Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 170/11 - November 2014

 

 

Der Garten im Dschungel - Peter Lange

Novembergedanken - Karin Klingbeil

Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? - Der Erste Weltkrieg (Teil 3) - Brigitte Hoffmann

»Kirche der Stille« - Ein alternativer Weg der Landeskirchen? - Wolfgang Blaich

Selber denken - eine Illusion? - Jörg Klingbeil

Buch-Neuerscheinung »Feinste Jaffa-Orangen«

Der Garten im Dschungel

Von der Erfahrung des Göttlichen

Wo ich gehe, wohin ich sehe, bist du, mein Herr.

In jeder Pflanze leuchtendem Kranze, in Wind und Meer,

Wo in der Ferne das Licht der Sterne strahlend hin schweift,

Wo in der Nähe Berg, Tiefe und Höhe sich lächelnd begreift.

In allen Gebärden, im Streben und Werden ist dein Licht,

Und alles Sinnen, Begehren, Beginnen sucht dein Angesicht.

Wie könnt‘ ich vergehen in deinem Geschehen? Du trägst die Not.

Und wenn ich die Hände zu dir hinwende, du fühlst sie, mein Gott.

 

Aus diesem Gedicht des Schriftstellers und Dichters Helmut Paulus (1900-1975) spricht religiöse Erfahrung, Erfahrung des Göttlichen, des Schöpferischen, des all-umfassenden Geistes. Es sind Sternstunden in einem Leben, wenn jemand solches erfährt. Er muss für solche Erfahrung offen sein und empfangsbereit. Von Gott können wir im Grunde nichts wissen, Gott können wir nur erfahren.

Wenn uns das klar geworden ist, dann verstehen wir vielleicht, warum Gottlieb Wilhelm Hoffmann, der Gründer und erste Vorsteher der Brüdergemeinde Korntal, so sehr dagegen war, dass seine Söhne Theologen würden. Denn Theologie im engeren Sinn ist die Lehre von Gott, von den Glaubensinhalten, von den Erkenntnissen über Gott. In Korntal wurde jedoch keine Theologie betrieben, wurden keine Erkenntnisse gesucht, sondern Erfahrungen gemacht. Man hat Gott erfahren in seinem Handeln in der Bibel, erfahren in seiner Liebe zum Menschen, in seiner Kraft und seinem Geist in der Gemeinschaft. Gotteserfahrung stand ganz im Mittelpunkt des Gemeindelebens.

Im Thema unseres Wochenend-Seminars geht es auch um Theologie, um den Streit, was denn nun wahr sei und was nicht. Es ist gewissermaßen ein Streit darum, ob ein Geschehnis sich göttlichem Wirken verdankt oder nicht. Es werden Argumente für und wider ein göttliches Handeln gesucht. Bei einer solchen Diskussion fällt mir unwillkürlich die schöne Parabel ein, die vom Gärtner handelt, »den es gar nicht gibt«. Ich will sie kurz erzählen:

Es waren einmal zwei Forschungsreisende, die zu einer Lichtung im Urwald kamen. Dort blühten allerlei schöne Blumen und allerlei Unkraut. Der eine Forscher sagte: »Es muss hier einen Gärtner geben, der dieses Stück Land bearbeitet.« Der andere wollte ihm aber nicht zustimmen: »Nein, es gibt mit Sicherheit keinen Gärtner hier.« Sie bauten ihre Zelte auf und hielten Wache. Aber einen Gärtner bekamen sie nicht zu sehen. »Vielleicht ist der Gärtner unsichtbar«, warf der Erste ein. Sie errichteten einen Zaun aus Stacheldraht. Sie setzten ihn unter Strom. Sie patrouillierten mit Bluthunden. Aber kein Schrei wies sie darauf hin, dass ein Eindringling einen elektrischen Schlag bekommen hatte, keine Bewegung des Stacheldrahts verriet je einen unsichtbaren Kletterer. Nie schlugen die Bluthunde an.

Doch der Gläubige war noch nicht überzeugt. »Und doch gibt es einen Gärtner; er ist unempfindlich gegenüber elektrischen Schlägen, Hunde können ihn nicht riechen, und er macht keinen Lärm; aber im Verborgenen kommt er, den Garten zu versorgen, den er liebt.« Der Skeptiker verzweifelte: »Aber was bleibt denn dann noch übrig von dem, was du zuerst gesagt hast? Worin unterscheidet sich das, was du einen unsichtbaren, ungreifbaren und ewig entweichenden Gärtner nennst, von einem eingebildeten Gärtner oder sogar von einem Gärtner, den es gar nicht gibt?

