Im PDF-Format (140 KB)
Theologie und Naturwissenschaft - Kurt Bangert
Die Jerusalemer - Peter Lange
Kommentar zu »Die Jerusalemer« aus heutiger Sicht - Brigitte Hoffmann
Das Kreuz Jesu - Karin Klingbeil
Viele Menschen der Antike hatten die Vorstellung einer flachen Erde, doch kluge Geister meinten schon vor der Zeitenwende, die Erde sei eine Kugel. Wirklich beweisen konnte das erst der Spanier Juan Sebastian Elcano, der zusammen mit Ferdinand Magellan 1719 von Spanien aus die erste Weltumsegelung begann. Als Magellan auf halber Strecke (nämlich auf den Philippinen) ums Leben kam, blieb Elcano 1722 mit wenigen Überlebenden auf Kurs und 81gelangte um das Kap der Guten Hoffnung herum wieder nach Spanien. Damit hatte er endgültig bewiesen, dass die Erde eine Kugel ist. 1
Kugelrund wie die Erde ist, galt sie Anfang der Neuzeit noch als der Mittelpunkt des Universums. Doch auch das sollte sich durch die bahnbrechenden Arbeiten von Kopernikus, Kepler und Galilei ändern. Galilei, dessen 450. Geburtstag wir am 15. Februar 2014 begingen, steht für all jene Forscher, die bereit waren, althergebrachte Theorien einer strengen empirischen Überprüfung zu unterwerfen. Ende des 17. Jahrhunderts war das heliozentrische Weltbild sicher etabliert und die Sonne ins Zentrum des Universums gerückt.
Wilhelm Herschel (1738-1822) stellte Ende des 18. Jahrhunderts als einer der ersten fest, dass die bandförmige Aufhellung am Nachthimmel, die wir »Milchstraße« nennen, aus lauter einzelnen Sternen besteht, aber erst der Amerikaner Harlow Shapley (1885-1972) kartographierte die Milchstraße so genau, dass er 1920 die Position unseres Sonnensystems innerhalb der Milchstraße genauer bestimmen konnte: Nicht nur war die Erde nicht im Mittelpunkt unseres Sonnensystems, auch die Sonne stand keineswegs im Zentrum der Milchstraße, sondern befand sich in einem ihrer äußeren Spiralarme. Der Mensch hatte einen weiteren Dämpfer erhalten. 2
Shapley war jedoch noch fest davon überzeugt, dass unsere Galaxie die einzige im Universum sei und dass die »Nebel«, die wir heute als Galaxien erkennen, sich innerhalb der Milchstraße befänden. Diese Vorstellung änderte sich aber bald darauf, als Astronomen des Mount Wilson Observatory in Kalifornien einzelne Sterne im »Andromedanebel« ausmachen konnten.
Edwin Hubble, dessen 125. Geburtstag wir dieses Jahr feiern können, berechnete 1923 die Entfernung des Andromedanebels auf kaum vorstellbare knapp eine Million Lichtjahre. 3 Damit war klar, dass sich dieser »Nebel« weit außerhalb unserer Milchstraße befand und selbst eine solche Milchstraße (= Galaxie) sein musste. Hubble entdeckte außerdem, dass auch viele andere »Nebel« in Wahrheit keine Nebel, sondern Galaxien sind, die meisten in weitaus größerer Entfernung als Andromeda.
Lange Zeit war nicht klar, wie groß dieses galaktische Universum überhaupt ist. Mit dem nach Hubble benannten Weltraumteleskop können wir heute immerhin rund 13 Milliarden Lichtjahre in den Weltraum hinein - und damit auch rund 13 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurückblicken. Das Universum hatte sich für unsere Vorstellung innerhalb weniger Jahrzehnte ins Unermessliche gedehnt.
Doch so groß das Universum auch sein mag, wir müssen uns heute auch noch mit der Möglichkeit vertraut machen, dass nach neuesten kosmologischen Theorien unser Kosmos nur eine einzige Blase (engl. bubble) in einem ungleich größeren Urschaum von Universen ist, die zusammen ein unvorstellbares und zugleich unzugängliches Multiversum ausmachen. Anzeichen dafür gibt es, sicher wissen können wir es derzeit noch nicht.
Wem verdanken wir diesen Kosmos, in dem wir beheimatet sind? Hat sich das Universum selbst erschaffen (etwa durch eine Quantenfluktuation im Vakuum)? Oder steht ein Schöpfergott dahinter? Und in welchem Verhältnis steht unser Glaube an einen biblischen Schöpfergott zu dem Bemühen moderner Forscher, das Weltall und seine Entstehung zu erklären? Was haben wir von den modernen Weltentstehungsmodellen zu halten?
