Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 168/9 - September 2012

 

 

Glaube und Werke

Nicht nur hören, sondern auch handeln

Als Losungstext für den heutigen Sonntag steht im Templerlosungskalender ein Text aus dem Jakobusbrief (2, 14-26), mit dem man sich allgemein selten beschäftigt. Das mag daran liegen, dass der Jakobusbrief erst spät, nämlich nach 200 nach Christus, unter den neutestamentlichen Schriften auftauchte und bis ins 4. Jahrhundert hinein nicht allgemein anerkannt war. Luther stand diesem Brief sehr kritisch gegenüber - warum, darauf werde ich später noch eingehen - und obwohl sich Jakobus im Briefeingang als Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus bezeichnet, setzte Luther ihn in bewusst abwertender Absicht an das Ende des Neuen Testaments - nach ihm kommen nur noch der kurze Judasbrief und die Offenbarung des Johannes.

Der Briefschreiber, der bereits in dieser frühen Zeit des Christentums empfindet, dass der christliche Glaube sinnentleert und formelhaft geworden sei(!), stellt heraus, dass Christen nicht nur »Hörer des Wortes« bleiben dürften, sondern zwingend zu »Tätern des Wortes« werden müssten. Eben diese zentrale Mitte des Briefes ist heute unser Text.

Ziemlich von Anfang an - mit Paulus - ging es im Christentum sehr wesentlich darum, wodurch der Mensch das "Ewige Leben" erlangen, sich einen Platz im Himmel sichern, d.h. theologisch: vor Gott gerechtfertigt sein könne. Das große menschliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit hat schon sehr früh zu Vorstellungen eines Weltgerichts, einem Gericht am Ende der Zeit geführt - denken wir nur an die Darstellungen des Totengerichts im alten Ägypten oder eben auch an die Gerichtsvorstellungen der monotheistischen Religionen, nach denen vor dem Anbruch des jenseitigen Gottesreiches das göttliche Gericht steht, das das Weltgeschehen abschließt.

So fragte sich der gläubige Mensch, wie er sich in seinem Leben verhalten müsse, damit er in diesem Gericht bestehen könne. Daraus entstand die christliche Fragestellung, ob der Mensch sich durch gottgefälliges Handeln - seine Werke - das ewige Leben erwirken könne. Schon Paulus führt in seinen Briefen aus, dass der Mensch allein auf die Gnade Gottes angewiesen sei (Römer 3, 24, Epheser 2, 8), aber durch den Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus vor Gott gerechtfertigt werde (Galater 2, 16). Nachdem dieser Gedanke u.a. auch bei Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert zu finden ist, wird er für die Reformation und die Kirchen, die sich auf sie berufen, wesentlich. Martin Luther war ja von der Frage »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« umgetrieben worden, bis er in einer Meditation über den Römerbrief des Paulus zu der Erkenntnis gelangte, dass sich der Mensch nur durch den Glauben an die Erlösungstat Jesu Christi das Gnadengeschenk Gottes erwirken könne. Verständlich also, dass er heftige Kritik an dem Jakobusbrief übte, der an der Stelle, die heute unser Losungstext ist, sehr deutlich davon spricht, dass ein Glaube ohne Werke leer, ja, sogar tot sei und dass die Werke wesentliches Mittel zur Erlangung der Seligkeit seien.

In unserem Text geht es interessanterweise um den Gegensatz zwischen einem Glauben ohne Werke und Werken, die aber völlig selbstverständlich aus dem Glauben heraus geschehen und von denen auf den Glauben rückgeschlossen werden kann. Werke ohne Glauben sind für den Verfasser nicht denkbar.

Wie sieht es damit in unserer heutigen Zeit aus? Eine solche Gleichung, wie Jakobus sie aufmacht, stimmt heute nicht mehr. Es gibt unzählige Menschen, die sich von den Heilsversprechen der Kirchen abgewendet haben und dennoch ihre Lebensaufgabe oder den Sinn ihres Lebens darin sehen, sich sozial zu engagieren. Wie viele Vereine und Projekte gibt es, in denen sich Menschen völlig unabhängig von einem bestimmten Glauben engagieren - ihnen geht es vor allem darum, missliche Zustände durch ihren Einsatz zu verändern, solchen zu helfen, die Hilfe und Unterstützung in einer bestimmten Hinsicht benötigen. Sind solche Werke dann weniger wert, bzw. sollten sie - falls es ein solches Endgericht gäbe - ohne diesen Glauben vor Gott weniger Wert haben?

