süden Haus Venus (rechts hinten)

Haus Karl Steller (links neben Hochhaus) Häuser Graze (Schmied) und Fröschle (Flachdach),
 links das verschobene alte Gemeindehaus (mit Treppe zum Haupteingang)

Die Restaurierungsarbeiten sind noch nicht an ihr Ende gekommen. Vor allem im Innen­bereich der Häuser sind noch zeitraubende Verbesserungen vorzunehmen. Trotzdem ist das Interesse der Bevölkerung an dem Projekt riesengroß, wie man an den Bildern unschwer erkennen kann. Ich bin sicher, dass wir auch weiterhin solche »Bilderbögen« von den Vorgängen in der ehemaligen Tempelkolonie veröffentlichen können, und hoffe von Seiten unserer Leser auf ein ähnliches Interesse.

Haus Günthner (Bäckerei,
 Konditorei) Limonadenfabrik Orth

Kegelbahn Christian Kübler (umgebaut zur Freiluft-Kegelbahn) Haus Wennagel (jetzt: Kosmetik-Laden)

Die Aufnahmen verdanken wir Helmut Glenk in Australien, der einen engen Kontakt mit den Denkmalschützern im Sarona-Park pflegt und sich selbst schon bei einem Besuch dort von den aufwändigen Maßnahmen überzeugen konnte.

Peter Lange, TGD-Archiv

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Uraufführung des Films "Ich tanze, aber mein Herz weint"
Templer-Lesestoff