Das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft zeichnet sich historisch durch sehr unterschiedliche Phasen aus. Angeregt durch die Theologen Helmut Fischer 4 und Markus Mühling 5 benenne ich folgende Phasen dieses Verhältnisses:
1. Ineinander: Rund zwei Jahrtausende hatten weder Theologen noch Naturforscher Gott als Schöpfer der physikalischen Welt in Frage gestellt. Selbst mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Denkens und dem Entstehen der naturwissenschaftlichen Methode (mit ihrem Wechselspiel von Theorie und Empirie) blieb Gott als Ursprung der Welt eine nicht in Zweifel zu ziehende Denkvoraussetzung. Für Newton, Kepler, Galilei und andere Wissenschaftler blieben Naturerkenntnis und Gotteserkenntnis eine Einheit.
2. Gegeneinander: Die Harmonie zwischen Glaube und Wissen geriet in Widerspruch zueinander, nachdem die Aufklärung sich der Vorherrschaft der Kirche entledigt hatte. Anfangs postulierte man noch einen deistischen Gott, der - wie ein Uhrmacher die Uhr - die Welt erschaffen, sie danach aber sich selbst überlassen habe. Doch spätestens ab dem 20. Jahrhundert gab es zahlreiche Forscher, die Naturwissenschaft mit Atheismus gleichsetzten und den wissenschaftlichen Ansatz für unvereinbar mit einem Gott hielten. Umgekehrt taten sich Kirchen und Theologen schwer, sich mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut zu machen und zu arrangieren. Man könnte diese Zeit des Gegeneinanders grob von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jahrhunderts datieren.
3. Nebeneinander: Während die Naturwissenschaften sich an neuen Weltbildern versuchten, hatten Theologen sich durch die moderne Bibelwissenschaft nicht nur von der Irrtumslosigkeit der Bibel verabschiedet, sondern auch von einem wortwörtlichen Verständnis der biblischen Schöpfungserzählungen. Die Theologie begann auch, sich mit einem neuen Weltverständnis vertraut zu machen, und erklärte das traditionelle Zwei-Welten-Modell (irdische Welt hier, himmlische Welt dort) für obsolet. Gott thronte nicht mehr in einer himmlischen Sphäre. Doch wenngleich die Weltbilder der naturwissenschaftlichen Forschung und die Gottesbilder der modernen Theologie durchaus kompatibel miteinander schienen, gingen Naturwissenschaftler und Theologen getrennte Wege, pfuschten sich nicht mehr ins Handwerk, ohne sich wirklich miteinander auseinanderzusetzen oder einander auch nur zu verstehen. Diese Epoche des Nebeneinanders, die man - grob gerechnet - bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts datieren könnte, war von Verstehensbarrieren und gegenseitiger Sprachlosigkeit geprägt.
4. Dialog: Die gegenseitige Sprachlosigkeit nahmen einige Grenzgänger (wie etwa der 2011 verstorbene Theologe und Biologe Günter Altner) zum Anlass, in einen neuen Dialog zwischen Theologie und den Naturwissenschaften zu treten, um den jeweils anderen Zugang zur Wirklichkeit nachzuvollziehen. Zu den Naturwissenschaftlern, die bereit waren, über naturwissenschaftliche Fragen hinaus an philosophische Grenzen zu gehen, gehörte John Archibald Wheeler, der neben der Theorie der Schwarzen Löcher auch nach der tieferen Bedeutung des Universums fragte. Dieser Dialog, der bis ins 21. Jahrhundert andauert, hat m.E. durchaus zu fruchtbaren Ergebnissen und zu einer Annäherung zwischen Theologen und Naturwissenschaftlern geführt, auch wenn das gemeinsame Gespräch zuweilen unter einer elitären Theologensprache leidet. Naturwissenschaftler scheinen eher in der Lage zu sein, sich Laien verständlich zu machen, als Theologen dies zuweilen vermögen.
5. Miteinander: In jüngster Zeit gibt es durchaus einige vielversprechende Ansätze für eine über den bloßen Dialog hinausgehende Verständigung zwischen Theologie und Naturwissenschaft; eine Verständigung, die vielleicht sogar zu einem einheitlichen Welt- und Wirklichkeitsverständnis führen könnte. Mir scheint es wünschenswert, dieses fruchtbare Zwiegespräch fortzusetzen. Auch bleibt zu hoffen, dass diese Annäherung zwischen Theologie und Naturwissenschaft weder den Gläubigen (Theisten) noch den Ungläubigen (Atheisten) völlig entgeht.