Soweit die Parabel. Wir sehen: Skeptiker und Gläubiger sind beide unwiderlegbar. Weder kann der eine beweisen, dass es einen Gärtner gibt, noch kann der andere beweisen, dass es ihn nicht gibt. Sie befinden sich jedoch beide in einem Irrtum. Sie meinen, über eine religiöse Einstellung zur Wirklichkeit diskutieren zu können. Es geht ihnen darum, eine theologische Aussage zu bestätigen oder sie zu widerlegen. Dabei sind sie beide in gleicher Weise irreligiös. Sie stoßen mitten im Urwald auf eine überraschende und unwahrscheinliche Ordnung, auf einen gepflegten Garten im Dschungel. Aber das berührt sie offensichtlich wenig. Sie überhören den Appell, auf diese Ordnung mit ihrem Verhalten zu antworten. Der Garten ist für sie ein Diskussionsgegenstand ohne emotionale Bedeutung. Sie debattieren und experimentieren.

Was würde wohl ein religiöser Mensch tun? Vielleicht würde er freudig ausrufen: »Welch ein schöner Garten! Lass uns ein Fest feiern, dass wir ihn gefunden haben. Und wir wollen dieses Fest jedes Jahr wiederholen, um uns daran zu erinnern, dass wir den Garten gefunden haben!« Damit hätte er einen Kult gestiftet. Er könnte auch sagen: »Wir wollen uns bemühen, diesen Garten zu erhalten und zu pflegen, der Dschungel soll ihn nicht überwuchern!« Damit hätte er eine Ethik formuliert. In früheren Zeiten hätte er vielleicht noch eine Geschichte dazu erzählt: von einem Gärtner, der für die Ordnung im Garten verantwortlich sei, den man mit einem Fest verehre und dessen Geboten man gehorche. Und er hätte damit einen Mythos in Gang gesetzt, hätte damit eine sinnbildliche Darstellung des tiefen Sinnes gegeben, der dem Garten innewohnt.

Vielleicht ist aus der kleinen Geschichte deutlich geworden, welchen fraglichen Wert religiöse und theologische Auseinandersetzungen zwischen Menschen haben und dass es eigentlich darauf ankommt, ob wir das Göttliche an uns und an der Welt erfahren oder nicht. Ein Lehrmeister zu dieser Erfahrung kann uns Albert Schweitzer werden, der seine entschei­dende religiöse Erfahrung die »Ehrfurcht vor dem Leben« genannt hat. In einer Predigt hat er diese Erfahrung einmal mit folgenden Worten beschrieben:

Welches ist der Unterschied zwischen einem Gelehrten, der die kleinsten und ungeahntesten Lebenserscheinungen im Mikroskop beobachtet, und dem alten Landmann, der kaum lesen und schreiben kann, wenn er im Frühling sinnend in seinem Garten steht und die Blüte betrachtet, die am Zweige des Baumes aufbricht? Beide stehen vor dem Rätsel des Lebens, und einer kann es weitgehender beschreiben als der andere, aber für beide ist es gleich unergründlich. Alles Wissen ist zuletzt Wissen vom Leben und alles Erkennen Staunen über das Rätsel des Lebens - Ehrfurcht vor dem Leben in seinen unendlichen, immer neuen Gestaltungen. Was ist denn das, dass etwas entsteht, ist, vergeht, in anderen Existenzen sich erneut, wieder vergeht, wieder entsteht und so fort und fort, von Unendlichkeit zu Unendlichkeit? Wir können alles und wir können nichts, denn wir vermögen in aller unserer Weisheit nicht zu schaffen, was lebt. Was ist also das Erkennen, das gelehrteste wie das kindlichste? Es ist Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Unbegreiflichen, das uns im All entgegentritt, und das ist, wie wir selbst, verschieden in der äußeren Erscheinung und doch innerlich gleichen Wesens mit uns, uns ähnlich, uns verwandt. Das letzte Ergebnis des Erkennens ist also im Grunde dasselbe, was das Gebot der Liebe uns heißt. Herz und Vernunft stimmen zusammen, wenn wir wollen und wagen, Menschen zu sein, die die Tiefe der Dinge zu erfassen suchen.

Peter Lange, in einer Morgenandacht beim Wochenend-Seminar
der Tempelgemeinde Stuttgart im Schönblick 2006

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Novembergedanken

Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat. (Prediger 12, 7)

Nach der Erntefülle, die wir im Oktober mit dem Dankfest gefeiert haben, ist der November der Monat, in dem wir uns mit Tod und Vergehen befassen. In unseren Breiten weist auch die Natur darauf hin: die fallenden Temperaturen und das schwindende Licht lassen Pflanzen absterben, Laubbäume verlieren ihre herbstliche Farbenpracht und bleiben als Skelette zurück, viele Pflanzen und auch Tiere verschwinden zur Winterruhe, die Landschaft wird kahl und leer - und nur unsere Erfahrung sagt uns, dass dieser Prozess kein endgültiges Sterben ist. Aber es ist die Zeit, auch im Kirchenjahr, in der alle Totengedenktage liegen, die Menschen die Gräber ihrer Lieben schmücken und ihrer gedenken. Bei Menschen, die im vergangenen Jahr einen lieben Menschen verloren haben, flammt die Trauer wieder intensiver auf - und jeder Mensch sollte diese Trauer zulassen, denn sie ist ein sinnvoller Teil unseres Mensch­seins, sie ist gewissermaßen der Preis unserer Liebe. Auch wissen wir, dass unsere Erde ohne den Tod nicht existieren könnte. Nur er bietet wiederum Raum und die Möglichkeit für neues Leben - und damit vor allem auch für Veränderung, Entwicklung. Stellen wir uns nur vor, alle Lebe­wesen, die einmal die Erde bevölkert haben, würden noch leben…

