Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 168/7+8 - Juli/August 2012

 

 

Angst und Religion

Eine Andacht über das Thema des Templer-Seminars

Für den heutigen Vormittag - und damit für den Abschluss des Seminars, steht das Thema Angst und Religion auf dem Programm. Ich möchte es auch zum Thema dieser Andacht machen, und ich möchte dazu ausgehen von den zwei Bibelstellen, die Martin Schreiber ans Ende seiner Vortragsübersicht gestellt hat, weil sie zwei ganz verschiedene Sichtweisen auf das Verhältnis von Angst und Religion deutlich machen.

Die erste Bibelstelle steht im Johannes-Evangelium, Kap. 16, Vers 33, in der Abschiedsrede Jesu an seine Jünger, unmittelbar vor dem Beginn der Passion: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«

Das klingt wunderschön; aber was heißt es? »In der Welt habt ihr Angst« - das kann heißen: die Welt ist voller Gefahren, vor denen ihr euch fürchtet. Das wäre plausibel, denn die damalige Welt außerhalb der Städte war voller Gefahren: Mord, Raub, Plünderung, Entführung zwecks Lösegeld-Erpressung waren an der Tagesordnung; für die meisten Krankheiten gab es keine Heilung u.s.w. - es gab reichlich Grund für Angst. Aber der Kontext zeigt, dass hier etwas anderes, viel Weiterreichendes gemeint war.

Man muss deshalb den Kontext mitbetrachten, um diesen Satz zu verstehen. Unmittelbar anschließend folgt ein langes Gebet Jesu, sein Abschiedstrost an die Jünger. Ich lese einige wichtige Stellen daraus (Johannes 17, Verse 1-3, 6, 9, 14 und 20):

»So redete Jesus, und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche; denn du hast ihm Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.«

»Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt.«

»Ich bitte für sie und bitte nicht für die Welt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind dein.«

»Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst; denn sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.«

»Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden.«

Ich versuche das in banaleres Deutsch zu übersetzen. Das bedeutet natürlich eine Vergröberung - aber zumindest für mich ist der Satz anders nicht zu verstehen. Dann heißt es:

Ihr, die Jünger, seid eine Gruppe von Auserwählten, auserwählt von Gott: »sie waren dein (schon immer? von Geburt an?), und du hast sie mir gegeben.«

Gott hat Jesus die Macht gegeben, damit er ihnen das ewige Leben gebe.

Es heißt zwar an einer Stelle auch, Gott habe Jesus Macht über alle Menschen gegeben, aber diese alle, die anderen, die Welt, spielen keine Rolle. Jesus sagt ausdrücklich: »Ich bitte für sie und bitte nicht für die Welt.«

Die Welt ist böse und soll es offenbar bleiben. Von den Jüngern heißt es, sie seien nicht von der Welt. Aber Jesus schickt sie in die Welt, damit die, die dann durch ihre Predigt lernen, an ihn, Jesus, zu glauben, auch das ewige Leben haben werden (darauf berufen sich dann später Christenheit und Kirche).

»Seid getrost« heißt dann: auch ihr werdet das ewige Leben haben.

Es ist für mich unvorstellbar, dass Jesus das gesagt haben soll, der gleiche Jesus, für den die Gottesherrschaft ein Zustand auf Erden war, der uns gelehrt hat, dass Gott jeden annimmt, der guten Willens ist; der Gemeinschaft hielt mit den »Sündern«, den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Das ist das Jesusbild der Synoptiker - nicht immer ganz eindeutig, aber bei weitem glaubwürdiger als das des Johannes. Ich könnte viele Gründe dafür nennen, aber das gehört nicht hierher.

Trotzdem ist dieser Text (neben vielen ähnlichen Stellen bei Johannes) wichtig, denn diese Sicht ist es, die sich im Wesentlichen in der Kirche und damit für ca. eineinhalb Jahrtausende im Christentum durchgesetzt hat.

Und hier kommt unser Thema Angst ins Spiel. Seid getrost, denn ihr seid die Auserwählten, ihr werdet das ewige Leben haben - für die Jünger war das (falls es gesagt worden wäre) sicher ein wunderbarer Trost. Aber was ist mit all den anderen? Außer ihnen selbst und vielleicht noch ihren direkten Schülern konnte sich keiner dieses Auserwähltseins gewiss sein, denn das war ja von Gott vorherbestimmt.

Für die anderen, die Kinder der Welt, für uns blieb die Angst: vor dem ewigen Tod, der ewigen Verdammnis, bald konkretisiert zu den ewigen Qualen der Hölle, konkret vor Augen geführt in Tausenden von Reliefs, Fresken und Mosaiken in mittelalterlichen Kirchen.

Vielleicht war bei manchen der damaligen Prediger bewusste Manipulation im Spiel, um das Kirchenvolk gefügig und von den Gnadenmitteln der Kirche abhängig zu machen. Aber ich denke, die meisten predigten so in der ehrlichen Überzeugung, die Menschen dadurch von unrechtem Tun abhalten zu können und ihnen damit eine bessere Chance für ein ewiges Leben zu geben. So oder so, das Ergebnis war Angst. Aus der frohen Botschaft Jesu vom Vertrauen zu Gott war eine Drohbotschaft geworden.

Das ist heute nicht mehr so relevant wie früher, weil viele, wenn nicht die meisten, weder an ein ewiges Leben noch an eine Hölle glauben, die einen, weil ihnen Religion sowieso gleichgültig ist, die andern, weil für sie der Schwerpunkt ihrer Religiosität anderswo liegt.

Trotzdem bleibt das Faktum: Religion kann Angst machen. Und für manche führt das auch zur Angst vor der Religion, zur Ablehnung von Religion überhaupt.

Der zweite Bibeltext, auf den Martin anspielt, ist in Form und Inhalt das genaue Gegenteil: der 23. Psalm.

Das ist einer der bekanntesten und wohl auch allgemein beliebtesten Texte aus der ganzen Bibel. Woran liegt das?

Zunächst einmal: Er bietet ein lebendiges Bild: Gott als der gute Hirte. Und Bilder sprechen uns viel unmittelbarer an als abstrakte Aussagen. Aber das genügt nicht. Denn wenn wir versuchen, die Bilder in Sachaussagen zu übersetzen, meldet sich der Verstand und sagt: das stimmt doch gar nicht.

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.«

Wie vielen Menschen, auch den Frommen unter ihnen, mangelt es an fast allem: an ausreichendem Essen, sauberem Wasser, einem Dach über dem Kopf. Das gilt für uns zwar nicht, aber wie vielen von uns mangelt es an Anerkennung und menschlicher Nähe.