Welche Konsequenzen sind aus dem Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften zu ziehen? Ich will einige Erkenntnisse auflisten:
1. Die Naturwissenschaften haben die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, in erheblichem Maße verändert. Die alten Weltbilder mussten durch neue ersetzt werden. Dahinter können wir heute nicht mehr zurück.
2. Wir mussten uns verabschieden vom Zwei-Welten-Modell, also vom Dualismus einer irdisch-weltlichen Sphäre einerseits, die als räumlich und zeitlich begrenzt und unvollkommen galt, und einer himmlisch-göttlichen Sphäre andererseits, die als unendlich, ewig und vollkommen betrachtet wurde.
3. In naturwissenschaftlichen Fragen muss den Naturwissenschaftlern das Primat eingeräumt werden. Aber: Naturwissenschaftler bleiben der empirischen Forschung verpflichtet und werden zurückhaltend sein müssen mit Aussagen über die geistigen Dimensionen unserer Gesamtwirklichkeit.
4. Die Theologie ist angehalten, die uns von den Naturwissenschaften vermittelten neuen Weltbilder in eine geistig-theologische Deutung hinüberzuführen und damit dem Universum gleichsam seine Bedeutung zu geben. Vor allem bleibt es Aufgabe der Theologie, angesichts vermeintlicher Sinn- und Hoffnungslosigkeiten unserer Welt den Menschen Hoffnung zu geben, ihrem Leben Sinn zu verleihen und sie für die Ganzheitlichkeit der Wirklichkeit empfänglich zu machen.
5. Viele Naturwissenschaftler können ihren Glauben an eine letzte, aber empirisch unverfügbare Wirklichkeit mit ihren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus in Einklang bringen. Religion und Glaube behalten auch für den naturwissenschaftlich denkenden Menschen ihre Relevanz. Positionen wie Richard Dawkins »Gotteswahn« entlarven zwar einen naiv verstandenen Theismus und Kreationismus, aber auch einen naiv verstandenen Atheismus und Naturalismus, der die spirituelle Dimension unserer Wirklichkeit nicht ausreichend würdigt.
6. Gott als »Schöpfer« wird weniger im Sinne eines physikalischen Verursachers verstanden werden müssen, als vielmehr im Sinne einer den Menschen in seiner geschöpflichen Einmaligkeit und Individualität bestimmenden Wirklichkeit. Beim biblischen Schöpfungsgedanken, der im Wesentlichen metaphorisch zu begreifen ist, geht es nicht um Weltentstehung, sondern um das Verhältnis des sich seiner Individualität und Einzigartigkeit bewussten Menschen zum Ganzen der Wirklichkeit. Es geht auch um Schöpfungsverantwortung.
7. Gott ist kein Lückenbüßergott mehr, der überall dort, wo die Naturwissenschaften noch Erkenntnislücken haben, als letzter Beweger oder Verursacher und damit als »Lückenbüßer« herhalten müsste. Dies gilt m.E. auch für Anfang und Entstehung unseres Universums, denn auch dafür gibt es inzwischen plausible Erklärungsmodelle, die allerdings kaum nachprüfbar sind, weil wir empirisch nicht in die Zeit vor dem Urknall zurückgehen können. Gleichwohl gilt, dass der (Ur-)Grund unserer Welt heute weder naturwissenschaftlich noch philosophisch zufriedenstellend erklärt werden kann. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, bleibt eine offene Frage.
8. Über einen Gott außerhalb unseres Universums können wir ebenso wenig eine empirische Aussage machen wie über die Existenz multipler Universen. Alles, was wir empirisch nachvollziehen können, sind persönliche und geschichtliche Erfahrungen, die Menschen subjektiv als Gotteserfahrungen erlebt haben. Eine transzendente Jenseitigkeit Gottes entzieht sich gänzlich unserer Wahrnehmbarkeit. Daraus folgt, dass Gott heute nur verstanden werden kann im Sinne einer innerweltlich erfahrbaren geistigen Präsenz, deren Wirklichkeit wir nur mit unserem geistigen Auge - mit dem Herzen - wahrzunehmen in der Lage sind. Diese Wirklichkeit ist ebenso real, wie sie unsichtbar und unbeweisbar ist: Gott als Geist, als Liebe, als Gerechtigkeit, als Frieden und Freiheit, als Freund der Armen und Unterdrückten, als König eines ebenso geistigen wie realen Gottesreiches.