Der Umgang mit dem Tod von anderen lässt uns auch unsere eigene Endlichkeit bedenken. Wir, die wir wissen, dass das einzig Sichere in unserem Leben der Tod ist, können aber doch nicht ergründen, was dann mit uns geschieht. Auch wenn all die Nahtoderlebnisse, von denen berichtet wird, uns zu belegen scheinen, dass die Seele in ein anderes Leben übergeht, ist dies kein Beweis - so dass (auch) diese Ungewissheit uns bleibt, bis wir selber diese letzte Erfahrung machen.

Aber wir können uns noch etwas anderes bewusst machen: auch in unserer Geburt liegt ein Geheimnis - wer weiß, woher wir kommen? So kommen wir aus einem Geheimnis in dieses Leben und sterben an seinem Ende auch wieder in dieses Geheimnis hinein. Unser Leben aber können wir mitgestalten, es so führen, dass wir nicht an seinem Ende feststellen müssen, dass wir die uns geschenkte Zeit vertan haben. Für Bonhoeffer bedeutet das: Jeden Tag zu nehmen, als wäre es der letzte, und doch in Glauben und Verantwortung zu leben, als gäbe es noch eine große Zukunft. Das ist ihm gelungen und kann auch uns gelingen, wenn wir das Vertrauen aufbringen können, das uns Jesus gelehrt hat. Dieses Vertrauen trägt uns dann im Leben und im Sterben und hilft uns, all unser Nicht-Erkennen-Können und Nicht-Verstehen-Können auszuhalten und uns getrost in Gottes Hand fallen zu lassen.

Karin Klingbeil

Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? - Der Erste Weltkrieg (Teil 3)

8. Lehren aus der Katastrophe

Wegen dieser Frage haben wir das politische Thema für die Warte aufgegriffen. Haben wir Lehren daraus gezogen, und wenn ja, welche? Sobald man näher über die Frage nachdenkt, merkt man, dass sie sich eigentlich nicht beantworten läßt. Denn Lehren sind immer Deutungen. Die Fakten stehen fest, aber wie man sie mit dem Vorher und Nachher verknüpft, welche Folgerungen man daraus zieht, bleibt Meinungssache, abhängig von eigenen Inter­essen, Vor-/Urteilen und vielen anderen. Das gilt natürlich auch für meine Ausführungen.

Der große Historiker Jakob Burkhardt hat gesagt: »Geschichte macht nicht klug für das nächste Mal, sondern weise für immer«.

»Weise für immer«: man lernt, Zusammenhänge besser zu verstehen und so frühere Fehler vielleicht zu vermeiden. Wenn unsere Politiker - oder einige von ihnen - mehr Geschichts­kenntnisse hätten, wären - vielleicht - manche Entscheidungen vernünftiger ausgefallen.

»Nicht klug für das nächste Mal«: dieses nächste Mal mag ähnlich sein, aber es ist immer mitbestimmt von anderen Faktoren, die andere Folgen bewirken können. Ich kann keinen Überblick über ein solch komplexes Geflecht geben, ich kann wieder nur versuchen, ein paar Streiflichter zu setzen.

 

a. Die bei weitem wichtigste Lehre, die, außer den Fanatikern, fast alle Politiker und Völker gezogen haben, lautet: Es darf nie wieder einen solchen Krieg geben!

Das war gewiss eine gute und bis heute wirksame Maxime. Aber die geschichtliche Tragik war, dass sie schon beim nächsten Mal kontraproduktiv wirkte. Als Hitler seine Stellung im Innern gesichert sah, machte er sich daran, die Versailler Bestimmungen Schritt für Schritt auszuhebeln: massive Wiederaufrüstung, Anschluss Österreichs, Erpressung der Tschecho­slowakei zur Abtretung des Sudetenlands und etliches mehr - alles Vertragsbrüche. Die Siegermächte nahmen es hin, teils weil sie inzwischen selbst manche der Bestimmungen für unhaltbar hielten, vor allem aber, weil sie das Kriegsrisiko scheuten. »Ich habe Europa den Frieden gerettet« rief Chamberlain, als er und Frankreich die Tschechoslowakei im Stich gelassen hatten, und die Engländer jubelten ihm zu. Hitler interpretierte das als Schwäche und plante die nächste Aggression: auf Polen. Die führte zum Zweiten Weltkrieg.

Heute stehen wir in der Ukraine vor einem in vielem erschreckend ähnlichen »nächsten Mal«. Wie viel Kriegsrisiko darf man, sollte man eingehen, um einen Aggressor zu stoppen, der sich an kein Völkerrecht und keine Versprechungen hält? Ich hoffe, dass alle Beteiligten etwas aus der Geschichte gelernt haben.

