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Gedanken zur Adventszeit - Brigitte Hoffmann
Keine »stroherne Epistel« - Peter Lange
Spiritualität - Was ist das? - Kurt Bangert
Der Erste Weltkrieg im Leben der Templer - Peter Lange
Die Adventszeit ist etwas Besonderes. Neben den beiden großen Festen Weihnachten und Ostern ist sie wohl das einzige christliche Brauchtum, das in unserer weitgehend säkularisierten Gesellschaft noch lebendig ist, auch für die vielen, die mit Religion eigentlich nichts im Sinn haben.
Ahlam Kabaha, eine Deutsch-Araberin, die vor einiger Zeit bei uns aus ihrer Autobiographie vorgelesen hat, ist in Deutschland aufgewachsen, lebt seit ihrer Heirat in der Westbank und kommt regelmäßig hierher. Sie sagt von sich: »Immer, wenn ich in Deutschland bin, habe ich Heimweh nach Palästina, und in Palästina habe ich Heimweh nach Deutschland. Und am meisten Heimweh habe ich nach Weihnachten.«
Dabei ist sie überzeugte Muslimin. Natürlich meint sie mit Weihnachten nicht die Geburt Christi. Sie meint die Weihnachtszeit, eben die Adventszeit. Die empfindet sie als eine Zeit der Freude: die Weihnachtsmärkte, den Lichterschmuck, die viele Musik, aber darüber hinaus auch als eine Zeit, in der die Menschen fröhlicher und freundlicher miteinander umgehen. Dass eine Muslimin das so empfinden kann, hat auch mich fröhlicher gemacht. Wir selbst sehen vielleicht oft zu sehr das Negative: zu viel Stress, zu viel Trubel, zu viel Kommerzialisierung. Vielleicht könnten auch wir mehr an die Freude denken - und dann vielleicht auch mehr davon wahrnehmen, bei uns und bei anderen. Adventszeit ist eigentlich eine Zeit der freudigen Erwartung.
Aber was erwarten wir - außer Geschenken und gutem Essen? Was feiern wir in dieser Zeit?
Advent heißt Ankunft. Und wenn man einen Durchschnittschristen fragt, was man im Advent feiere, wird er wahrscheinlich sagen: den Einzug Jesu in Jerusalem. Darüber wird in allen vier Evangelien berichtet. Allerdings ist dieser Einzug der Auftakt zu Passion und Auferstehung und gehört demnach zu Ostern und nicht zu Weihnachten. Und das erste gesicherte Zeugnis dafür, dass eine Adventszeit gefeiert wurde, stammt aus einer Zeit ca. 500 Jahre nach den Ereignissen, um die es geht.
Was hat sich in der langen Zwischenzeit verändert, und wodurch? Das Wichtigste will ich kurz skizzieren, weil sich daran erkennen lässt, wie beim Entstehen einer neuen Religion verschiedene Vorstellungen zusammenfließen, wie alte Bilder eine neue Bedeutung gewinnen, wie sie weiter wirken und manchmal einen Kern bewahren, der uns heute noch angeht.
Alle vier Evangelisten schildern den Einzug in Jerusalem, mit kleinen Abweichungen, gleich, am ausführlichsten Lukas (Kapitel 21, 1-10). Lukas war jedoch kein Augenzeuge und er wollte nicht objektiv berichten. Er wollte Zeugnis geben von seiner Wahrheit, indem er sie der jubelnden Menge in den Mund legt, die sicher nicht sehr groß war, nicht ein Großteil der Bevölkerung Jerusalems, sondern aus denjenigen bestand, die schon vorher Jesus-Anhänger geworden waren; und dazu vielleicht noch solche, die nur durch Zufall oder Neugier kamen und sich von der Begeisterung anstecken ließen.
Wichtiger sind die Akzente, die Lukas setzt. Da ist der Ruf »Hosiannah dem Sohn Davids!« Für die Jubler war Jesus noch der Prophet aus Nazareth. Nur wenig später, seit den Auferstehungsvisionen der Jünger, war er für sie und damit für alle frühen Christen, die sich ja nach wie vor als Juden sahen, der von den Propheten geweissagte Messias, der die Gottesherrschaft heraufführen würde - und damit fielen ihm sehr bald die Attribute zu, die bei einigen Propheten (Micha 9,9) zum Messias gehörten: die Geburt in Bethlehem, die Abstammung von David.
Darum war den Evangelisten diese Ankunftsszene so wichtig: sie war das Bild für eine viel größere Ankunft, die Wiederkehr Jesu, das Kommen des Gottesreichs. Sie war das Bild der freudigen Erwartung.