Kurt Bangert in: »Freies Christentum«, Nr. 1/2014, gekürzt
1 Allerdings fehlte Elcano am Ende seiner dreijährigen Reise ein ganzer Tag in seinem Logbuch; man erkannte die Notwendigkeit einer Datumsgrenze.
2 Heute wissen wir, dass sich im Zentrum unserer Milchstraße ein Schwarzes Loch befindet, das immer wieder Materie in seiner Nähe unerbittlich und unwiederbringlich in sich »hineinfrisst«.
3 Nach heutiger Berechnung beträgt die Entfernung zwischen unserer Milchstraße und der Andromeda-Galaxie allerdings 2,5 Millionen Lichtjahre.
4 Helmut Fischer: Schöpfung und Urknall. Klärendes für das Gespräch zwischen Glaube und Naturwissenschaft, Theologischer Verlag Zürich: Zürich 2009, S. 107ff.
5 Markus Mühling in einem Vortrag betitelt »Mehr Rückzug als Faszination? Wie die Theologie in den letzten beiden Jahrhunderten naturwissenschaftliche Erkenntnisse aufgenommen hat«, Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain »Gott im Werden der Welt«, 24.-26.9.2010.
Im Oktober-Heft der »Warte« berichtete ich über Matthias Koch (1860-1936) aus Tieringen am Heuberg und die lange Fußreise, die er zusammen mit seiner Mutter nach Undingen auf der Reutlinger Alb zurücklegte, wo sie einen Gottesdienst des Tempel-Ältesten Friedrich Bulach miterleben wollten. Die Kochs waren von den Ideen der Jerusalemsfreunde angesteckt worden und gehörten somit zu denjenigen, die über diese religiöse Bewegung der Gründerzeit authentisch berichten können, obwohl sie selbst nicht zu Palästina-Auswanderern wurden. Zu unserer großen Freude hat uns die Enkelin von Matthias Koch, Frau Charlotte Liebelt, einen Auszug aus Kochs Lebenserinnerungen zugehen lassen, aus dem wir ein Bild von den Anhängern Hoffmanns auf der Schwäbischen Alb aus der Zeit vor 150 Jahren gewinnen können.
Peter Lange, TGD-Archiv
Diesmal ein Stück schwäbischer Dorf-Kirchengeschichte. Als ich jüngst das berühmte Buch »Jerusalem« von Selma Lagerlöf las, fielen mir meine lieben »Jerusalemer« oder Jerusalemsfreunde aus der Jugendzeit wieder ein. Eine ganze Welt religiöser Jugendeindrücke wurde in meiner Seele wach.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte sich an vielen Orten des Schwabenlandes eine neue Gemeinschaft frommer Leute gebildet, die aus »Babel«, der Kirche, ausgehen und im heiligen Land in der Stadt Jerusalem das »Volk Gottes« sammeln und den »geistlichen Tempel« oder das »Königreich Jesu« gründen wollten.
Stifter und Haupt dieser neuen »Sekte« war ein schwäbischer Theologe, Christoph Hoffmann, geboren 1815 zu Leonberg als der Sohn des in Württemberg weitbekannten Gründers der Gemeinden Korntal und Wilhelmsdorf. Das Kolonisieren lag also Vater und Sohn gleichsam im Blut. Die ganze Bewegung war aus dem Pietismus hervorgegangen. Das geistige Erbe stammte aber recht eigentlich von dem genialen Pfarrer und Mechaniker Philipp Matthäus Hahn (gest. 1790 in Echterdingen bei Stuttgart), welcher durch seine Predigten und Erbauungsbücher einen weitgehenden segensvollen Einfluß im Schwabenland ausgeübt hatte.
Christoph Hoffmann war ein hervorragend begabter, gründlich gebildeter und tief religiös veranlagter Mann. Er fühlte sich berufen, die Gedankenwelt Ph. M. Hahns auszubauen und ihr praktische Folgen zu geben. Wäre der Mann im württembergischen Kirchendienst geblieben, so wäre er wohl zu den höchsten Ämtern und Würden emporgestiegen, aber sein Streben galt einem anderen Ziel.