 

b. Etwas, was wir wenigstens ein bisschen gelernt haben, ist das Friedenschließen; zumindest in der theoretischen Erkenntnis: wenn ein Friede dauerhaft sein soll, muss er auch den Bedürfnissen der Unterlegenen Rechnung tragen, ihnen - je nach den Umständen - ein gewisses Maß an Selbstbestimmung, Würde und Hoffnung lassen. Das klassische praktische Beispiel ist die Politik der Sieger nach 1945 (einen offiziellen Friedensvertrag gab es erst nach der Wiedervereinigung, als er keine Rolle mehr spielte). Der Zweite Weltkrieg war eindeutig die Schuld Deutschlands, und Deutschland hatte in seinem Verlauf unvorstellbare Verbrechen begangen. Trotzdem handelten die westlichen Sieger (im russischen Einflussbereich war es anders) etwa ab 1947 nach den genannten Prinzipien: allmählicher Aufbau der Selbst­bestimmung, möglich rascher Wiederaufbau von Wirtschaft und Infrastruktur, und vor allem die USA leisteten dazu auch beträchtliche Finanzhilfe. Frieden heißt auch: Verzicht auf Vergeltung und z.T. auch auf Gerechtigkeit.

Weitere Beispiele gibt es kaum, einfach deshalb, weil es kaum noch offen erklärte Kriege zwischen Staaten gibt. Statt dessen gibt es Bürgerkriege, die meist von Fanatikern (oft auch mit Hilfe des Auslands) angeheizt werden. Und die sind an einem dauerhaften Frieden nicht interessiert und zu Kompromissen nicht bereit. Insofern scheint die »Lehre« vom Frieden­schließen derzeit ziemlich abstrakt. Aber vielleicht wirkt sie trotzdem weiter.

 

c. Das einzige von Wilsons Zielen, das deutlich sichtbar bis heute wirkt, ist der Völkerbund, der damals von fast allen Politikern als naive Utopie belächelt wurde. Aber er wurde gegründet mit Sitz in Genf und dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag. Er hat in der Zwischenkriegszeit durchaus positiv gewirkt, indem er dazu beitrug, Konflikte zwischen kleineren Staaten friedlich beizulegen. Aber wenn es um die Interessen der Großmächte ging, scheiterte er regelmäßig daran, dass er keine Mittel hatte, sie zu zwingen. Als sich dann fast die ganze Welt im Kriegszustand befand, ging er unter.

Aber die Idee hatte Wurzeln geschlagen. Schon 1945 wurde die Nachfolge-Organisation gegründet: die UN. Sie bekamen mehr Geld, Personal und Befugnisse als der Völkerbund und arbeiten über ihre zahlreichen Unterausschüsse an der Setzung von Regeln in fast allen Bereichen zwischenstaatlichen Handelns (nur einige Beispiele: Umwelt- und Klimaschutz, Flüchtlingshilfe u.s.w.). Aber sie leiden am gleichen Problem wie der Völkerbund, dass sie sich gegen die Großmächte nicht durchsetzen können; und weil nicht nur diese, sondern auch viele kleinere sich gegen eine Beschneidung ihrer Souveränitätsrechte wehren. Das bedeutet insgesamt, dass es zwar immer wieder kleine Fortschritte in der internationalen Zusammen­arbeit gegeben hat, aber dass eine funktionierende weltweite Friedensordnung noch in sehr weiter Ferne steht.

 

Ich hoffe, diese wenigen Beispiele haben ein bisschen verdeutlicht, wie komplex Geschichte ist. Fertig anwendbare »Lehren« gibt es nicht. Jede Krise, jede neue Situation ist wieder anders. Wir haben in dem Jahrhundert seit 1914 schon mehrere Entwicklungen erlebt, die wir nicht für möglich gehalten ­hätten - die Wiedervereinigung, den friedlichen Tod der Apartheid in Südafrika - und die Misswirtschaft nach Mandelas Tod, die arabischen Revolutionen - und ihr Umschlagen in Terror oder Diktatur, den Erfolg des IS u.a. Manches ist Zufall. Vieles hängt davon ab, ob im richtigen Moment die richtigen Personen am ­richtigen Platz stehen. Wir können nur versuchen, die Geschichte besser zu verstehen und hoffen, dass das den Handelnden - vielleicht - hilft, eine »weise« Entscheidung zu treffen.

Brigitte Hoffmann

»Kirche der Stille« - Ein alternativer Weg der Landeskirchen?

Die Kirchenlandschaft in Deutschland ist im Umbruch. Kirchenaustritte erreichen zur Zeit bisher nicht gekannte Zahlen. Kirchen und Gemeindehäuser stehen leer. Zwei Pfarrbezirke werden aus Kostengründen zu einer Pfarrstelle zusammengelegt.