Dann ist da noch die wenig wahrscheinliche Episode von der Eselin und ihrem Fohlen, die zwei Drittel des lukanischen Texts ausmacht. Aber diese beiden Esel sind legitimiert durch den Propheten Sacharja, und diese Legitimation ist wichtig - für damalige Juden sowieso, aber auch für uns.
»Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einen Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein vom einen Meer zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.«
Das ist, in zwei Sätzen, die ganze jubelnde, siegesgewisse Erwartung: Jesus kommt, Christus wird kommen, er wird ein Friedensreich aufrichten bis zu den Enden der Welt. »Ich will die Rosse und Wagen wegtun aus Jerusalem« - gemeint sind die Kriegswagen -, das heißt: es soll keinen Krieg mehr geben, nicht in Jerusalem und nicht auf der ganzen Welt. Überdies sind Rosse und Wagen die Statussymbole der Mächtigen. Aber dieser König kommt, arm und demütig, auf einem Esel. Er ist ein Gerechter und ein Helfer, er wird soziale Gerechtigkeit bringen und sich den Armen und Schwachen zuwenden. Kein Wunder, dass die Menschen jubelten »Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!«
Aber diese jubelnde, siegesgewisse Erwartung haben wir nicht mehr. Sie hat sich in 2000 Jahren nicht erfüllt, obwohl sie immer wieder leidenschaftlich aufflammte. Wir glauben zu wissen, dass sie sich nicht erfüllen kann. Geht sie uns noch etwas an? Dieses Prophetenwort ist fast identisch mit einem unserer bekanntesten Weihnachtslieder »Tochter Zion, freue dich«. Und obwohl wir den Glauben des Propheten nicht teilen, singen wir das Lied mit Freude. Nur weil die Worte und die Musik so schön sind? Oder spüren wir etwas von der religiösen Intensität, die Prophet und Komponist in beides hineingelegt haben? Wie kam diese vorösterliche Erwartung in unsere Adventszeit? Zunächst war Ostern, das Fest der Auferstehung, das einzige große christliche Fest. Und seine Bedeutung wurde unterstrichen dadurch, dass sich allmählich der Brauch entwickelte, eine Vorbereitungszeit davorzuschalten: ein 40-tägiges Fasten, der Verzicht auf Fleisch und weltliche Vergnügungen, wie es die katholische Kirche bis heute kennt; gedacht als eine Zeit der inneren Einkehr, der Zurücksetzung des Weltlichen, der Buße. 40 Tage in der Erinnerung an Jesu 40 Tage in der Wüste, aber auch an Beispiele aus dem Alten Testament, - 40 war eine religiös aufgeladene Zahl.
Aber je mehr, schon seit Paulus, Jesus vom Beauftragten Gottes und Verkünder des Gottesreichs zu einer quasi göttlichen Gestalt wurde, zum eingeborenen Sohn Gottes, selbst ganz oder teilweise göttlich, zum ewigen Logos, zum Erlöser von Tod und Sünde, zum Garanten des Heils, desto mehr sollte es auch für diesen inzwischen wichtigsten Aspekt des Glaubens ein Fest geben, ein Fest für den Beginn dieses Heilsgeschehens: für die einen die Geburt Jesu, für die anderen die Menschwerdung Gottes, oder die Epiphanie: dass etwas bisher Verborgenes offenbar wird. Der Streit darum dauert bis heute, aber in der Volksfrömmigkeit setzte sich das Einfache, Konkrete durch: die Geburt Jesu.
Aber für ein Fest braucht man einen festen Termin. Ostern war durch die Anbindung an das jüdische Pessach kalendarisch eindeutig verankert. Aber für die Geburt Jesu wusste kein Mensch einen festen Tag - wahrscheinlich schon zu seinen Lebzeiten nicht. Dementsprechend gab es zunächst in verschiedenen Patriarchaten oder sogar Gemeinden verschiedene Termine. Schließlich wurde entschieden: im Osten (heute etwa das Gebiet der orthodoxen Kirchen) der 6. Januar, westlich davon der 25. Dezember. Der Grund war in beiden Fällen der gleiche: es war der Tag des in den jeweiligen Gebieten etablierten Sonnengott-Kults. Das war eine inzwischen gängige Praxis, in Bezug auf den Ort auch für Kirchenbauten an bisher heidnischen Kultstätten. Das dokumentierte den Sieg der neuen Religion, blockierte die Fortführung heidnischer Kulte und erleichterte den Gläubigen in spe den Übertritt, weil es an Gewohntes anknüpfte. Bei diesem Zeitplan ist es bis heute geblieben. In den orthodoxen Kirchen ist auch heute die Weihnachtsfeier am 6. Januar.