Zunächst gründete er eine religiöse und politische Wochenschrift, die »Süddeutsche Warte«, später »Warte des Tempel« genannt. Diese war der geistige Mittelpunkt der neuen Gemeinschaft. Artikel über »Babel und die Kirche«, die »soziale Frage« und die »orientalische Frage«, die »Weissagung« usw. sollten die Leser aufklären und fördern. Christoph Hoffmann war auch ein begabter Dichter. Seine »biblischen Poesien« enthalten manches prächtige Stück, so z.B. das schöne, tiefe und gehaltvolle Gedicht »Abrahams Auszug«.
In seinem Buch: »Mein Weg nach Jerusalem« hat Hoffmann die Geschichte seines Lebens und Strebens anschaulich erzählt. Er war ein durchaus lauterer Charakter und hochgesinnter Mann, wenn freilich auch mancher die Worte unseres schwäbischen Poeten Eduard Paulus auf ihn anwenden wird: Sein Kopf war etwas überquer, was öfter bei den Schwaben vorkommt.
Die »Weissagung« hatte es ihm eben angetan, wie allen echten schwäbischen »Stundenleuten«. Aber im Unterschied von diesen drang er auf »Schritte« und wurde nicht müde, vor den »schmeichelnden Gefühlen sanfter Andacht« zu warnen, was ihm bald sehr übel genommen wurde und zu einem Bruch mit dem Pietismus führte.
Von der Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem wollte Hoffmann unter keinen Umständen abstehen, und so zog er denn bald selbst, nachdem er einige Zeit auf dem Kirschenhardthof bei Winnenden gewohnt und gewirkt hatte, mit seiner Familie und den nächsten Freunden nach Palästina, wo, freilich unter großen Schwierigkeiten, im Laufe der Jahre blühende Kolonien zu Jaffa, Sarona, Haifa und Jerusalem entstanden, welche seinerzeit die rückhaltlose Anerkennung unseres Kaisers gefunden haben und vielleicht einer großen Zukunft entgegengehen.
Diese Jerusalemer oder Jerusalemsfreunde fanden also auch den Weg in mein Heimatdörflein auf dem Heuberg. Vielleicht war von Ph. M. Hahn, welcher etwa hundert Jahre vorher einige Zeit als Pfarrverweser droben gewirkt hatte, noch ein »Sämlein« übergeblieben oder sonst ein religiöser Sinn in der Gemeinde, kurz, es bildete sich bald eine kleine Gemeinschaft solcher dort, denen Jerusalem »ihre höchste Freude« war.
Freilich, als die Sache doch zu sehr ins Kraut zu schießen drohte, legte sich der Ortspfarrer an den Laden und schreckte manche durch Vorladung vor den Kirchenkonvent. Dieses Wort war zu meiner Jugendzeit ein sehr gefürchtetes bei Jungen und Alten im ganzen Dorf.
Der Keßler-Hansjörg, der ein feiner und tiefer Christ war, trennte sich bald von den Jerusalemsfreunden, weil ihm Hoffmann die »Versöhnung« nicht gründlich genug »trieb«. Auch der »Kasperle«, ein sehr begabter Mann, der den Kopf voll wunderlicher Spekulationen hatte und, wenn er zum Studieren gekommen wäre, sicherlich ein rechtes »Röhrle« abgegeben hätte, wich zurück.
So zog sich denn der Rest der Geretteten zu seinen kleinen Versammlungen in unser Hüttchen zurück, und ihre Herzen blieben jahrelang in treuer, lauterer Freundschaft miteinander verbunden. Ich sehe sie alle noch vor mir, die lieben Leutchen: den Scheerle-Bua, des Ehraten-Andres, die Veronika, des Sandherren-Kätherle und die Bier-Amei. Eng gedrängt saßen sie im kleinen Stübchen beieinander und hatten sich von Herzen lieb. Es war eine ganz eigenartige, geistige Atmosphäre, die ich da einsog. Jerusalem war »das Land, das sie alle mit der Seele suchten«. Ihre höchste Sehnsucht war, einmal dorthin zu kommen. Ein Mann, ich glaube, er hieß Martin Blaich, hatte ein Büchlein Gedichte über das heilige Land herausgegeben. Die lernte ich fast alle auswendig. Das Wasser läuft mir heute noch im Mund zusammen, wenn mir die saftigen Verse einfallen. Ich setze einige her, in denen die Früchte des Landes geschildert sind:
Frische Trauben gibt's am Hermon
prachtvoll fast das ganze Jahr,
blühn sie oben, unten gibt's schon;
auch Orangen sind nicht rar,
Granatäpfel saftig süße,
Feigen, Datteln und Maulbeer,
süße Mandeln und Walnüsse,
noch viel andre Früchte mehr.