Was soll mit den leeren Gebäuden geschehen? Wer will schon ein Kirchengebäude in einen Supermarkt, in ein Kino, in eine Diskothek verwandeln? Da tun sich große und verständliche Hemmungen auf, den sakralen Bau, das »Haus Gottes«, in ein weltliches Gebäude umzufunktionieren. Was aber tun mit den stillgelegten Gebäuden, die als solches der Kirche immer noch Kosten verursachen?

In Hamburg-Altona hat man einen anderen Weg beschritten, einen nach meiner Auffassung guten und beispielhaften Weg gefunden. Einen Weg, der das Gebäude seiner ursprünglichen Widmung erhält, aber durch die neue Verwendungsweise Türen öffnet für Menschen jeder konfessionellen Zugehörigkeit. Aus der kleinen Backsteinkirche hat man eine » Kirche der Stille« geschaffen und erreicht mit dieser Wandlung ein bemerkenswertes Umdenken von Menschen der näheren oder ferneren Umgebung. Menschen, die der traditionellen Gemeinde­arbeit kritisch gegenüber stehen, finden häufig den Weg in die offene und einladende »Kirche der Stille«.

Was ist diese » Kirche der Stille«? Von außen hat sich am Aussehen der Kirche nichts verändert, ein neugotischer Backsteinbau mit hohen schmalen Fenstern. Den Innenraum hat man jedoch ganz neu gestaltet - ein hoher, fast leerer Innenraum, der eine Atmosphäre von Ruhe und Klarheit ausstrahlt. Es gibt keinen Altar und keine Kirchenbänke. An einer Seite des Raumes befinden sich ein Kreuz aus Treibholz und ein Lesepult. Den Mittelpunkt des Raumes bildet ein auf den Boden aufgemaltes großes Achteck, welches von Sitzkissen umgeben ist. So ist der Raum nicht mehr auf Altar und Predigtkanzel ausgerichtet. Man hat bewusst einen Ort der Stille, der Weite und des Raumes gestaltet, einen Ort, geeignet zum Innehalten und zu sich selbst Finden. So ist diese Kirche ein offener Raum, mitten im Lärm und in der Hektik der Großstadt Hamburg. Hier können Menschen sich sammeln, um aus der Zeit und dem Alltag herauszutreten, um Anforderungen ruhen zu lassen und Stille zu finden. Eine Kirche für alle, die einfach da sein wollen, im Schweigen - die Kirche steht den ganzen Tag offen und bietet einen zweckfreien Raum, in dem keine Bedingungen gestellt werden. Jedoch gibt es für Interessierte Angebote, die Stille auf verschiedene Art und Weise wahrzunehmen - in der Vertiefung in eigene Gedanken, im Gebet, in der Meditation, und zu gegebenen Zeiten im Tanzen und Singen. Für viele Leute ist diese Kirche ein Ort, der ihrem Bedürfnis nach innerer Einkehr und Seelenruhe entspricht, ein Ort, an dem sie aufatmen können.

Das Angebot dieser Kirche wird erstaunlich rege angenommen. Eine Kirchenhüterin, die schon länger die Kirche betreut, sagt, es sei noch nie vorgekommen, dass in den zwei Stunden, in denen sie die Kirche beaufsichtigt, keiner gekommen sei; manche kämen regelmäßig, viele ließen sich für ein paar Minuten nieder, andere blieben eine ganze Stunde. Eine kürzlich durchgeführte Befragung hat ergeben, dass es überwiegend Menschen zwischen 19 und 64 Jahren sind, die die Kirche aufsuchen, zwischen der Arbeit kurz hereinschauen, in der Mittagspause länger verweilen. Viele von ihnen sind nicht in einer anderen Gemeinde beheimatet. Es scheint, diese Kirche ist ein Ort für Suchende.

Beschreibt das Zentrum der Stille auch einen Weg in die Zukunft der christlichen Kirche? Das kann bestimmt so nicht beantwortet werden. Es gibt jedoch inzwischen Bewegung einzelner Kirchenbezirke, die sich von diesem Modell haben anregen lassen, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland. Für mich bedeutet das, dass das Bedürfnis der Menschen nach anderen Zugangswegen zu einem religiösen Leben wahrge­nommen wird, dass der traditionelle Weg des Predigtgottesdienstes nicht jedem Hilfe zu einem inneren religiösen Leben bedeutet, dass religiöse Fragen andere Möglichkeiten einer Antwort suchen als das Wort von der Kanzel. Das muss keine absolute Kündigung des Weges der seitherigen Verkündigung sein, aber es zeigt deutlich den Hunger von suchenden Menschen nach einer Vielfalt derselben.