»Er weidet mich auf einer grünen Aue, er erquicket meine Seele.«

Manche werden ihren Arbeitsalltag eher als graue Öde erleben, und sicher haben manche von uns schon Momente erlebt, in denen sie Erquickung, Trost und Hilfe gebraucht hätten und sie nicht bekommen haben.

»Er führet mich auf rechter Straße«

Wenn wir beinahe verzweifeln, weil wir glauben, unseren vielfältigen Aufgaben nicht nachkommen zu können, sind wir dann auf rechter Straße? Wenn wir sehen, dass andere, die uns nahe stehen, sich in Ehrgeiz und Karrierestreben aufreiben, sind sie auf rechter Straße?

»Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.«

Wie kann sich der Psalmist dessen so gewiss sein? Können ihm nicht auch Böses und Ungerechtigkeit folgen? Geht das alles nicht völlig an unserer Realität vorbei?

Sabine Kügler, eine Missionarstochter, lebte mit ihren Eltern sieben Jahre lang im tiefsten Dschungel unter einem bis dahin unbekannten Stamm, fast ebenso primitiv wie die Eingeborenen, umgeben von sehr realen Gefahren, aber glücklich in einer für sie faszinierenden Welt. Und jeden Abend betete der Vater mit den Kindern den 23. Psalm.

Als sie mit 14 Jahren allein nach Europa zurückgeschickt wurde, um zur Schule zu gehen und Zivilisation zu lernen, fand sie sich in der Anonymität, Komplexität und Oberflächlichkeit dieser fremden Welt nicht zurecht. Im krampfhaften Bemühen um Anpassung sagte sie sich auch von aller Religion los, wurde depressiv, stand mehrmals unmittelbar vor dem Selbstmord. Sie berichtet, dass sie sich in diesen Momenten der Verzweiflung den 23. Psalm wieder vorsagte und darin Kraft zum Weiterleben fand. Das war z. T. sicher die Erinnerung an das Glück und die Geborgenheit der Kindheit. Aber das allein hätte sie ja auch in noch tiefere Verzweiflung über das verlorene Glück stürzen können. Was war das Mehr, das sie in diesem Psalm fand?

Vielleicht macht eine kurze Überlegung über die wahrscheinliche Entstehung des Psalms dieses Mehr verständlicher. Psalmen sind schwer zu datieren, sie können zwischen ca. 1000 und ca. 400 vor Christus entstanden sein. Aber die sehr persönliche Frömmigkeit dieses Psalms legt nahe, dass er in die Spätphase fällt, wahrscheinlich ins 6. Jahrhundert vor Christus, die Zeit des Exils und die frühe Nachexilszeit. Und das heißt: in eine Zeit der äußeren Not und der tiefsten Verzweiflung darüber, dass Gott sein Volk verstoßen habe, danach die tiefe Enttäuschung darüber, dass die Rückkehr nicht, wie von den Propheten verheißen, die Gottesherrschaft gebracht hatte, sondern neue Not.

Wenn man sich das vor Augen hält, liest man den Psalm anders. Dann heißt »mir wird nichts mangeln« nicht: ich werde alles haben, sondern: wenn Gott mein Hirte ist, dann wird er mir so viel Kraft geben, dass ich allen anderen Mangel leicht nehmen kann.

»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück« heißt dann nicht: mir kann kein Unglück geschehen, sondern: auch wenn ein Unglück kommt, wird es einen Weg geben, wie ich mit und nach dem Unglück weiterleben kann, wenn ich bereit bin, den Weg zu sehen und zu gehen.

»Er führet mich auf rechter Straße« heißt dann nicht: er wird vor Schuld und Unheil bewahren, sondern: jeder Weg, auch ein »falscher«, kann gut für mich sein. Aus Schuld und Versäumnissen lernen wir mehr über uns selbst als auf dem geraden Weg der Rechtschaffenheit. Sie wühlen uns auf und zeigen uns vielleicht, was falsch ist an diesem Weg, können uns helfen, einen besseren zu finden.

»Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang« heißt dann nicht: mir wird nichts anderes begegnen, sondern: auch wenn mich Böses und Ungerechtigkeit trifft, wird es immer auch Gutes und Barmherzigkeit geben, von Gott und meist auch von Menschen, wenn ich bereit bin, es wahrzunehmen. Und das ist kein Schönreden der Realität. Ich glaube - wissen kann man auch das nicht -, dass es nur sehr wenige - vielleicht keine - Menschenleben gibt, in denen nicht wenigstens manchmal auch Gutes und Barmherzigkeit vorkommen. Nicht immer und vor allem nicht immer bis zum Ende. Aber es gibt sie, und wenn wir sie sehen und dankbar sind dafür, dürfen wir oft mehr davon erfahren, als wir erwarten.

Natürlich meint der Psalmist die Güte und Barmherzigkeit Gottes. Und wir, die wir nicht glauben, dass Gott direkt in das irdische Geschehen eingreift, neigen dazu, eine solche göttliche Hilfe für Illusion zu halten. Ich selber glaube, dass Gott sehr wohl wirkt. Er kann Kraft geben und Mitgefühl wachsen lassen, bei uns und bei anderen. Und dann gilt das Versprechen oder die Hoffnung des Psalmisten auch für uns.

Der Psalm ist getragen von einem tiefen Gottvertrauen, und ich denke, das tut u.U. auch denen gut, die wie die junge Sabine Kügler an diesen Gott eigentlich nicht mehr glauben; oder uns, die wir nicht mehr den unerschütterlichen Glauben des Psalmisten haben.

Vielleicht lassen wir uns bestechen von der Schönheit der Bibel und der Worte - Schönheit hat für mich viel mit Religion zu tun. Aber ich denke, es ist mehr als das. Bilder sind offener als theologische Aussagen. Man muss sie interpretieren und man darf sie interpretieren. Vielleicht spiegeln diese Bilder tatsächlich ein Vertrauen des Psalmisten, dass Gott ihm immer beistehen werde. Das kann ich nicht teilen. Wir wissen manchmal vielleicht aus eigener Erfahrung, vielleicht aus der anderer, dass es viele Situationen gibt, in denen Gott nicht hilft, zumindest nicht unmittelbar und erkennbar.

Aber für mich spiegeln die gleichen Bilder ein zwar weniger konkretes, aber umfassenderes Vertrauen: das Angenommensein von Gott, auch dann, wenn ich mich selbst nicht annehmen kann. Das bedeutet, dass mein Leben einen Sinn hat, auch wenn ich ihn nicht erkennen kann; auch dann, wenn ich es als ein Scheitern empfinde. Und deshalb kann der Psalm durchaus eine Hilfe sein, auch gegen die Angst. Er kann Vertrauen wachsen lassen.