Um dem neuen Fest gebührendes Gewicht zu verschaffen, wurde auch dafür, wie für Ostern, ein vierzigtägiges Fasten als Vorbereitungszeit angeordnet. Auch das gilt in den Ostkirchen z.T. bis heute. Mit der Reformation wurden in den protestantischen Ländern die meisten kirchlichen Rituale, die nicht direkt der Verkündigung dienten, abgeschafft. Sie galten im besten Fall als irrelevant, im schlechten als schädlich, weil sie eine falsche Art von Religion beförderten. Das galt auch für die vorweihnachtliche Fastenzeit.
Aber das Gefühl blieb erhalten, dass diese Zeit etwas Besonderes sei, die Zeit einer freudigen Erwartung. Bei manchen ist es vielleicht nur die Freude auf das Fest selbst, auf das gute Essen, das fröhliche Beisammensein, die Geschenke. Auch das ist etwas Schönes.
Aber wenn das alles wäre, hätte sich diese Feierzeit der Vorfreude wohl nicht über fünf Jahrhunderte erhalten, wären ihr nicht neue Bräuche zugewachsen wie die vier nur sukzessive zu entzündenden Kerzen der Adventsgebinde, der Tannenreisschmuck u.a.
Ein Beispiel: »Macht hoch die Tür, ... es kommt der Herr der Herrlichkeit« - Gott tritt seine Herrschaft an; in der zweiten Strophe: »O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat«, und in der dritten »euer Herz zum Tempel macht bereit ... So kommt der König auch zu euch und Heil und Leben mit zugleich.«
Die Gottesherrschaft kommt im Hier und Jetzt, aber sie kommt dort, wo die Menschen, wir, bereit sind, uns darauf einzulassen - das zu tun, was »Jesus ergötzt«. Und dort wird sie »Heil und Leben« bringen. Die frühen Templer haben das sicher mit Begeisterung und siegesgewissem Glauben gesungen. Wir singen es auch, mit Freude, mit Vertrauen, dass es so geschehen kann, aber nicht mit der Siegesgewissheit, dass es immer so geschieht. Wir haben gelernt, dass wir Gottes Wirken nicht verstehen und nicht vorhersagen können.
Ein modernes Gedicht von Hildegard Wohlgemuth zu Advent oder Weihnachten, das in unserem Gesangbuch steht, ist näher bei unserem eigenen Empfinden:
Wer nach Bethlehem fliegen will
in den Stall
und wer meint
dort ist auf jeden Fall
der Frieden billig zu kriegen
der sollte woanders hinfliegen
Wer nach Bethlehem reisen will
zu dem Sohn
und wer glaubt
dort ist die Endstation
mit Vollpension für die Seelen
der sollte etwas anderes wählen
Wer nach Bethlehem gehen will
zu dem Kind
und wer weiß
dass dort der Weg beginnt
ein jedes Kind nur zu lieben
der könnte es heute schon üben
Wir spüren, dass das ein langer Weg ist, den wir immer wieder von neuem üben müssen. Immer wieder - natürlich nicht nur zur Adventszeit. Aber vielleicht, manchmal, gibt uns die Adventszeit ein bisschen mehr Mut und Vertrauen zum Üben.
Was dieses Üben konkret heißt, ist schwer zu sagen, weil es für jeden und in jeder Situation etwas anderes ist. Vielleicht jemanden besuchen oder anrufen, der einsam ist; vielleicht auf einen oder einige der Spendenaufrufe reagieren, die uns in dieser Zeit ins Haus flattern, und dankbar sein dafür, dass es so viele Gruppen und Organisationen gibt, die helfen, Not zu lindern; vielleicht ein paarmal Pause im Vorweihnachtsstress - und sich klar werden, dass wir uns den Stress ja machen, weil wir anderen Freude machen wollen, und dass das gut ist so. Und wenn dieses Freudemachen gelingt, können wir vielleicht, nicht immer, aber oft erfahren, dass das auch uns selbst fröhlich macht, dass es, in den Worten des Lieds, ein wenig »Heil und Leben« bringt.
Und vielleicht ist es das, was unterschwellig die Adventszeit zu etwas Besonderem macht, was Achlam Kabaha spürte, wenn sie sagte, dass sie Heimweh nach Weihnachten habe.