Auch sieht man viel Honig fließen,
den die Kinder essen gern,
der kann manches Leid versüßen,
von den Kindern treiben fern usw.
Ich gäbe einen ganzen Kreuzer darum, wenn ich das Büchlein noch hätte, in dem so schöne Dinge standen. Mutterle lobte mich immer, wenn ich die Verse hersagte, lächelte aber nicht selten dabei und ermahnte mich, nicht immer nur an die süßen Früchte, sondern auch an den »geistlichen Tempel« zu denken. Das war freilich not. Denn so frische Trauben zu essen schien mir einleuchtender als das Haus, gebaut auf den Grund der Apostel und Propheten.
Die schöne Zeit dauerte nicht lange. Der Scheerle-Bua und des Ehraten-Andres wanderten als erste Pioniere bald aus in das Land unserer Sehnsucht. Wie beneidete ich sie! Meine Mutter mußte mir oft die Richtung über Berge und Wälder zeigen. »Sieh, dort hinter jenen Höhen;« sagte sie dann wohl zu mir, »weit, weit gegen Osten liegt das verheißene Land.« Dann ward mir so eigentümlich weh ums Herz. Ich mochte, als die beiden jungen Männer fortzogen, ein Knabe von etwa sieben bis acht Jahren sein.
Was für ein dummes Büblein aber war ich doch! Ich starb fast vor Heimweh nach dem gelobten Land und hatte die Freunde unter Tränen gebeten, mich mitzunehmen. Und wie elend ging's den beiden! Schon nach einem halben Jahr erlagen die Beneideten der Entbehrung und dem Klima.
Mutterle hat sich »der Richtung« nie ganz angeschlossen, sie stand gleichsam zwischen »der Türe und der Angel« und wog ab zwischen Kirche und »Tempel«. Aber die Predigten von Ph. M. Hahn wurden jeden Sonntag sehr andächtig gelesen. Da mußten wir Büblein alle um den Tisch herumsitzen, und wehe dem, der sich muckste. Da verstand Mutterle keinen Spaß. Doch die Predigten waren ja immer sehr kurz. So lange hielten wir's aus, und deshalb blieben wir auch immer gut Freund mit Ph. M. Hahn. Wer weiß, wie's gekommen wäre, wenn die Predigten sich einer so heilsamen Länge erfreut hätten wie etwa die von Hofacker und Brastberger!
Nach Jahren hatte ich dann Gelegenheit, Christoph Hoffmann samt seinem Mitarbeiter, Friedrich Bulach von Undingen, einem schlichten, aber feinen, gescheiten Bauersmann in dem benachbarten Städtchen Ebingen zu sehen und zu hören. Bei Seifensieder Johannes Krimmel war Hoffmann abgestiegen. Die Türe stand offen, und da konnte ich nun den seltsamen Mann heimlich beobachten. Eine rote Türkenmütze bedeckte sein graues Haupt. Die Augen sahen ganz erstorben aus wie bei einem Blinden, aber hinter der prachtvoll geformten Stirn schienen die Gedanken tüchtig bei der Arbeit zu sein. Tief sinnend ging der Mann langsam das Zimmer auf und ab, mich nicht beachtend.
Die Versammlung im Postsaal - »beim Luis« - war vom ganzen Heuberg stark besucht. Es war heiß Wetter. Bulach schien der Schlaf zu quälen. Als er aber dann »daran kam«, flossen die Worte so klar und lebendig von seinem Munde wie von den Lippen seines Vorredners. Was alles gesagt wurde, weiß ich nicht mehr. Es ging auch wohl über meinen Gesichtskreis.
Am Schluß der Vorträge wurde bekanntgemacht, daß sich nun jeder zum Wort melden dürfe. Aber niemand regte sich. Hoffmann war bekannt als einer, mit dem nicht gut Kirschen zu essen sei. Nach wiederholten Aufforderungen stand dann zuletzt ein Albbäuerlein auf und sagte mit einem dünnen, hohen Stimmlein:
»I gib dr Sach Beifall!« Man mußte ein wenig lächeln. Hoffmann aber meinte kampfesfreudig, es wäre ihm lieber, wenn sich auch Gegner zum Wort meldeten. Den Gefallen jedoch tat ihm keiner.
Der »Tempel« ging dann auf dem Heuberg mit den Jahren immer mehr zurück. Viele wanderten aus nach Palästina, und manche der Zurückgebliebenen schlossen sich wieder der »Stunde« oder der Kirche an.