Man kann sich Vertrauen nicht machen. Aber man kann etwas, ein bisschen dafür tun. Aus eigener Erfahrung: wenn man sich in einem verzweifelten Moment diesen Psalm vorsagt, oder dasselbe in meinen eigenen Worten »Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin; er nimmt mich auch an, wie ich bin«, und das nicht nur einmal - dann wird hinter dem Sagen wieder etwas von dem umfassenden Vertrauen des Psalmisten spürbar, das mir den Mut geben kann zu einem nächsten Schritt: mit Vertrauen auf einen anderen Menschen zuzugehen. Ich meine nicht das Vertrauen, dass er mich nicht betrügt, sondern dass er mir zuhört, mit mir redet, vielleicht über etwas ganz anderes als meine Probleme, dass er mich als Mensch wahrnimmt und akzeptiert. Dann ist ein weiteres Stückchen von dem Vertrauen gewachsen, das uns trägt. Ich könnte auch sagen: dann hat Gott geholfen. Denn ob diese Hilfe von dem andern Menschen kommt oder durch ihn von Gott, das kann keiner wissen, und ich denke, das lässt sich auch gar nicht voneinander scheiden. Wichtig ist das Vertrauen: auch wenn es nur ein kleines, unsicheres Vertrauen ist - es lässt uns etwas spüren von der Gewissheit des Psalmisten »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang« und vielleicht - wie wir hoffen - auch über den Tod hinaus. Religion kann Hoffnung geben und Mut.

Brigitte Hoffmann

Wochenendseminar über das Thema »Angst«

Vom 1. bis 3. Juni trafen sich wieder wie jedes Jahr 25 Gemeindemitglieder und Freunde (es waren auch schon weniger und auch schon mehr) im Haus Schönblick in Schwäbisch Gmünd. Die gastliche Unterbringung bei schönem Wetter, die fröhliche und aufgeschlossene Stimmung der Teilnehmer und das spannende Thema trugen dazu bei, dass das Wochenendseminar ein wirklich großer Erfolg wurde. Ein ausgewogenes Verhältnis von individueller Aussprache zu vorbereiteten Rahmenbeiträgen trug wesentlich zum Erfolg bei. Die behutsam zurückhaltende Gesprächsführung von Brigitte Hoffmann schaffte einen sicheren Rahmen und ließ zugleich großzügigen Raum für jeden, sich persönlich einzubringen.

Wie schon bei den letzten vier Seminaren der vergangenen Jahre führte ich durch einen Vortrag mit Diskussion vor allem in psychologische Aspekte des Themas ein. Dabei konnte ich an Inhalte der Jahre zuvor anknüpfen und einen gerafften Überblick über verschiedene psychologische Betrachtungsweisen des Themas geben. Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich der tiefenpsychologischen Sichtweise der Entstehungsgeschichte der Angst, den Abwehrmechanismen und angst-neurotischen Störungen. Sie entstehen dann, wenn unsere Ablenkungs- und Abwehrmechanismen nicht mehr ausreichen, die uns bedrängenden »Triebe« (Es) und unser womöglich zu strenges Gewissen (Über-Ich) in Schach zu halten. Verschiedene Angstursachen werden von verschiedenen psychologischen Richtungen in den Vordergrund gestellt. Ich vertrat die Überzeugung, dass neben den von Urzeiten geerbten (archetypischen) Ängsten vor allem die Angst vor dem Ausgeschlossen-Sein oder -Werden und gar dem Tod immer wieder neue Objekte der Furcht finden. Diese Furcht geht zurück auf die geburtsnahe beängstigende Trennungserfahrung, jene ursprünglichen Frustrationen und die daraus resultierenden aggressiven Antriebe und ihre konditionierten angstauslösenden Reize.

Ich berichtete von verschiedenen interessanten Forschungsergebnissen (auch der experimentellen Psychologie) und erzählte von eigenen Ängsten und Erfahrungen aus meiner psychotherapeutischen Praxis. Die Themen Angst vor dem Tod und Angst und Religion wurden angerissen und meine Hoffnung geäußert, wir würden als frei-christliche Gemeinde Gemeinsamkeiten finden, wie wir mit Angst umgehen können.

Zusammenfassend schlossen folgende 9 Punkte den Vortrag und die Suche nach den die Angst vermindernden Hilfen ab:

  1. Nicht verselbständigte Abwehrmechanismen und Ablenkungsmechanismen.

  2. Gesellschaft, Gemeinschaft, sicheres Eingebettetsein in soziale Bezüge.

  3. Zielorientiertheit, von einer Idee geleitet zu sein.

  4. Sinn, Erkennen von sinnvollen Zusammenhängen.

  5. Neugier.

  6. Hoffnung, Vertrauen.

  7. Das Bewusstsein, dass Angst zu uns gehört, weil wir denken können.

  8. Das Bewusstsein, dass nicht die Angst aus der Welt zu schaffen ist, sondern der bessere Umgang mit ihr gelernt werden kann.

  9. Und dass wir es lassen können zu fachsimpeln, ob es Furcht oder Angst heißt, aber wir können fragen, ab wann die Angst nicht mehr zumutbar ist, und was dann helfen kann.

Der ganze Vormittag verflog munter, fast ausgelassen und schaffte eine gute Basis für einen offenen Austausch von Erfahrungen, Erlebnissen und Berührungen mit der Angst. Ängste aus früher Kindheit und Jugend und vor dem Alter und der möglichen Belastung für andere wurden mehrfach deutlich. Mehrere Teilnehmer berichteten von ihrer anfänglichen Skepsis, ob das Thema sie wirklich betreffe, und ihrer Überraschung beim Bearbeiten des Themas, wie sehr es uns doch angeht. Die Offenheit der Aussprachen wirkte ansteckend und ermunternd - über den Augenblick hinaus.

Als weitere Höhepunkte erlebten wir den Ausflug in die Geschichte der Angst als Mittel der Politik von der Antike bis zur Gegenwart (Jörg Klingbeil) und Peter Langes Ausführungen über den Umgang der »frühen Templer« vor allem anhand von bewegenden Todesanzeigen in der Warte aus der Zeit der schweren Malaria in den Kolonien der ersten Templergenerationen in Palästina. Hertha Uhlherr nahm lebhaft teil, überbrachte die Grüße der TSA und nahm unsere guten Wünsche mit. (Auch das scheint gute Tradition zu werden, dass jemand von der TSA mit dabei ist.)

Der Sonntagmorgen war ganz der Frage gewidmet, was uns Templer bei diesem Thema verbinden kann. Ich empfand diesen Teil als besonders wichtig und knüpfte einige Erwartungen an diesen Punkt des Programms, die nicht enttäuscht wurden: Gemeinschaft ist der Schlüssel im Umgang mit Angst und eben diese Gemeinschaft finden wir auf dem Weg zum »Reich Gottes« hier und heute. Und so, wie wir das Reich Gottes hier in der Gemeinschaft suchen, so suchen wir Gott in der Gemeinschaft - in Abwandlung von 1. Petrus 5,7 möchte ich sagen: Alle eure Sorgen werfet auf die Gemeinschaft miteinander, denn sie sorgt für euch.