Mir ist bei der Beschäftigung mit dem Thema zum Wesen der »Kirche der Stille« der Jakobsweg in den Sinn gekommen. Warum hat dieser »mittelalterliche Pilgerweg« in den letzten zwanzig Jahren eine solche Renaissance erlebt? Was bringt Jahr für Jahr tausende Menschen auf die Idee, sich über Wochen mit einem Rucksack über Hunderte von Kilometern zu quälen? Wenn ich mal die kleine Zahl von Abenteuerlustigen abziehe, bleibt die Mehrheit derer, die auf dem Jakobsweg Schritt für Schritt den Weg zu sich selbst, zu ihrer Mitte suchen, die Antworten nach Fragen zum Sinn und Ziel ihres Lebens suchen, die in der Verbindung von religiösem Weg und Verbundenheit mit der Natur einen Zugang zum Schöpfer und seiner Schöpfung suchen. Das mag ein Weg außerhalb einer Konfession sein, aber gerade deswegen ein gangbarer Weg für suchende Menschen zu einem neuen Verständnis dessen, was Religion in tieferem inneren Sinne für eine Bedeutung haben kann für den eigenen Lebensweg und dessen Gestaltung. Eine »Kirche der Stille« ist für mich in diesem Sinne wie eine oder mehrere Etappen auf dem ­Jakobsweg.

Wolfgang Blaich

Selber denken - eine Illusion?

Liberale Christen wie die Templer legen großen Wert darauf, kein fertiges Glaubensgerüst nachzubeten, sondern sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Dies ganz in der Tradition der Aufklärung und von Immanuel Kant, der auf die Frage »Was ist Aufklärung?« im Jahr 1784 eine bis heute noch weithin als gültig angesehene Antwort gegeben hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstver­schuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« In dem folgenden Absatz ging Kant weiter auf die Ursachen der selbst gewählten Unmündigkeit ein: In erster Linie seien dies »Feigheit und Faulheit«, denn es sei bequem, unmündig zu sein; das »verdrießliche Geschäft« des eigen­ständigen Denkens könne leicht auf andere übertragen werden: Wer einen Arzt habe, brauche seine Diät nicht selbst beurteilen, anstatt sich selbst Wissen anzueignen, könne man sich auf die Bücher anderer verlassen und wer sich einen »Seelsorger« leisten könne, brauche auch nicht selbst ein Gewissen. So sei es für viele nicht nötig, selbst zu denken; das mache es wiederum anderen leicht, sich zu den »Vormündern« dieser Menschen aufzuschwingen.

Wie schwierig das autonome Denken bis heute ist, zeigen neuere Forschungserkenntnisse der Sozialpsychologie, über die vor einiger Zeit in der Zeitschrift Publik-Forum berichtet wurde. Danach kann etwa Gruppendruck einen erheblichen Einfluss auf das autonome Denken von Menschen haben. Berühmt wurde zum Beispiel das Experiment von Solomon Asch aus den 1950er Jahren, bei dem der Forscher herausbekommen wollte, wie schwer es den Menschen fällt, selber zu denken. Sieben Probanden sollten die Länge von drei verschieden langen Linien mit einer vorgegebenen anderen Linie vergleichen und die gleich lange Linie heraus­finden; die richtige Lösung war völlig offenkundig. In der ersten und zweiten Runde gaben alle sieben Versuchspersonen die richtige Lösung an. Bei dem Test gab es allerdings nur eine echte Versuchsperson, die anderen sechs waren Schauspieler, die ab der dritten Runde - einer nach dem anderen - anfingen, falsche Antworten zu geben. Alle sechs einigten sich auf eine Linie, deren Länge eindeutig nicht der vorgegebenen Linie entsprach. Der einzige ahnungslose Teilnehmer musste stets als Letzter oder Vorletzter seine Antwort geben. Wie würde er sich verhalten? Würde er bei seiner früheren - richtigen - Antwort bleiben oder auf den Kurs der anderen Teilnehmer einschwenken? Auf Fotos des Versuchs ist den echten Versuchspersonen der Gewissenskonflikt deutlich anzusehen; sie zögerten, schwitzten und litten offensichtlich - und sie gaben nach. Drei Viertel von ihnen stimmten mindestens einmal der offensichtlich falschen Mehrheitsmeinung zu. Solomon Asch meinte hierzu, dass es uns Sorgen machen sollte, wenn normale intelligente junge Menschen bereit seien, Weiß Schwarz zu nennen. Das berühmte Konformitätsexperiment von Asch ist inzwischen in unzähligen weiteren Untersuchungen bestätigt worden.

Woran liegt es aber, dass Menschen offenbar bei weitem nicht jene rationalen und mündigen Wesen sind, als die sie sich selbst allzu gern ansehen? Unstreitig waren die Versuchs­personen keinem besonderen Druck ausgesetzt, sie hatten weder Belohnung noch Strafe zu erwarten. Lediglich das Gefühl, vor anderen eine abweichende Meinung zu vertreten, ließ sie umschwenken. Dieser Impuls, einer Mehrheitsmeinung zu folgen, betrifft nach den Erkenntnissen der Forscher nicht nur das Verhalten, sondern auch das Denken: Wenn viele Menschen in unserer Umgebung eine bestimmte Meinung vertreten, dann werden wir diese mit großer Wahrscheinlichkeit übernehmen - ohne uns dessen bewusst zu sein. Viele glauben an Mythen, für die Beweise fehlen. Der Placebo-Effekt von eigentlich wirkungslosen Arznei­mitteln ist häufig nachgewiesen. Nicht wenige halten sich für intelligenter oder fleißiger als andere aus ihrem Bekanntenkreis, ohne dies auf mehr als ein unbestimmtes Gefühl stützen zu können.