Wir begehen heute den Tempelgründungstag - am 19. Juni jährt sich zum 151. Mal jenes Ereignis, bei dem sich nach Ausschluss ihres religiösen Führers Christoph Hoffmann aus der Evangelischen Landeskirche dieser mit seinen Anhängern zur religiösen Gemeinschaft der Tempelgesellschaft zusammenschloss. Unter dem Namen "Jerusalemsfreunde" hatte Hoffmann vornehmlich in pietistischen Kreisen immer mehr Anhänger gefunden. Seine Blickrichtung auf Jerusalem rührte von den Weissagungen der alttestamentarischen Prophetenschriften her. Hoffman glaubte den Zukunftsvisionen vom Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, die in diesen Schriften (Psalm 122, Jesaja, Sacharja) der Stadt Jerusalem zugeschrieben wurden. Da er und seine Anhänger außerdem meinten, dass das kirchliche Leben verflacht, nicht mehr von wahrer Frömmigkeit durchdrungen sei und die Kirche trotz des wachsenden sozialen Elends nicht engagiert und effektiv genug dagegen vorgehe, fanden seine Aufrufe, sich entschlossen für die Erneuerung der geistigen und moralischen Werte einzusetzen, immer mehr Anhänger. Zudem war Palästina als entfernte Provinz des Osmanenreiches heruntergekommen und verwahrlost, so dass Kundschafter der Templer, die eine Möglichkeit der Ansiedlung prüfen sollten, 1858 zurückkehrten und davon berichteten, dass »die elenden Steinhütten der Dörfer einen schlechteren Anblick böten als die Wohnungen des Viehs bei uns« und dass Schmutz und Missachtung die Bedeutung der religiösen Stätten stark beeinträchtigten. Die politische Lage nährte die Hoffnung, dass es nicht weiter schwierig sein dürfe, das Land in Besitz zu nehmen und an der prophezeiten Stelle den neuen geistigen Mittelpunkt der Völker aufzubauen.

Trotz seiner Überzeugung zögerte Hoffmann mit der Umsetzung des Auswanderungs­gedankens, aber der Mitbegründer der Gemeinschaft, Georg David Hardegg, drängte darauf, bis schließlich beide Familien 1868 aufbrachen, sich in Haifa niederließen und die weitere Kolonisation überwachten. Mit unserer Reisegruppe sind wir vor gerade mal drei Wochen noch inmitten der ehemaligen Tempelkolonien gewesen und haben den Fortgang der Templer-Geschichte an Ort und Stelle nachvollziehen können. Auch heute noch künden die - zum Teil aufwändig - sanierten Tempelhäuser von der Energie und dem Tatendrang der Siedler; man kann sich in der umtriebigen heutigen Umgebung kaum mehr vorstellen, dass es hier noch nicht einmal Straßen gegeben hatte.

Wie wir wissen, haben die Gründer, hat die Tempelgesellschaft dieses ehrgeizige, "hoch gesteckte" Ziel nicht erreicht - wir heute haben dieses Ziel schon seit geraumer Zeit nicht mehr und sehen den damaligen Anspruch sehr viel nüchterner und kritischer. Aber die Siedler hielten trotz entbehrungsreichen Lebens, obwohl viele an Malaria starben - besonders auch viele Kinder - und obwohl sie hart arbeiten mussten, damit das Siedlungswerk überhaupt gelingen konnte, trotz alledem an dem Glauben fest, dass sie an einem Werk arbeiteten, das dem Willen Gottes entspreche. Das verlieh ihnen die Kraft und den Mut, nicht aufzugeben und weiterzumachen. Sie wollten eine Verbesserung der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage des Glaubens herbeiführen. Auch wenn dies allenfalls in ihren verhältnismäßig kleinen Kolonien im Ansatz gelungen sein mag, so hat sich doch die große Vision verloren - vielleicht, weil man zu sehr damit beschäftigt war, sich zu etablieren, vielleicht, weil der weitere Zustrom von Gleichgesinnten verebbte und es auch aus der neuen Umgebung keinen Zulauf gab. Und doch haben die Templer mit ihrem Einsatz etwas geschaffen, das eine positive Wirkung auf das Land, in das sie viele der im Heimatland schon lange bekannten Errungenschaften transportierten, ausgeübt hat.