Brigitte Hoffmann, Saalansprache am 8.12.2013
Der Jakobus-Brief ist nur sehr weit hinten im Neuen Testament zu finden. Nach meinem Empfinden haben es die Sätze des Briefschreibers nicht verdient, so hintan gestellt zu werden, wie es Martin Luther mit seiner Charakterisierung als »stroherne Epistel« anordnete. Aus ihnen geht doch viel von dem hervor, wie ein Christenmensch sich nach der Lehre Jesu ethisch verhalten soll. Die Umsetzung dieser Lehre in die Praxis des Lebens dürfte besonders uns Templern ein Anliegen sein, die wir nicht nur »Hörer«, sondern auch »Täter des Wortes« werden wollen und ein »praktisches Christentum« anstreben.
Die Epistel des Jakobus kann an mehreren Stellen zu einer kritischen Hinterfragung unseres gegenwärtigen Lebens Anlass geben. So weist die von mir ausgesuchte Textstelle 4,13-17 ganz besonders kritisch auf menschliches Verhalten hin, wie es in unserer Zeit häufig geschieht, wenn es etwa heißt: »Heute oder morgen werden wir in die und die Stadt reisen. Dort werden wir ein Jahr lang Geschäfte machen und viel Geld verdienen.« Die Enthüllungen dieser Tage von finanziellen Tricks und Schleichwegen großer Konzerne zwecks Steuer-Umgehung und Profitmaximierung belegen beispielhaft eine solche Feststellung, auch wenn damals die Globalisierung unserer Tage noch nicht vorstellbar war. Unser Text warnt vor Stolz und Überheblichkeit, statt dass wir uns auf die Grundwahrheiten menschlichen Lebens konzentrieren.
Die Werke, auf die es Jakobus vor allem ankommt, sind die Werke von Liebe und Barmherzigkeit. Er ergreift engagiert Partei für die Armen und hält mit seiner Kritik an den Reichen nicht zurück: »Wer reich und mächtig ist, soll sich bewusst sein, dass er Gott damit keinen Eindruck machen kann; denn wie eine Blume auf der Wiese wird er vergehen. Wenn die Sonne mit ihren Strahlen emporsteigt, verdorren die Blätter, und die Blüte fällt ab; ihre ganze Schönheit ist dahin. Genauso werden die Reichen zugrunde gehen, und mit all ihren Unternehmungen hat es ein Ende (1,10-11).«
Am Ende unserer Textstelle steht ein Satz, der die Ratschläge des Briefverfassers in einzigartiger Dichte zusammenfasst: »Wer die Zeit und die Mittel hat, Gutes zu tun, und es nicht tut, macht sich schuldig (4,17).« Das ist eine harte Feststellung: Nicht nur wer Unrechtes tut, macht sich schuldig, sondern auch der, der Rechtes nicht tut. Da wird jeder sich ernsthaft fragen müssen, ob er sich in dieser Beziehung nicht immer wieder schuldig macht. Da hilft dann keine Entschuldigung, dass es nicht klar sei, was unter diesem »Rechten« verstanden werde. Das herauszufinden und herauszuspüren in den verschiedenen Lebenssituationen, kann uns niemand abnehmen.
Ich finde, dass es im Brief des Jakobus viele Aussagen gibt, die auch für uns von Bedeutung sind. So erkennt er die Widersprüchlichkeit menschlichen Verhaltens. Deutlich wird das in seinen Worten über die »gefährliche Macht der Zunge« (Kap. 3), die jeder selbst in einer ruhigen Minute nachlesen sollte.
Spiritualität ist ein noch relativ junger und vergleichsweise undefinierter Begriff, dessen semantische und gesellschaftliche Bedeutung bis heute nur unzureichend erforscht ist. Spiritualität ist en vogue und erfreut sich - im Gegensatz zu dem eher angestaubten Begriff der »Religion« - einer positiven Konnotation. Die Popularität von Spiritualität wird auf eine Reihe von soziologischen Faktoren zurückgeführt, darunter eine Abkehr vom Religiösen und ein Prozess der Säkularisierung. Der Australier Robert Coles indes begründet das Bedürfnis nach Spiritualität weniger mit gesellschaftlichen Entwicklungen als vielmehr mit der elementaren Bedürfnislage des Menschen, wonach Spiritualität Ausdruck unserer menschlichen Entfremdung und Verlorenheit, unseres Gestrandetseins und unserer inhärenten Sehnsucht nach Sinn und Orientierung sei.