Der hohe Wert der Gemeinschaft wurde zum Schluss nochmal unterstrichen durch die Teilnehmer und fand konkreten Ausdruck von teilnehmenden Freunden, die ihre Absicht bekundeten, doch möglichst bald volle Mitglieder der TGD zu werden. Vom jüngsten (16) bis zum ältesten (86) wurde deutlich, dass es sich wieder einmal gelohnt hatte, der Einladung zu folgen, die der Ältestenkreis zu diesem Seminar so großzügig ausgesprochen hatte. Mit Erwartung sehe ich dem nächsten Seminar entgegen, zu dem ich wieder gerne beitragen möchte. Heute schon möchte ich ermuntern, dass noch ein paar mehr dieses großartige Erlebnis des gemeinsamen Suchens wahrnehmen.

Martin Schreiber

Wer schweigt, wird sich versündigen

Erläuterungen zu Kairos-Palästina aus der Sicht von Mitri Raheb

Der Bethlehemer Pfarrer Mitri Raheb hat an dem Kairos-Palästina-Dokument mitgeschrieben, das hierzulande für heftige Diskussionen sorgt. Ende vergangenen Jahres war Raheb deswegen auf Deutschlandtour und hat bei mehreren Veranstaltungen den Text erklärt. Wir bringen einen gekürzten Ausschnitt seines Vortrags, der besonders auf die drei Hauptteile des Dokuments - Glaube, Hoffnung und Liebe - eingeht.

In Kairos-Palästina schreiben wir, dass Religion im Nah-Ost-Konflikt nicht Teil der Lösung, sondern leider Teil des Problems ist. Natürlich denkt man gleich an islamische Fundamentalisten oder an jüdische Siedler und Extremisten. Was wir aber im Blick hatten, waren die christlichen Fundamentalisten. Die theologische Untermauerung weltweit ist sehr problematisch. Leute verbinden den heutigen Staat Israel mit dem biblischen Israel, als ob dazwischen keine 2.000 oder 3.000 Jahre Geschichte gewesen wären.

Wir sagen, dass man theologisch nochmal umdenken muss. Ich weiß, dass man sich gerade in dieser Gegend viel mit Substitutionstheologie (Israel wird durch die Kirche ersetzt) beschäftigt hat. Da hat man gesagt, dass das nicht sein darf. Das finde ich auch. Aber gleichzeitig haben gerade diese Theologen eine andere Substitutionstheologie betrieben. Sie haben nämlich uns Palästinenser durch die Israelis ersetzt. Wir kommen nicht vor, wenn über das Land geredet wird. Wir kommen nicht vor, wenn über die Verheißung geredet wird. Wir wurden ersetzt. In fast allen kirchlich theologischen Verlautbarungen werden folgende Begriffe durcheinander gebracht und fast als Synonym gebraucht: der Staat Israel, das biblische Israel, das Volk Gottes, jüdisches Volk, Judentum, Volk Israel. Da sagen wir: Halt, darüber muss man nachdenken! Wenn die erste Ersetzungstheologie schlimm ist, dann ist die zweite genauso schlimm. Wir müssen zu einer dritten Alternative finden.

Es gibt einen Satz, den wir aus Südafrika haben. Er lautet: Besatzung ist Sünde. Dazu stehen wir. Ich habe vielen Leuten, die ein Problem mit dem Dokument haben, gesagt, dass sie sich jetzt davor eventuell drücken könnten, aber nicht sehr lange. Ich gehe davon aus, dass die Lage in fünf Jahren so unerträglich sein wird, dass kein Mensch mehr dieses System verteidigen kann. Die West Bank wird dann komplett in einen Emmentaler Käse verwandelt sein, bei dem die Israelis den Käse bekommen und die Palästinenser ohne jegliche Rechte in die Löcher verdrängt werden. Wenn Sie jetzt nicht unterschreiben können, ist das ok, aber langfristig werden Sie der Frage nicht ausweichen können, weil wir mit voller Kraft auf eine Katastrophe zusteuern. Wer dann schweigt, der wird sich voll versündigen.

Hoffnung ist das, was wir tun

Die Frage, mit der wir hier ringen, lautet: Wie können wir hoffen, wenn alles so perspektivlos erscheint? Wie können wir hoffen, wenn wir wissen, worauf alles hinausläuft? Es sieht wirklich so aus, als ob das Schlimmste noch kommen wird. Wie können wir da an Hoffnung festhalten? Und an dieser Stelle machen wir etwas ganz Wichtiges: Wir unterscheiden zwischen Hoffnung und Optimismus. Wir sind nicht optimistisch, weil alles überhaupt nicht gut aussieht, aber wir sind sehr hoffnungsvoll, weil Hoffnung nicht das ist, was wir sehen, sondern das, was wir tun.

Es gibt viele Zeichen der Hoffnung. Das ist für unsere Leute wichtig. Es gab noch nie so viele kirchliche Projekte in Palästina wie in den letzten Jahren. Die Kirchen hatten noch nie so großen Zulauf wie in den letzten Jahren. Da bewegt sich etwas. 
Aber in diesem Text sagen wir auch etwas sehr Selbstkritisches. Das wurde von keinem Theologen bisher wahrgenommen. Wir sagen, dass unsere Hoffnung nicht in einem Staat liegen kann, obwohl wir natürlich gerne einen Staat hätten, aber die Hoffnung kann nur auf dem liegen, was die Bibel Königreich Gottes nennt. Das ist das, wofür wir stehen und worauf hin wir arbeiten, nicht für einen irdischen Staat, obwohl dieser notwendig ist. Wir können keinem Staat, auch nicht dem palästinensischen, eine theologische Bedeutung geben.

In dem Abschnitt, in dem es um die Liebe geht, ringen wir mit der Frage, wie Feindesliebe und Widerstand zueinander stehen. Wir sagen, dass wir als Christen die Feindesliebe nicht aufgeben können. Wir sehen darin sogar etwas spezifisch Christliches. Es geht darum, den Feind zu lieben und da dürfen wir auch nicht drum rum reden. Doch den Feind zu lieben, heißt auch, dem System des Unrechts zu widerstehen, aber gewaltlos.