Wir berufen uns auf Leben und Lehre Jesu, und die sprechen nicht von einer Rechtfertigung der Menschen vor Gott. Um zu unserem Losungstext zurückzukommen: dass sich die frühen Templer mit ihrem Einsatz das ewige Leben verdienen wollten, ist, soweit ich weiß, nicht belegt; aber der Streit darum, ob der Mensch sich durch Glaube oder durch Werke - oder durch beides - vor Gott zu rechtfertigen vermag, ist für uns müßig, denn das werden wir nie ergründen können.

Im Judentum hat es diese gegensätzliche Unterscheidung zwischen Glauben und Werken nicht gegeben - hier gehört der Glaube zu den Werken dazu -, und auch Jesus hat diese Unterscheidung nicht gemacht. Für ihn war der Glaube die Grundlage für die Werke, beides bildete eine untrennbare Einheit. Denn wer an Gott glaubte, dem waren dessen Gebote bekannt und auch die Forderung, dieselben einzuhalten. Durchaus spricht Jesus vom ewigen Leben, davon, dass man sich einen Schatz im Himmel erwerben könne (Mt. 19, 21, Lukas 12, 33) - Letzteres vornehmlich dann, wenn es darum ging, dass einer seinen Besitz verkaufen und das Geld den Armen spenden solle -, aber er hat nie dazu aufgerufen, gute Werke nur deshalb zu tun, weil diese dann "im Himmel" vergolten würden. Er legte neuen Nachdruck auf die alte Forderung »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«, weil dieser Maßstab derjenige ist, der zu einem besseren Miteinander unter den Menschen führt, und er selber hat im Umgang keine Unterscheidung zwischen "Guten" und "Bösen" getroffen. Stattdessen sah er seine Aufgabe gerade darin, zu den Verlorenen, den Ausgegrenzten der Gesellschaft zu kommen und ihnen die Zugewandtheit Gottes und seine Barmherzigkeit zu verkünden: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten (Lukas 5, 32f) oder: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen (Lukas 15,7). Als ihn der reiche Jüngling fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, war seine Antwort schlicht: halte die Gebote. Auf die Rückfrage, welche, zählte Jesus genau diejenigen auf, die direkt das Zusammenleben der Menschen betreffen: du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsches Zeugnis reden, Vater und Mutter ehren und: deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die habe er alle gehalten, meinte der Jüngling, da gebot Jesus ihm, alles zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben. Da er reich war, war er dazu nicht imstande und wandte sich traurig ab. Als Jesus nun meint, dass ein Reicher nur schwer in den Himmel kommen würde, sind die Jünger entsetzt und fragen sich: wer kann dann überhaupt selig werden? Darauf antwortet Jesus nur, dass bei Gott alles möglich sei.

Aus dieser kleinen Geschichte ersehen wir, was Jesus deutlich machen möchte: dass wir einerseits dem Anspruch an uns nicht nur niemals gerecht werden können, dass wir, kaum, dass wir eine Aufgabe gelöst haben, schon vor der nächsten stehen. Wir können uns immer nur darum bemühen, die uns gestellten Aufgaben bestmöglich zu erfüllen - alles Weitere liegt in Gottes Hand. Jesus weiß gut, dass es eine Trennung in schwarz und weiß bzw. gut und böse auf das ganze menschliche Leben bezogen schwerlich geben kann - immer kann es nur um die Verurteilung eines konkreten Fehlverhaltens gehen, nicht aber des ganzen Menschen oder des ganzen Lebens. Dem gegenüber steht Jesu Beschreibung Gottes als der Herr des Weinbergs, der das Recht hat, die Arbeit seiner Tagelöhner nach eigenem Gutdünken zu belohnen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen - und wenn es für die andern noch so ungerecht erscheint. Hier kommt der Maßstab der Liebe ins Spiel - besonders jener Liebe, die dem anderen etwas zu gönnen vermag.

Aber die wesentlichste Antwort auf diese Frage gibt Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Nirgendwo ist hier die Rede von einer Rechtfertigung. Allein Einsicht und Reue veranlassen den Sohn zur Umkehr - und zuhause wird er vom Vater ohne jeglichen Vorbehalt und mit großer Freude wieder aufgenommen. Diese von Gott uns unein­geschränkt entgegengebrachte Liebe glauben wir.

Karin Klingbeil, aus der Ansprache am Tempelgründungstag 2012

Die Stuttgarter Templer im Kreis der freien Christen

in Vergangenheit und Gegenwart

Einleitung

Unser Verständnis von freiem Christentum

Die Bezeichnung »freie Christen« ist nicht ganz unmissverständlich, denn das Wesen der Tempelgesellschaft ist nicht bindungslose Freiheit - so wenig wie für den Protestantismus als Gesamterscheinung -, sondern die Bindung an Jesus, den Christus.