Dass der Spiritualität bisher zu wenig Bedeutung beigemessen wurde, ist u.a. der Tatsache geschuldet, dass es bisher keine einheitliche Definition von Spiritualität gab, die griffig genug gewesen wäre, um als ernstzunehmender Faktor (etwa für die Erziehung von Kindern) in Betracht zu kommen. Einerseits ist Spiritualität etwas, bei dem sich fast jeder als Experte sieht; andererseits weiß kaum jemand genau, was darunter zu verstehen ist. Selbst Experten taten sich bislang schwer mit dem Begriff, dem oft Uneindeutigkeit und Komplexität unterstellt wurde. Rebecca Nye glaubte, dass jeder Versuch, Spiritualität zu definieren, der Komplexität dieses Begriffes nicht gerecht werde.
In einem vom amerikanischen National Institute for Healthcare Research finanzierten Bericht wird Spiritualität kurz folgendermaßen definiert: Spiritualität sei die Suche nach dem Heiligen. Wichtig erscheint mir hier nicht nur der Begriff des Heiligen zu sein, sondern auch der des Suchens. Es geht weniger um spektakuläre Begegnungen mit dem Heiligen, dem Numinosen, dem Transzendenten, sondern um die Suche nach Verstehen, nach Verbindung, nach dem übergeordneten Ganzen. Nach Harold G. Koenig u.a. geht es bei der Spiritualität demnach um die letzten Sinnfragen und um die Begegnung mit dem Ganzen der Wirklichkeit.
Roehlkepartain u.a. bieten in ihrem Handbook of spiritua] development eine prägnante Definition von spiritueller Entwicklung an, die Beachtung verdient: »Spirituelle Entwicklung ist ein intrinsischer Befähigungsprozess in Richtung Selbstüberschreitung, wobei das Selbst eingebettet ist in ein größeres Etwas, mit dem auch das Heilige gemeint sein kann.«
Der entscheidende Begriff in dieser Definition ist die Selbsttranszendenz, also die Fähigkeit, über das eigene Selbst hinauszuwachsen und sich eingebettet zu wissen in ein Größeres. Mit diesem Größeren kann eine transzendente Wirklichkeit gemeint sein (Gott, das All, ein universales Bewusstsein, ein tragfähiger Urgrund etc.), aber auch etwas weniger Großes, etwa die empathische Verbindung zu Geschwistern, Freunden oder anderen Menschen eigenen Vertrauens. Denn der Mensch lebt von diesem Eingebettetsein und Aufgehobensein in einer ihm vertrauten menschlichen Gemeinschaft.
Obige Definition scheint mir eine nützliche und wegweisende Definition zu sein, die inzwischen auch von einer Reihe anderer Autoren positiv aufgegriffen wurde. Sie bezeichnet für mich den Kern von Spiritualität, auch wenn diese Definition nicht alle Facetten und Schattierungen benennt, die diesem komplexen Begriff sonst noch eigen sind.
Wenn Spiritualität also etwas mit Selbstüberschreitung und dem Eingebettetsein in etwas Größeres als das Selbst zu tun hat; und wenn wir dann noch die weiter oben von Coles beschriebene Situation des entfremdeten, gestrandeten, auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen hinzuziehen, so könnte man Spiritualität als eine Reise vom gestrandeten, isolierten, auf sich selbst gestellten Menschen hin zu dessen Einbettung in das größere Ganze begreifen; zu einer Einbettung, die es uns erlaubt, uns wieder neu zu definieren und neu zu uns selbst zu kommen; zu einem Selbst, das nicht mehr verloren, gestrandet, isoliert, sondern eben eingebettet ist. Das Selbst würde sich aufgehoben wissen im großen Ganzen, aufgehoben im Sinne einer behüteten Geborgenheit, aber auch aufgehoben im Sinne einer Verschmelzung mit allem, mit dem Universum, mit einem tragfähigen Grund, mit dem Ganzen der Wirklichkeit (das wir »Gott« nennen können).
Wenn die Selbsttranszendenz und das Aufgehobensein in einem größeren Ganzen den Kern von Spiritualität ausmacht, was ist dann aber das Fruchtfleisch um diesen Kern herum? Spiritualität hat auch eine Multiplizität, Komplexität und Vielfältigkeit, die mit obiger Kurzdefinition nicht vollständig abgedeckt werden kann; Spiritualität ist nicht ein-, sondern mehrdimensional. Wir sollten also nicht nur nach dem Kern, sondern auch nach einer umfassenderen Definition von Spiritualität fragen. Damit verbunden ist die Frage: Wie kann Spiritualität so konkretisiert und ausgestaltet werden, dass wir von positiven Auswirkungen auf unser aller Wohlbefinden sprechen dürfen. Kann Spiritualität vielleicht auch einen Beitrag dazu leisten, unsere Kinder resilienter, widerstandsfähiger, wohlgedeihender im Sinn von umfassendem Wohlbefinden werden zu lassen?