Doch welche Formen des gewaltlosen Widerstands haben wir? Da rufen wir zum Boykott auf gegenüber allem, was die Besatzung oder die Siedlungen unterstützt. 
Nochmal: ich habe gesagt, dass dieses Papier vor allem an die Christen in Palästina, aber auch an die Palästinenser im Allgemeinen adressiert war. Palästina ist nach den USA das zweitgrößte Exportland für jüdisch-israelische Produkte. Wir sagen unseren Leuten, dass sie genau hingucken sollen, was sie eigentlich kaufen. Es gibt eine Liste von allen Siedlungsprodukten. Nach internationalem Recht - das ist jetzt nicht theologisch - sind die Siedlungen illegal und wer sie unterstützt, sündigt theologisch.

Wer gegen Boykott ist, möchte, dass wir weiterhin als Sklaven leben. Als ich in den 1980er Jahren in Deutschland studiert habe, habe ich gelernt, dass Deodorant mit FCKW-Gas umweltschädlich ist, und seitdem nie wieder so etwas gekauft. Das hat nichts mit Israel zu tun. Was schädlich ist, muss man nicht kaufen. Das gehört zu einem mündigen Bürger, dass er weiß, was er kauft und was er nicht kauft. Das hat nichts mit »Kauft nicht bei Juden« zu tun. Wir wussten ganz genau, dass diese Sätze für viel Wirbel sorgen würden, aber das ist ok. So entsteht manchmal auch Dialog. Viele Leute haben gesagt: ,,Ihr seid radikal. Wieso Boykott?« Hätten die Schwarzen in Amerika nicht boykottiert, wäre das Segregationssystem nicht beendet worden. Hätte man das Südafrikanische Apartheidsystem nicht boykottiert, gäbe es dort immer noch Apartheid.

Dr. Mitri Raheb

Aus:  »Schneller - Magazin über christliches Leben im Nahen Osten«, Nr. 1/2012, Seite 26 - 29

In voller Länger ist der Vortrag im Rundbrief 3/2011 des Forums Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden erschienen.

Ein mutiger und verändernder Schritt nach vorne

Eine jüdische Antwort auf das Kairos-Palästina-Dokument

»Wer eine Seite bedingungslos unterstützt, gefährdet alle Beteiligten«, sagt der israelische Rabbiner ]eremy Milgrom denjenigen, die sich einseitig für Israel einsetzen. Milgrom ist Mitglied bei der Friedensorganisation Rabbiner für Menschenrechte. Über das Schneller-Magazin hat er von der deutschen Auseinandersetzung um das Kairos-Palästina-Dokument erfahren.

»Gehörst du uns an oder unsern Feinden?« (losua S,13) wollen wir alle unbedingt wissen. Das Kairos-Palästina-Dokument antwortet wie der Gottesmann, der Josua begegnet: Wir müssen uns einer heiligen Wirklichkeit aussetzen. Kairos-Palästina ist eine Antwort auf die immer tiefer werdende Kluft zwischen uns, wobei mit »uns« die gesamte menschliche Familie gemeint ist. Wir können und müssen durch Glaube, Hoffnung und Liebe die Mauern überwinden, die religiöser Nationalismus aufgebaut hat.

Wie kann ein Rabbiner auf Kairos-Palästina antworten? Mit großer Bewunde- 
rung, ja sogar Neid. Dieser Text von palästinensischen Theologen und Laien stellt selbstverständlich eine palästinensische Perspektive dar. Er predigt aber Gewaltfreiheit, eine Lehre, nach welcher die Menschen in allen Religionen streben sollen. Gewaltfreiheit hat das Leben und Wohlergehen beider Seiten im Auge. Gibt es bekannte Rabbiner, die dies lehren? Wenn ich fordern würde, dass Kairos-Palästina von der jahrhundertelangen Sehnsucht der Juden nach einem eigenen Land sprechen soll und vom europäischen (= christlichen) Antisemitismus, der dazu beigetragen hat, dass der Zionismus entstanden ist, dann würde ich mich schuldig machen, die Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass die Besatzung schnellstens beendet werden muss. Sie zerstört Gottes Ebenbild in den Palästinensern und in den Israelis gleichermaßen.

Hoffnung und Solidarität

Es ist menschlich, sich inmitten von Leiden an Hoffnung zu klammern. Und es ist Aufgabe von Pastoren, unter allen Umständen die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Dabei reichen Worte allein nicht aus. Genauso wichtig sind menschliche Wärme und aktive Solidarität. Wenn wir hoffen, wandeln wir auf Gottes Weg. Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen (Psalm 91, 15).

Wenn es um den christlichen Glauben geht, muss ich mich zurückhalten und 
christliche Theologen entscheiden lassen. Wenn aber meine Meinung zu Kairos-Palästina gefragt ist, dann möchte ich festhalten: Auch wenn der Text für viele Juden eine theologische Herausforderung ist, so gibt es darin nicht den geringsten Hinweis auf irgendetwas, das uns theologisch beleidigen würde. Natürlich weicht Kairos-Palästina von der Bekräftigung des Zionismus ab, wie er typischerweise im jüdisch-christlichen Dialog betont wird. Indem aber die Zusage Gottes an sein Volk auf alle übertragen wird, ganz besonders auch auf die Palästinenser, wird sie den Juden doch nicht aberkannt!

Ich wäre sicherlich undankbar, wenn ich die christliche Sorge um die Sicherheit des jüdischen Volkes nicht anerkennen würde, wie sie von christlichen Zionisten immer wieder vorgebracht wird. Es widerspricht aber der klassischen jüdischen Theologie und meinem eigenen moralischen Verständnis, wenn ich von Christen höre, wir seien Gottes ewig auserwähltes Volk ohne moralische Verantwortung. Wer eine Seite bedingungslos unterstützt, gefährdet alle Beteiligten. Er befördert die Opposition (einschließlich die der gewalttätigen Art) und rückt uns weit ab von den Kompromissen, die für den Frieden notwendig wären. Ich kann nicht genug betonen, wie sehr ich mich mit dem alles einschließenden Universalismus identifiziere, der die Theologie von Kairos-Palästina durchflutet. Vor einigen Jahren hat mich jemand gelehrt, mich auf das Land der Verheißungen und nicht auf das Verheißene Land zu beziehen. Das Land der Verheißungen kann nur ein gerecht geteiltes sein.

Um auf das Thema Gewalt zu sprechen zu kommen, möchte ich mich am Schluss noch für den Widerstand stark machen. Ich kann nicht genug loben, dass Kairos-Palästina sich für gewaltfreien Widerstand einsetzt. Ich hoffe aber gleichzeitig, dass sich künftige Versionen von Kairos-Palästina noch stärker gegen die Anwendung von Gewalt aussprechen, insbesondere von Selbstmordattentaten. Es besteht für mich kein Zweifel, dass die Autorinnen und Autoren, von denen ich viele kenne, vollkommen und ganz gegen jede Form von Gewalt sind. Vermutlich haben sie sich aber aufgrund innergesellschaftlicher Solidarität nicht dazu durchgerungen, sich noch expliziter dagegen auszusprechen.