Mit Seifensieder Johannes Krimmel, der bis zu seinem Tod ein »guter« Templer blieb, und mit seinen wackeren Söhnen verband mich später eine treue Freundschaft. Er muß das Vertrauen seiner Mitbürger in Ebingen in hohem Grade besessen haben, denn er war jahrzehntelang Stadtrat. Mit ihm verlor ich einen Freund, aufrichtig und wahr wie wenige, ein Herz, stark und fröhlich, auch in den Widerwärtigkeiten dieses Lebens, bis zum letzten Augenblick.
D Hölld molat dr Pfarr em Jörgle aus,
Dr leichtsennig Jörgle, dear konnt it draus;
Dr sait: Herr Pfarr, lau't des Schwätza gauh';
Ma wud übral Kamerada hau'!
Das sind Erinnerungen eines schon älteren Mannes an Ereignisse aus seiner Kindheit und Jugend. Sie spiegeln eine Frömmigkeit, die uns sehr fremd und fast ein bisschen peinlich ist. Wir bringen den Text gerade deshalb - es ist ein gewisses Korrektiv zu den uns besser bekannten Berichten von ausgewanderten Templern, die zwar viel Leid und Not schildern, aber immer getragen sind von einer unerschütterlichen Glaubenszuversicht. Die war echt - sonst wären sie nicht ausgewandert und hätten nicht durchgehalten; aber sie erhielt sich leichter in einer Notgemeinschaft von Gleichgesinnten, die ums Überleben kämpfte.
In Deutschland war das schwieriger. Und das spiegelt sich in Kochs Text. Zum besseren Verständnis ein kurzer Blick auf die äußeren Umstände. Die einzige konkrete Szene, die Koch schildert, ist der Besuch von Christoph Hoffmann und Friedrich Bulach auf dem Heuberg. Das muss 1875/76 gewesen sein - da war Hoffmann noch einmal für mehr als ein Jahr in Deutschland, wohl, um neue Mitglieder zu werben. Denn die Situation hatte sich 1868 grundsätzlich geändert. Damals meldeten sich so viele Auswanderungswillige, dass man Kontingente einrichten musste, um eine geordnete Ansiedlung zu ermöglichen. Jetzt, sieben Jahre später, kamen aus Deutschland nur noch wenige. Die Gründe werden nirgends genannt, waren wohl auch kaum zu ermitteln. Es kam wohl Mehreres zusammen:
a. Ein Teil derer, die man zunächst hatte zurückstellen müssen, wurde des Wartens überdrüssig und kehrte zur Kirche zurück.
b. Inzwischen - es gab keine Postverbindung - war wohl auch in den deutschen Tempelgemeinden bekannt geworden, wie schwierig die Situation der Siedler in Palästina war: die vielen Todesfälle, die prekäre Finanzlage.
c. Seit ca.1870 verbesserte sich die Wirtschaftslage in Württemberg spürbar.
Es kam wohl noch ein anderer Grund dazu, und der wird deutlich in Kochs Schilderung. Zu der Versammlung auf dem Heuberg waren sehr viele gekommen, ein Teil sicher aus treuer Anhänglichkeit, ein anderer aus Neugier. Hoffmann und Bulach hielten je eine Rede, von denen Koch sagt, sie hätten ihn sehr beeindruckt, aber vom Inhalt habe er nichts behalten, wohl das Meiste auch damals - er war 15 Jahre alt - nicht verstanden. Das galt wohl nicht nur für ihn. Als nach den Reden Hoffmann zur Diskussion aufforderte, kam nach langem Drängen als einzige Reaktion der Satz des alten Bauern »I gib der Sach Beifall.« Koch schreibt: »Man musste ein wenig lächeln.« Und genauso geht es mir (uns?) heute.
Die mangelhafte Reaktion lag sicher zu einem guten Teil an den Hemmungen der Bauern, sich öffentlich zu äußern. Aber sie zeigt noch etwas anderes, tiefer Liegendes: die Tempelbewegung lebte vom Charisma und dem Enthusiasmus einer kleinen geistigen Elite. Und diese Elite war inzwischen ausgewandert. Die Masse ihrer Anhänger in Deutschland waren bibelfromme Bauern und Handwerker, denen nun die geistige Führung fehlte.
Im gleichen Jahr 1875 erschien »Okzident und Orient« und zwei Jahre später die Sendschreiben, diejenigen Schriften, in denen Hoffmann seine Anschauungen rational begründete: die Ablehnung von Taufe und Abendmahl, von der Göttlichkeit Christi und Sühnetod usw. Es ist anzunehmen, dass er auf dem Heuberg darüber sprach. Und, ehrlich und verantwortungsbewusst, wie er war, wohl auch über die damaligen Probleme der Siedlungen in Palästina.