Um zu einer umfassenderen und konkreteren Definition von Spiritualität zu kommen, habe ich aus der mir verfügbaren Literatur (eingegrenzt allerdings auf die Literatur der Kindheitsforschung) zahlreiche Begriffe und Konzepte niedergeschrieben, die als Aspekte oder Ingredienzien von Spiritualität erwähnt wurden, und diese dann unter sechs Grundgedanken subsumiert, die
ich als unverzichtbar für spirituelles Wohlbefinden (vor allem von Kindern, aber nicht nur bei diesen) betrachte:
1. Unsere Beziehungen zu anderen: Wir leben nicht für uns selbst, sondern brauchen den fruchtbaren Austausch mit anderen. Wohlergehen ist nicht möglich ohne den sozialen, gedanklichen und emotionalen Bezug zu uns nahestehenden Menschen.
2. Unsere Beziehung zu uns selbst: Wohlbefinden hat viel damit zu tun, wie wir uns zu uns selbst verhalten, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir unsere eigene Identität verstehen und welche Gestaltungsmöglichkeit wir für uns selbst sehen.
3. Unsere Beziehung zu einer umfassenderen (transzendenten) Wirklichkeit: Es gilt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen. Dieses größere Ganze kann eine Gemeinschaft, eine Kultur, eine Ethnie, eine Nation sein, kann aber auch die Welt, das Universum, Gott meinen. Spiritualität lässt uns unsere Identität und Individualität im Ganzen dieser Wirklichkeit aufgehoben wissen.
4. Unsere Überzeugungen und Werte: Überzeugungen haben damit zu tun, was wir zu wissen meinen und was wir glauben; sie beeinflussen unsere Haltung und unser Verhalten. Werte gehen noch tiefer, liegen unseren Überzeugungen zugrunde und haben mit den moralischen Entscheidungen, die wir treffen, zu tun. Werte und Überzeugungen sind die Leitpfosten des Lebens.
5. Unser Verantwortungssinn: Wir leben nicht nur für uns selbst, sondern sind mit verantwortlich für andere und fürs Gemeinwohl. Spiritualität ohne eine solche gemeinschaftsbezogene Verantwortung würde in esoterische und frömmelnde Nabelschau ausarten.
6. Unsere gemeinschaftlich-spirituelle Einbettung: Die Einbettung in eine Gemeinschaft, in der Suche nach Sinn und Spiritualität gepflegt wird, bietet ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Sozialisation, der Inkulturation, des Vertrauens und der gegenseitigen Fürsorge. Durch die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft kann der Sinn für das größere Ganze vermittelt werden.
Mit diesen sechs Aspekten habe ich, von einer Kerndefinition ausgehend, den Versuch unternommen, der Spiritualität »Fleisch« zu geben und den holistischen, mehrdimensionalen Charakter von Spiritualität aufzuzeigen. In diesem Sinne verstanden, dürfte Spiritualität zum Wohlergehen und Wohlbefinden beitragen. So verstanden, sollte Spiritualität gerade im Hinblick auf die Entwicklung und Erziehung von Kindern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Spirituelle Erziehung wäre dann zu verstehen als die Förderung eines Kindes, die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz in sich zu entdecken und zu entwickeln. Im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung, Entkirchlichung und Infragestellung religiöser Traditionen dürfte der Spiritualität immer größere Bedeutung zukommen, nicht nur als gesellschaftliches Phänomen und als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand, sondern auch als Beitrag zum Wohlergehen von Menschen im Allgemeinen und Kindern im Besonderen. Kinder haben eine natürliche Neigung (Prädisposition) zur Spiritualität, und dieses spirituelle Grundbedürfnis zu negieren, hieße einen wesentlichen Aspekt des Wohlbefindens auszuklammern.
Kurt Bangert, Auszug aus dem Beitrag »Spiritualität« in »Auf der Suche nach neuen Wegen«, Nr. 5/2014, S. 122-129
In der letzten Ausgabe der »Warte« im Gedenkjahr für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist es angebracht, auch über die Auswirkungen zu berichten, die dieser schreckliche Krieg vor hundert Jahren auf das Leben der Templer hatte.
Zwar liegen darüber in vielen Erinnerungsschriften persönlich gehaltene Berichte vor, doch kann das große Ausmaß der Erschütterungen auf die gesamte Tempelgesellschaft dadurch nicht hinreichend eingeschätzt werden.