Ich glaube an die oberste Autonomie des Individuums und empfinde deswegen die Verpflichtung zum Widerstand als problematisch. Jeder sollte frei sein zu entscheiden, wo und wie er leben will. Offensichtlich hängen die Autorinnen und Autoren von Kairos-Palästina einer Auffassung von Kollektivismus an, die denjenigen Israelis bekannt ist, welche in der Kritik stehen, weil sie ihr Land für üppigere Weidegründe verlassen haben. Doch selbst aus dem Ausland können Emigranten noch viel für die Sache tun. Der Erhalt der palästinensischen Identität und Kultur kann eine Form der Solidarität, wenn nicht sogar des Widerstands sein. Das Iässt sich übrigens gut aus der zionistischen Erziehung in der Diaspora lernen!

Liebe, Liebe und nochmals Liebe! Es ist absolut erstaunlich, dass die Autoren von Kairos-Palästina nicht erstarrt sind angesichts der Widrigkeiten, der täglichen Demütigungen und der schrecklichen Verluste an Menschenleben, Freiheit und dem Streben nach Glück, welche das tägliche Leben unter Besatzung ausmachen. Sie sind nicht der zynischen Politik erlegen und streben weiterhin nach innerer Frömmigkeit. Sie haben die Messlatte so hoch wie möglich gelegt: Das Reich Gottes erscheint in der Verkündigung der allumfassenden Liebe, der Liebe zu sich selbst (zur eigenen Würde und zur Selbsterhaltung), der Liebe zur Gemeinschaft (Solidarität und Fürsorge) und der Feindesliebe. Es ist eine Form des Messianismus, die Juden und Christen nicht trennt, sondern uns vielmehr vereint. Natürlich gibt es Diskussionsbedarf. Viele Kränkungen müssen überwunden und geheilt, Angst und Misstrauen müssen gelöst werden. Kairos-Palästina ist ein mutiger und verändernder Schritt nach vorne, wenn wir offen sind, seine Wärme miteinander zu teilen und sein Licht zu streuen.

Rabbiner Jeremy Milgrom

Aus: »Schneller - Magazin über christliches Leben im Nahen Osten«, Nr. 1/2012, Seite 23 - 25

LESERMEINUNGEN

Positives Echo auf »Credo«

Von mehreren Seiten sind zustimmende Äußerungen zu Brigitte Hoffmanns Beitrag »Credo« im Juni-Heft der »Warte« erfolgt. Ergänzend zu den Ausführungen der Verfasserin, dass die Tempelgesellschaft bewusst auf ein verbindliches Glaubensbekenntnis verzichtet, möchte ich unsere Leser auf eine frühere Behandlung dieses Themas (in »Warte« 1967/Nr. 12) aufmerksam machen. Darin hatte der ehemalige Tempelvorsteher Nicolai Schmidt auf die Äußerungen Christoph Hoffmanns verwiesen, »dass sich die Christenheit seit den ersten Jahrhunderten wegen Bekenntnissen gestritten und zerfleischt habe und dass das immer so bleiben werde. Konfessionen sind Worte, und Worte haben und werden ewig Streit und zänkisches Gebaren zur Folge haben. Bestand doch in der ersten Zeit der christlichen Gemeindebildung ihr Glaubensbekenntnis nur aus einem Wort: "Jesus". Wir leben doch für einen Zweck, für ein Ziel. Wir haben doch ein unumstößliches Ziel oder einen "Glauben": Durch die Einpflanzung von Gewissen und Verstand ist uns die Fähigkeit gegeben, zur Vervollkommnung zu gelangen, die im Aufstieg das Reich der Gerechtigkeit (beileibe nicht des Rechts!), also das Gottesreich, bereitet.«

Der damalige Gebietsleiter und »Warte«-Schriftleiter Jon Hoffmann fügte dieser Stellungnahme noch hinzu, dass der Verzicht auf ein fixiertes, dogmatisch festgelegtes »Glaubensbekenntnis« und seine Ersetzung durch ein gemeinsam anerkanntes und erstrebtes Ziel eine der wesentlichen Besonderheiten der Tempelgesellschaft gegenüber anderen Organisationen sei. Bemühungen um mehr oder weniger treffende Formulierungen würden dadurch nicht ausgeschlossen, wir müssten uns aber der Zeitbedingtheit und Zweitrangigkeit solcher Formulierungen bewusst bleiben, damit darüber nicht vergessen werde: Eins ist not - trachtet zuerst nach dem Königreich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.

Peter Lange

Der Streit um den Hirntod - Versuch einer Antwort auf den Leserbrief von Lutz Krause, Konstanz, im Mai-Heft der »Warte«

Vorbemerkung: Der Leserbrief ist eine Reaktion auf meinen Artikel »Organverpflanzung Pro und Contra« in der Februar-»Warte« dieses Jahres, der auf einigen Artikeln und einer intensiven Diskussion im Fernsehen zwischen fünf Betroffenen und einem auf Transplantationen spezialisierten Neurologen basierte. Auf dessen Aussage beruhte das Wenige, was ich dort über den Hirntod gesagt habe. Ich bin kein Fachmann, mir ging es um die Frage, um die es auch in dem geplanten Gesetz geht: Wie kann man mehr Menschen dafür gewinnen, einer Organentnahme nach ihrem Tod zuzustimmen.

Zugegeben, damit bin ich in dem Hirntodstreit Partei, auch wenn mir damals dieses Problem ziemlich irrelevant erschien. Inzwischen ist in der Zeitschrift »Die Zeit« ein ausführlicher Artikel zu diesem Problem erschienen (»Wann ist ein Mensch tot? 4. April 2012, S. 4, von Christian Schüle), der vieles erklärt und sachlich Fakten, Meinungen, Argumente und Zitate pro und contra bringt. Ich versuche das Wichtigste wiederzugeben, zunächst an Hand der Fragen in Lutz‘ Text:

1. Wird die Bevölkerung ausreichend aufgeklärt über das genaue Verfahren einer Hirntod-Diagnose und den Ablauf einer Organentnahme? Heute wohl eher nicht. Gemäß der geplanten Neuregelung des entsprechenden Gesetzes soll jeder Erwachsene alle 2-3 Jahre gefragt werden, ob er gegebenenfalls einer Organentnahme zustimmen würde - sicher per Brief oder E-Mail, anders wäre der Aufwand wohl kaum zu bewältigen. Es bleibt nur zu hoffen, dass damit dann eine Aufklärung verbunden ist.