Und mit beidem konnten die Bauern nichts anfangen. Entweder sie verstanden es nicht oder sie lehnten es gefühlsmäßig ab. Es war ein Angriff auf alles, was sie ein Leben lang geglaubt hatten. In dem, was Koch über sich und seine Familie schreibt, wird deutlich, was sie begeistert hatte: eine tiefinnere Sehnsucht nach Palästina; nicht nach dem realen Land, das sie nicht kannten, sondern nach dem Heiligen Land, dem Land der anbrechenden Gottesherrschaft, einem irdischen Paradies. Rationale Begründungen und realistische Informationen störten da nur.
So wird es verständlich, dass die Gemeinden in Deutschland allmählich auseinanderfielen. Immerhin hielten sich einige kleinere noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dass die Tempelgesellschaft heute noch besteht, geht auf die Impulse zurück, die von den Ausgewanderten ausgingen. Und das, was die Bauern auf dem Heuberg wahrscheinlich erschreckte, ist zu unserem Markenzeichen geworden: das Hinterfragen religiöser Traditionen und die Bereitschaft, sich auf die Realität einzulassen.
Über ganze 25 Verse berichtet Lukas im 23. Kapitel von der Verurteilung Jesu. Pilatus, als die das Recht ausübende Instanz, übergibt schließlich - nachdem er dreimal erklärt hatte, er finde keine Schuld an Jesus - auf Druck des Hohen Rates Jesus einem Soldatentrupp, der für dessen Kreuzigung sorgen soll. Jesus hatte alles über sich ergehen lassen, ohne sich zur Wehr zu setzen, auch Spott und Hohn durch die Soldaten. Zwischen zwei Verbrechern am Kreuz hängend bittet Jesus noch für seine Peiniger: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Jesu Kreuz bildet das Zentrum zwischen den beiden anderen - dem einen, der, verhärtet, auch im Angesicht des Todes nur zu spotten weiß, und dem anderen, der, sich seiner Schuld bewusst - und ebenso der Unschuld Jesu -, Reue für sein Tun zeigt und von Jesus Trost und Vergebung zugesprochen bekommt: Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradies sein. So unterschiedlich die Evangelisten die letzten Lebensmomente Jesu beschreiben - bei allen erscheint uns Jesus im Angesicht seines Todes unvorstellbar ruhig - das ungebrochene Gottvertrauen, das er ausstrahlt, verleiht nicht nur ihm selbst Kraft zum Ertragen, sondern befähigt ihn auch noch, anderen Vergebung zuzusprechen. Selten wird dieses absolute Geborgensein Jesu in Gott so spürbar wie in den Berichten über seine Passion.
Sicher ist auch deshalb das Kreuz Jesu zu dem Symbol des Christentums geworden: zunächst einmal für das Unrecht und die Grausamkeit, die Menschen fähig sind, einander anzutun. Für das Leiden, das - mit, aber auch ohne menschliches Zutun - zum menschlichen Leben gehört mit seinen enttäuschten Hoffnungen, unerfüllt gebliebenen Wünschen und den Rückschlägen, zerbrochenen Beziehungen, verlorenen Freundschaften, Verlust von geliebten Menschen und Hilflosigkeit bei Alter und Krankheit.
Außerdem ist es Symbol für die Überzeugung, dass Liebe und Gewaltlosigkeit zusammengehören: aber wer sich so verhält, wird verletzlich und angreifbar.
Aber zugleich ist dieses Kreuz auch zum größten Hoffnungssymbol geworden, an dem Menschen sich zu orientieren und auszurichten vermögen. Wir können das Leid, das uns ganz persönlich trifft, gar nicht anders bestehen, als mit dem Vertrauen auf Gott, das Jesus am Kreuz vorlebte, und dem Beistand von Menschen mit ihrer Liebe. Und: das Kreuz, das Leid und besonders auch Tod symbolisiert, ist gleichermaßen das, über dem schon Ostern steht: denn dadurch glauben wir, dass selbst der Tod uns in die Liebe Gottes führt.
Der indische Reformer Gandhi hat einmal ein christliches Kloster besucht. Er ist lange vor dem Kreuz stehen geblieben und hat danach gesagt: »Wenn ihr wüsstet, welche Kraft von diesem Zeichen des Kreuzes ausgeht, würdet ihr anders leben.«