Das äußere Zeichen für die zahlenmäßig großen Opfer, die der Erste Weltkrieg an Menschenleben von den Templern gefordert hatte, sind die Gedenksteine, die in der Nachkriegszeit auf den Friedhöfen von Sarona und Haifa errichtet wurden. Die darauf verzeichneten gefallenen Soldaten hatten sowohl an der Suez-Front wie auch an den Fronten in Europa ihren Kriegsdienst geleistet. Als treue Untertanen des Deutschen Kaisers hatten die »Dienstpflichtigen« nicht gezögert, dem Ruf zu den Fahnen zu folgen.Ihr Wunsch nach einem Sieg des Vaterlandes wurde in der »Warte« mit der Hoffnung verbunden, »das deutsche Volk möge aus dieser Heimsuchung diejenige wahre Gottesfurcht lernen, die es für den noch entscheidungsvolleren Kampf des Lichts mit der geistigen Finsternis tüchtig mache.« (!)
Der Blutzoll, den die einsatzbereiten jungen Männer aus Palästina zu zahlen hatten, war hoch. In unserer Friedhofs-Gedenkschrift von 1974 werden 47 Namen von Gefallenen dieses Krieges aufgeführt. Aus manchen Familien kehrten oft mehrere Angehörige aus dem Feld nicht mehr zurück (beim Ehepaar Georg und Wilhelmine Wagner waren es sogar drei ihrer Söhne). Die Tempelgemeinden in Palästina ehrten Einsatz und Wagemut ihrer Gefallenen durch Errichtung von Krieger-Denkmalen (so die Gemeinden Jaffa/ Sarona 1926, Wilhelma 1927, Haifa ebenfalls 1927; auf dem deutsch-englischen Zionsfriedhof Jerusalem wurde 1930 eine Gedenktafel für deutsche und österreichische Gefallene, darunter sieben Templer, eingeweiht).
Der Krieg hatte viele Familien auseinandergerissen. Die in der deutsch-türkischen Armee dienenden Familienväter konnten bei der Besetzung Palästinas durch britische Truppen nicht mehr zu ihren Angehörigen zurückkehren, sondern mussten den qualvollen Rückzug mitmachen, der sie in vielen Fällen gegen ihren Willen in die deutsche Heimat verschlug. Manchen von ihnen, wie z.B. dem Architekten, Landvermesser und Archäologen Gottlieb Schumacher, wurde viele Jahre lang danach die Rückkehr nach Palästina durch die neue Mandatsmacht Großbritannien verwehrt.
Im Sommer 1918 ordnete die Besatzungsmacht in Palästina die Deportation aller Frauen und Kinder und der noch in Freiheit befindlichen älteren Männer der Südkolonien Jaffa, Sarona, Wilhelma und Jerusalem nach Ägypten an. In der ehemaligen Lungenheilstätte »Al Hayet« in Helouan bei Kairo wurden sie bis 1920 interniert. Nur mit einem Handgepäck von 40 kg ausgestattet, wurden die Siedler bei sengender Hitze in die Nil-Metropole transportiert, wo sie ihr Dasein in ungewohnter Umgebung in unmittelbarer Nähe der Wüste fristen sollten. Haus und Hof, Bauernwirtschaft und Gewerbe-Werkstatt mussten einem unbekannten Schicksal überlassen werden. Die jüngeren Männer wurden in einem Kriegsgefangenenlager untergebracht. Die Mandatsbehörden begründeten die Verschleppung der Palästina-Deutschen mit deren Spionagetätigkeit für die deutsch-türkischen Streitkräfte.
Für die etwa 850 Internierten in Helouan brachte das Kriegende im November 1918 keine Erleichterung. Sie blieben hinter Stacheldraht. Auf alliierter Seite erwog man, die Palästinadeutschen nach Deutschland auszuweisen und ihr Vermögen für Reparationszwecke in Anspruch zu nehmen. Viele Monate lang hing dieses drohende Damoklesschwert nicht nur über den in Helouan Internierten, sondern auch über den in den Siedlungen Haifa, Betlehem und Waldheim Zurückgebliebenen.
Nach langwierigen Verhandlungen der leitenden Templer mit den britischen Behörden erklärte am 29. Juni 1920 Außenminister Lord Curzon vor dem britischen Oberhaus das grundsätzliche Einverständnis Großbritanniens mit der Rückkehr der internierten Deutschen nach Palästina, da es sich bei ihnen um »achtbare, ruhige und nützliche Leute« handele. Die Freude der Templer über diese positive Wende ihres Schicksals war groß.