Die unangenehme Wahrheit heißt: Es fällt uns allen offenkundig sehr schwer, analytisch zu denken, denn es geht bei Überzeugungen in der Regel nicht so sehr um Fakten, sondern um Emotionen. Wie die Probanden bei Solomon Asch meiden wir negative Gefühle, wie es die Konfrontation mit einer geschlossenen Gruppe bedeuten würde. Stattdessen weichen wir lieber auf eine Haltung aus, die das kleinere Übel darstellt und keinen Stress mit sich bringt. Und wir bevorzugen - wie Sozialpsychologen herausgefunden haben - Informationen, die sich gut anfühlen. So wurden Testpersonen beispielsweise völlig sinnlose Begriffe in einem längeren Text untergejubelt, die sie später bewerten sollten; dabei wurden Begriffe, die häufiger aufgetaucht waren, positiver bewertet als andere, die nur selten vorkamen. Solche unterschwellig positiven Gefühle missverstehen Menschen anscheinend als Signal, dass etwas der Wahrheit entspricht; Argumente, die der herrschenden Meinung widersprechen, lösen dagegen negative Gefühle aus - und verstärken den Eindruck, dass sie nicht stimmen. Können also Argumente überhaupt überzeugen? Sind wir wirklich in der Lage, autonom zu denken und zu entscheiden, oder sind wir nur ein Spielball unserer Emotionen und unbe­wussten Gefühle?

Immerhin kann es hilfreich sein, sich diese - in der Regel automatisch ablaufenden - Prozesse bewusst zu machen. Und vielleicht erwächst aus diesem Bewusstsein der Wille, sich etwas mehr beim Nachdenken anzustrengen, nicht die erstbeste Meinung für wahr zu halten und sich zu einer bestimmten Frage auch eine andere Position anzuhören. Neulich hatte ich in einer Gaststätte eine Rechnung zu bezahlen und der ­gestresste Kellner kam mit dem Taschenrechner nicht zurecht und in seiner Addition zu einem viel zu hohen Ergebnis. Er war allerdings auch nicht in der Lage, die Einzelbeträge im Kopf überschlägig zusammenzuzählen, um zu merken, wie sehr er danebenlag. Dies bestätigt die Erkenntnis der Psychologie, dass, je weniger geistige Anstrengung die Verarbeitung von Informationen erfordert, wir umso eher diesen glauben. »Wenn Sie sich in einem Zustand kognitiver Leichtigkeit befinden, sind sie vermutlich gut gelaunt, Sie mögen das, was Sie sehen, glauben das, was Sie hören, vertrauen Ihren Informationen und haben das Gefühl, dass Ihnen die gegenwärtige Situation in einer angenehmen Weise vertraut ist«, erklärt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahne­man dieses Phänomen. Skepsis und Zweifel seien dagegen die Domäne des analytischen Denkens - und das strenge an und koste Energie. Das bewusste Denken wird also geweckt, wenn unser Geist herausgefordert wird. Jeder von uns weiß, wie viel anstrengender es ist, einen Text in einer Fremdsprache zu lesen und zu verstehen - und doch haben Psychologen herausgefunden, dass der Inhalt solcher Texte kritischer als in der Muttersprache geprüft wird. Andere Tests ergaben, dass Aufgaben umso aufmerksamer, genauer und kritischer gelesen wurden, je schlechter das Schriftbild war. Anscheinend wollen Menschen zum Denken gezwungen werden. Andersherum funktioniert dies allerdings leider auch: Je deutlicher und kontrastreicher ein Text gedruckt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der darin enthaltenen Aussage Glauben geschenkt wird. So hielten Versuchspersonen ein und dieselbe Aussage für glaubwürdiger, wenn sie in dunkel- statt in hellblauer Schrift gezeigt wurde. Mit dem stärkeren Kontrast wuchs also der Anschein von Wahrheit. Der Kampf gegen die geistige Unmündigkeit weist offenbar zahlreiche Fallstricke auf.

Zu viel Anstrengung kann aber auch in die Irre führen. So sollten bei einem anderen Experiment Versuchspersonen unterschiedlich viele Situationen schildern, in denen sie sich gut gegen Widerstände durchgesetzt hatten. Merkwürdigerweise hielten sich die Probanden für wesentlich durchsetzungsfähiger, die nur drei Ereignisse angeben sollten, als die Vergleichsgruppe mit zwölf Situationen. Eigentlich hätte sich der, der sich an viele Situationen erinnert, in denen er sich durchgesetzt hat, auch eher für durchsetzungsfähig halten müssen, sollte man meinen. Dem stand jedoch entgegen, dass es die Probanden zunehmende Mühe kostete, auf zwölf Beispiele zu kommen, was Unbehagen und schließlich Zweifel in ihnen weckte. Keine Mühe bereitete es ihnen indessen, auf drei Beispiele zu kommen - und geistige Mühelosigkeit war für sie ein Indiz, dass die Aussage zutreffend war. Andere Studien haben dieses scheinbar verblüffende Ergebnis bestätigt: Viele Argumente für eine Sache strengen also an und je mehr Informationen jemand bedenken soll, desto mehr wächst der Zweifel.