Auf den Ablauf der Organentnahme geht Herr Schüle nicht ein, aber ausführlich auf die Hirntod-Diagnose: Da Herz und Lunge nicht arbeiten, wird der Patient an die Herz-Lungen-Maschine (Respirator) angeschlossen. Alle 12 Hirnnerven werden einzeln getestet. Wenn keine Hirnströme registriert werden, folgt noch einmal ein Atem-Test: der Respirator wird abgeschaltet, um zu prüfen, ob Herzschlag und Atem selbsttätig wieder einsetzen. Wenn nicht, wird der Respirator wieder eingeschaltet, und nach 12 Stunden wird die ganze Prozedur wiederholt. Dann erst wird der Patient für hirntot erklärt.

Diese Beschreibung macht deutlich, dass meine ursprüngliche Annahme, alles müsse in größter Eile vor sich gehen (siehe den Ausgangsartikel in der Februar-«Warte«) falsch war. Solange der Respirator arbeitet, ist der Körper durchblutet und nimmt keinen Schaden. In den 12 Stunden zwischen den beiden Messungen bliebe Zeit, in der die Angehörigen in Ruhe Abschied nehmen könnten. Dazu sagt der rein wissenschaftlich ausgerichtete Artikel natürlich nichts.

Gemessen werden die Gehirnströme im Großhirn und im Hirnstamm. Im Großhirn ist das Bewusstsein lokalisiert. Wahrnehmung, Gefühle, Sozialverhalten - alles, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht. Der Hirnstamm gilt als Sitz des Lebens, er regelt (wohl zusammen mit dem Kleinhirn) die unwillkürlichen Körperfunktionen, von der Atmung bis zur Verdauung. Wenn in beiden keine Hirnströme mehr messbar sind, bedeutet das die Diagnose Hirntod.

Nicht gemessen wird dabei das Kleinhirn, weil es normalerweise zusammen mit dem Hirnstamm ausfällt und weil es für normale EEG-Geräte nicht zugänglich ist. Man kann zwar auch dort messen, aber das wird selten gemacht, weil es umständlich und sehr teuer ist: der Betreffende muss mitsamt dem Respirator in einen Scanner zum Zweck einer Positronen-Emissions-Tomographie (kurz: PET) gelegt und dazu oft weit über Land gefahren werden, weil nur ganz wenige Krankenhäuser ein solches Gerät haben. In den übrigen Fällen ist es möglich, dass im Kleinhirn oder in tiefliegenden Zonen des Hirnstamms noch Neuronen aktiv sind, deren schwache Ströme im EEG nicht auftauchen.

Möglicherweise (genau weiß man das nicht) ist das der Grund für die Phänomene, die immer wieder Irritationen auslösen: dass in manchen?, vielen? - nicht allen - Fällen ein für hirntot Erklärter noch schwitzt, uriniert, dass in einigen wenigen Fällen sogar ein Baby noch weiter ausgetragen wurde.

Es ist also möglich, dass nach dem Hirntod Körperfunktionen ganz oder teilweise noch erhalten bleiben; allerdings nur, wenn der Körper an den Respirator angeschlossen bleibt, dann aber auch für eine längere Zeit.

Und daraus ergibt sich das Dilemma: ist ein Wesen, dessen Gehirn tot ist, dessen Organismus aber noch lebt, ein Mensch? Die gleiche Frage anders gestellt: Ist der Hirntod schon der eigentliche Tod, oder ist er nur »der Beginn eines unumkehrbaren Sterbeprozesses« (Zitat Schüle)? Das schien mir zunächst eine abstrakte und reichlich überflüssige Frage. Sie hat aber eine sehr reale Konsequenz. Organe dürfen nicht von Lebenden entnommen werden (Lebendtransplantationen natürlich ausgenommen, sie erfolgen ja nur auf ausdrücklichen Willen des Spenders). Deshalb brauchen Ärzte und Juristen einen eindeutigen Zeitpunkt, ab dem eine Entnahme erlaubt ist.

Nach jetzigem Recht ist dieser Zeitpunkt der Hirntod. Wer das nicht akzeptiert, kann jederzeit (oder die Angehörigen für ihn) eine Transplantation ablehnen. Die im Leserbrief zitierte Aussage »Der Hirntod wird nur als Entnahmekriterium festgesetzt, nicht ausdrücklich als sicheres Todeszeichen« hängt wohl damit zusammen, dass ein Teil der Ärzte (keineswegs alle, sonst gäbe es keine Transplantationen) sich der wissenschaftlichen Genauigkeit verpflichtet fühlt: als tot gilt ein Mensch nur, wenn erwiesen ist, dass keine seiner Körperzellen mehr aktiv ist: praktisch: allenfalls, wenn alle Kandidaten der PET-Untersuchung unterzogen würden - was wohl aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausscheidet - und sich auch dann kein Zeichen von Leben mehr fände.

Die Gegenmeinung: Der Mensch besteht nicht nur aus Bewusstsein. Er ist eine Einheit aus Geist, Seele und Leib; tot ist er erst, wenn alle drei nicht mehr funktionieren, und das Kriterium dafür ist das Aussetzen von Herzschlag und Atmung. Jahrtausendelang war das das einzige, eindeutige, nicht hinterfragte Kriterium. Aber seit der Erfindung des Respirators genügt sie nicht mehr, weil sich mit seiner Hilfe der Herzstillstand fast beliebig hinauszögern lässt und weil es inzwischen genügend Beispiele gibt, dass man jemanden sogar nach einem Herzstillstand (falls sich die Ursache beseitigen lässt) wieder ins Leben zurückrufen kann.

Damit ist die Frage nach dem Todeskriterium nicht mehr eindeutig zu beantworten. Sie ist zu einer Frage der Religion oder der Philosophie geworden, die eigentlich jeder nur für sich selbst geben kann. Nach heutigem Rechtsstand kann er das. Er kann per Patientenverfügung eine Transplantation, ob als Spender oder als Empfänger, für sich ausschließen.

Mich interessiert die Praxis. Würde (was unwahrscheinlich ist) wieder das alte Kriterium des Herzstillstands zum Gesetz gemacht, dann würde das bedeuten, dass man alle Hirntod-Kandidaten per Respirator auf unbekannte Zeit am Leben erhalten müsste - also genau das, was immer mehr Menschen per Patientenverfügung für sich auszuschließen suchen. Organtransplantationen wären dann nicht mehr möglich.

Eine Rolle spielt in der Diskussion noch die Frage nach der Unumkehrbarkeit: Könnte ein offiziell Hirntoter nicht vielleicht doch einmal wieder ins Leben zurückkehren? Zitat Schüle: »In Abertausenden von Fällen ist akribisch danach gesucht worden, ob ein Hirntoter jemals das Bewusstsein wiedererlangt hätte: es gibt bis heute keinen einzigen wissenschaftlich akzeptierten Fall.«

Noch zu den weiteren in dem Leserbrief aufgeworfenen Fragen:

2. Auf die Vollnarkose bei einer Organentnahme geht Schüle nicht ein. Ich könnte mir vorstellen, dass die Reflexbewegungen, die auch nach einem unbezweifelbaren Tod noch auftreten können, sicher ausgeschaltet werden sollen. (Schüle nennt als Beispiel das Huhn, das auch ohne Kopf noch eine Zeit lang herumflattert.)