Die in Ägypten befindlichen Palästinadeutschen reisten bereits im August in ihre zwei Jahre zuvor zwangsweise verlassenen Siedlungen Jaffa, Sarona, Wilhelma und Rephaim bei Jerusalem zurück. Sie fanden diese in einem sehr verwahrlosten Zustand vor. Das Mobiliar war vernichtet oder abhandengekommen, ebenso die landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte. Milchkühe und Zugtiere fehlten gänzlich. Die Warenlager der Kaufleute in den Städten waren schon während der Kriegsjahre aufgezehrt worden. Die Gewerbetreibenden und Handwerker mussten sich mit dem Verlust ihrer Betriebseinrichtungen, ihrer Arbeitsgeräte und Maschinen abfinden. Ein Teil der intakten Häuser war von britischen Militär- und Zivilbehörden beschlagnahmt und wurde erst nach und nach frei. Besonders schlimm sah es in Wilhelma aus, das bei den Kämpfen im November und Dezember 1917 teilweise zerstört worden war.
Ehe die endgültige Freilassung der in Helouan Internierten durch Verhandlungen mühsam erreicht werden konnte, hatten die Briten bereits im April 1920 mit der Repatriierung von 230 Personen nach Deutschland begonnen. Mit dem Schiff wurden sie von Alexandria nach Hamburg gebracht, von dort ging es nach Bad Mergentheim, wo die württembergische Regierung unter maßgeblicher Mitwirkung des Vereins der Palästinadeutschen für sie im ehemaligen Deutschordensschloss, das bis Kriegsende als Kaserne genutzt worden war, eine Sammelunterkunft vorbereitet hatte. Das Begrüßungsspruchband über dem Eingangstor zum inneren Schlosshof »Willkommen in der Heimat« betrachteten die Deportierten mit gemischten Gefühlen. Sie waren in Mergentheim eben nicht »nach Hause« gekommen, sondern litten mit den Landesbewohnern unter den Kriegsnachwirkungen, wie Lebensmittelknappheit und Arbeitslosigkeit. Zum Teil konnten sie Beschäftigung in der Landwirtschaft finden, hin und wieder auch in anderen Erwerbszweigen.
Es zeugt von dem unter den Templern vorhandenen Pioniergeist, dass sie nicht der von Großbritannien angestrebten Auflösung ihrer Kolonien folgten, sondern sich an eine Beseitigung der durch die Kämpfe verursachten Schäden machten. Besonders hart hatte der Krieg die Siedlung Wilhelma getroffen. »In Wilhelma war alles wüst und leer«, heißt es in der Schilderung eines Mitglieds der vorausgereisten Kommission nach ihrer Freilassung aus der Gefangenschaft, »Dornen und Disteln wucherten an Stelle der einstigen Gärten; an den teilweise zerschossenen Häusern trauerte das Heimweh. Wäre nicht das Bestreben vorhanden gewesen, die Schrecken der Vergangenheit zu vergessen, so würde die Schilderung wohl noch bedeutend schwärzer ausgefallen sein.«
»Soweit das in der Siedlung vorhandene Mobiliar nicht zerstört oder gestohlen war, hatten es die in Jaffa Zurückbleibenden in einem Haus zusammengetragen und dort bewacht. Während die Frauen und Kinder sich mit ihm in den Häusern wieder wohnlich einrichteten, gingen die Männer daran, mit einem auf Gemeinderechnung angeschafften Motorpflug gemeinsam die Felder für die Wintersaaten zu bestellen. Wertvolle Hilfe leisteten die Nordkolonien Haifa und Betlehem, die dazu Saatgetreide und Vieh stifteten. Ganz besonders muss aber noch die Unterstützung hervorgehoben werden, die die Mitglieder der TG in Amerika dem Wiederaufbauwerk in Palästina zukommen ließen. Durch sie erhielt die Zentralkasse das erste so dringend benötigte Bargeld.«
Dank der fremden Hilfe und energischer eigener Anstrengungen gelang es Wilhelma, sich mit der Zeit wieder einen größeren Viehbestand anzuschaffen und die Milchlieferungen nach Jaffa wieder aufzunehmen. Auch die Fruchtfelder waren bald in besserem Zustand, wenn sie auch noch nicht solch gute Erträge wie früher abwarfen. Schwerer hatten die anderen Kulturen gelitten. Ein Teil der Weinberge musste ausgerodet werden. Die Instandsetzung der Orangengärten legte den Besitzern eine große Schuldenlast auf. Dagegen wurden aus den Mandel- und Olivenanlagen schon wieder kleine Gewinne erzielt.
Peter Lange, TGD-Archiv