Die Forschungsergebnisse der modernen Psychologie führen zu einem ­tendenziell depri­mierenden Befund: In einer Gruppe schalten wir das autonome Denken und die Selbstbe­hauptung ab, wenn andere offensichtlich Falsches behaupten. Und außerhalb des kollektiven Anpassungsdrucks glauben wir gerne das, was für unser Denken weniger anstrengend ist.

Immerhin kann es ein Nachweis für eigenständiges Denken sein, wenn wir diese Fehler verste­hen und ein Stück weit akzeptieren. Zum Glück haben die Psychologen auch Werkzeuge entdeckt, die bei der Selbsterkenntnis helfen können: So haben sie etwa herausgefunden, dass Menschen sich ihrer Selbstüberschätzung bewusst werden, sobald sie komplexe Vorgänge erläutern müssen. Hatten sie zuvor noch ein vernichtendes Urteil über bestimmte Themen wie z.B. Steuerrecht oder Gesundheitspolitik gefällt, so fiel das Verdikt deutlich zahmer aus, als ihnen aufgegeben wurde, die Materie im Detail zu erläutern. Die damit verbundene Anstrengung führte offenbar zu der richtigen - vermutlich uns allen nicht unbekannten - Einsicht, dass sie über das zuvor angegriffene Themenfeld eigentlich nicht besonders viel wussten.

In Anbetracht der aktuellen Informationsfülle ergibt sich daraus eine wichtige Erkenntnis: Stets und ausnahmslos selber und unabhängig zu denken, dürfte eine Illusion sein und zudem unseren Geist überfordern. Wahrheit wartet eher dort, wo es anstrengend wird und wir an die Grenzen des Denkens geraten. Mit den verbleibenden Zweifeln müssen wir ohnehin leben.

Jörg Klingbeil

BUCH-NEUERSCHEINUNG

Feinste Jaffa-Orangen

Das bekannte farbenfrohe Markenzeichen der Jaffa-Orangen prangt auf der Titelseite des 186 DIN A5-Seiten umfassenden Büchleins und reizt den Leser, mehr über die Herkunft der bekannten Südfrüchte zu erfahren. Der Untertitel zeigt auch sogleich an, was den Autor - Feinste Jaffa-Orangender bisher hauptsächlich durch plattdeutsche Publikationen bekannt geworden ist - zu dem auffälligen Aufhänger veranlasst hat: »Die Templer in Palästina und ihre Kolonien«.

Das Inhaltsverzeichnis gibt auch gleich Klarheit darüber, was den Leser erwartet: eine Sammlung kurzer, geschichtlich untermauerter Episoden aus dem früheren Leben der Templer in Palästina. Der Verfasser führt die bekannte Fachliteratur an, die er für das Thema verwendet hat, vermerkt aber, dass einiges in seinen »Geschichtchen« von ihm frei erfunden sei, die dargestellten Personen hätten aber alle tatsächlich gelebt. Er würdigt auch, was einzelne Persönlichkeiten - wie Hoffmann, Hardegg, Keller und Schumacher - zur Pionierarbeit der Templer beigetragen haben.

Auch wenn das Buch keinen Anspruch auf historisch-wissenschaftliche Genauigkeit und Vollständigkeit erhebt, ist es für Zeitgenossen, die sich ein ungefähres Bild der Tempel-Bewegung machen wollen, eine leicht zu verstehende und unterhaltsame Lektüre. Die Überschriften der ausgewählten Geschichten - und auch die verwendeten Foto-Illustrationen - reizen dazu an, immer weiter zu blättern: »Haus Jakob, geht, lasst uns aufbrechen«, »Münchhausen im Orient«, »Lehrer Lange und der Schulaufsatz«, »Jerusalemer Hackröllchen«, »Die Rettung aus dem Audsche«, »Die Füchse im Weinberg«, »Die Balfour-Deklaration«, »Orangen-Geschenkkisten nach Deutschland«.

Besonders gut hat sich der Autor in Haifa umgesehen. Im Anhang zeigt er mehrere Abbildungen der noch sichtbaren Haustür-Inschriften in der Deutschen Kolonie sowie zahlreiche Fotos von Grabsteinen auf unserem dort noch erhaltenen Friedhof. Man darf ihm bescheinigen, dass er sich weitgehend eigener Interpretationen der geschichtlichen Vorgänge in Palästina enthalten hat. Sein Ziel ist es, diese Vorgänge - natürlich auch im Lichte des heutigen modernen Staatswesens Israels - einem breiteren Publikum vor Augen zu führen.

Hans Hermann Cordes, »Feinste Jaffa-Orangen«, Engelsdorfer Verlag Leipzig 2012,
ISBN 978-3-86268-750-3

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