3. Die Frage nach den Folgen für die Seele (es ist wohl die des Empfängers gemeint) lässt sich nicht allgemein beantworten, da das eine Frage des Glaubens ist.

4. Dasselbe gilt, aus anderen Gründen, für die Frage nach der Selbstmordrate von Transplantationsärzten. Ein Selbstmord kann viele verschiedene Ursache haben, die meist nur der Tote kennt. Um aus den bloßen Zahlen relevante Rückschlüsse zu ziehen, bräuchte man eine riesige Menge von Vergleichsdaten. Die einzige mir bekannte Aussage, die indirekt diesen Komplex berührt, stammt von dem Transplantations-Neurologen in der schon genannten Fernsehsendung. Auf eine Frage nach seiner Tätigkeit sagte er, sie sei sehr anstrengend, aber es erfülle ihn jedesmal mit tiefer Befriedigung, einem Menschen zu längerem Leben und zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. Da kein Arzt gezwungen wird, Transplantationen vorzunehmen, wenn er das nicht will, darf man wohl annehmen, dass die meisten von ihnen ähnlich empfinden.

5. Ähnliches gilt für die Frage nach der Lebensqualität derer, die mit einem gespendeten Organ leben. Sie lässt sich nicht allgemein beantworten, aber die große Zahl derer, die auf ein Spender-Organ warten, ist eigentlich eine Antwort.

6. Auf die Möglichkeit, dass sich als Folge einer Transplantation eine Schizophrenie entwickelt, habe ich bei allem, was ich über Schizophrenie gelesen oder gehört habe, keinen Hinweis gefunden. Die Veranlagung dazu ist erblich bedingt; ob und unter welchen Umständen sie ausbricht, ist bisher trotz vieler Forschungen nicht geklärt.

In meiner Sicht ist die Hirntod-Debatte ein - juristisch notwendiger - Nebenkriegsschauplatz. Im Grunde geht es um die Organverpflanzung an sich. Sie ist ein weiterer wichtiger Schritt in dem langen Prozess der Versachlichung von Leben und Sterben. Kann man ihn rückgängig machen? Sollte man das? Wollen wir das?

Andererseits: Organverpflanzung ist ein Mittel, um für viele Menschen Leiden zu verringern. Weil mir dieser Aspekt in dieser Betrachtung zu kurz kam, möchte ich schließen mit dem Schlussabschnitt von Christian Schüles Artikel:

»Der Hirntod fungiert als Rechtsbegriff dieser Transplantations-Metaphysik, deren höchste Wertsetzungen freilich auch Forschungsinteresse, Ärztekunst und letztlich die Ökonomisierung des Menschlichen sind. Und doch ist der Hirntod weit mehr: die Grundlage einer Ethik der Solidarität, indem durch das geschenkte Organ Sinn im Tod entsteht - ein »Akt der Liebe«, wie Papst Benedikt XVI. Entnahme und Spende lebender Organe nennt. Ist das nicht der neue Zauber in einer entzauberten Welt, die zwar das Heilige einbüßt, aber an Mitmenschlichkeit gewinnt?«

Brigitte Hoffmann

Frage der Lebensqualität nach einer Transplantation

Bericht eines Dreizehnjährigen, gekürzt.

Simon Fäth wurde mit einer genetisch bedingten Krankheit geboren, bei der die Leber nur ganz unzureichend funktioniert. Schon als Baby hatte er gelbe Augen, es juckte ihn immer und überall, er wuchs wenig, konnte kaum essen und wurde immer schwächer. So kam er schon mit 3 ½ Jahren auf die Warteliste für eine Leberspende, und als er vier Jahre alt war, fand sich eine passende Leber.

Zitat: »Nach der Operation ging es mir gleich viel besser. Ich hatte Appetit, der Juckreiz war weg, und auch das Gelbe in den Augen. Ich habe zugenommen. Aber ich musste noch extrem vorsichtig sein. Wegen der Infektionsgefahr sollte ich mit Mundschutz in den Kindergarten gehen. Das habe ich echt nicht gemocht, obwohl die anderen Kinder mich beneidet haben. Einmal haben wir für alle so ein Ding mitgenommen: Die fanden das Klasse.«

Die Schule wurde dann schwierig für ihn. Er hatte eine stark vergrößerte Milz und Herzprobleme, so dass er noch einma‚l operiert werden musste. Zwar brauchte er keinen Mundschutz mehr, aber nach wie vor Medikamente, die die Abstoßungsreaktion des Körpers gegen das fremde Organ unterdrückten. Und die bewirkten, dass er in allem langsamer war als die anderen. Die Lehrerin sagte, er sollte sich mehr anstrengen, aber er dachte immer: ich kann das ja doch nicht.

Den Durchbruch brachte dann wohl eine Freizeit des Vereins »Kinderhilfe Organtransplantation« für Kinder und ihre Eltern. Sie brachte ihm nicht nur körperliche Kräftigung, sondern auch ein neues Selbstvertrauen.

Zitat: »Das Beste war, dass wir uns von einem zwanzig Meter hohen Turm abgeseilt haben. Wir haben das ohne unsere Eltern geübt - und am Ende haben wir die dann auch abgeseilt. Das war wirklich toll, weil die uns das gar nicht zugetraut hätten.

Trotz allem kann ich sagen, dass es mir jetzt richtig gut geht! Ich mache Sport, spiele Tennis und Badminton und gehe oft auf unser Trampolin hier im Garten. Ich habe Freunde - und ich habe es geschafft, im nächsten Schuljahr auf die Wirtschaftsschule aufgenommen zu werden. Darauf bin ich echt stolz.«

»Ein paar Sachen« darf er nach wie vor nicht, z. B. Fußballspielen, aber das findet er nicht schlimm. Zitat: »Ich bin sehr froh, dass dieser Mann mir seine Leber gespendet hat... Könnte ich ihn treffen, würde ich ihm gerne Danke sagen.... Also, ich finde, jeder sollte sich überlegen, ob er nicht auch ein gespendetes Organ nehmen würde, wenn das die einzige Chance zum Weiterleben für ihn wäre. Dann sollte man eigentlich auch bereit sein, selbst zu spenden. Also ich würde das sofort machen.«

Nach:  »Publik-Forum«, Ausgabe 10/2012, Seite 17

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