Trotzdem ist die Bezeichnung für uns nicht unzutreffend: Wir sind - oder wollen es sein - Christen, das heißt Anhänger und Ausführende der Botschaft des Christus vom Gottesreich der Liebe und allseitigen Vervollkommnung als Ziel und Aufgabe der Menschheit und jedes Einzelnen. Hierin wissen wir uns bei aller Verschiedenheit unserer sonstigen Bestrebungen, Vorstellungen und Empfindungen aufs engste gebunden und verbunden.

Wir sind frei insofern, als wir innerhalb dieses sehr weiten Rahmens durch keinerlei Bindung an andere Götter, an andere Ideale oder Höchstwerte, beschränkt sind, so dass wir in Kunst, Wissenschaft, Politik usw. Vertreter der verschiedensten Richtungen (»Konservative« und »Liberale«, »Ungeduldige« und »Wartende«) in unseren Kreis aufnehmen und darin vereinigen können, sofern sie nur eben die Erlösung, das heißt das Reich Gottes auf Erden, als Höchstziel, als obersten Richtpunkt erkannt haben und anstreben. Dabei sind wir uns durchaus bewusst, dass dieses Höchstziel durch keine klar erkennbare Abgrenzungslinie umrissen wird und daher im Lauf der Zeit einer Entwicklung unterliegt.

Christentum ist für uns nicht eine Frage des »Bekenntnisses«, sondern der Gesinnung (Lessing über den Juden Nathan: Ihr seid ein Christ, ein bessrer Christ war nie). Freies Christentum ist für uns deshalb nicht ein Christentum »mit Freiheit«, das heißt Unverbindlichkeit in so und so vielen Stücken, sondern ein möglichst hundertprozentiges Christentum, das eben darum eine hundertprozentige Freiheit gegenüber allen Götzen der Tradition und der Vorurteile in sich schließt (Paulus im Galaterbrief 5,13-14: Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt, sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.).

TGD-Gebietsleiter Jon Hoffmann, »Warte des Tempels« Mai 1970

Die Verbindungen der Templer zu anderen freien Christen

Vorbemerkung

Die kritische Haltung des Tempelgründers Christoph Hoffmanns zu den Lehrinhalten der Kirche, wie sie vor allem in seinen ersten drei »Sendschreiben« zum Ausdruck kommt, hat dazu geführt, dass die Tempelgesellschaft im Laufe ihrer Entwicklung zu einer freichristlichen Glaubensgemeinschaft geworden ist. Der frühere Gebietsleiter für Deutschland, Jon Hoffmann, schrieb einmal, dass wir sogar die freieste christliche Gemeinschaft seien, weil unseren Mitgliedern größte innere Freiheit in Bezug auf Glaubenssätze und kultische Handlungen zugestanden wird. Gott wolle von den Menschen kein Sakrament und keinen Kult - das eine oder andere davon könne durchaus eine Quelle geistiger Erbauung sein, aber es ändere nichts an dem Verhältnis Gottes zu den Menschen - , sondern unseren Dienst des Guten mit dem Einsatz unserer ganzen Kraft.

In dieser Aufgabe eines gelebten Christentums des Gottvertrauens und der Nächstenliebe liegt für uns die höchste Freiheit (Freiheit gegenüber jeglichem autoritären Einfluss von außen), aber zugleich auch die höchste Bindung, nämlich Bindung an diese Verpflichtung, in liebender Gesinnung das Gute zu tun. Das ganze Leben und Wirken Jesu stand unter diesem Zeichen. Wenn wir in Wahrheit ihm nachfolgen, sind wir wie er frei gegenüber den Menschen und ihren Satzungen, aber gebunden an Gott.

Freichristliches Denken in Deutschland

Schon im 19. Jahrhundert traten in Deutschland zahlreiche Theologen auf, die sich zu einem freien Christentum bekannten. Einen Höhepunkt erreichte die Geschichte des freien Christentums dann beim 5. Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt, der 1910 in Berlin stattfand. Ein Nachhall dieser viele Kreise der Bevölkerung erfassenden Bewegung war nach dem Zweiten Weltkrieg die Gründung des »Bundes für Freies Christentum« in Frankfurt 1948.

Abgesehen von den Teilnahmen des Tempelvorstehers Christian Rohrer bei den Kongressen für freies Christentum und religiösen Fortschritt 1913 in Paris und 1927 in Prag unterhielten die Templer in Palästina wegen ihrer geographischen Entfernung meines Wissens keine engere Verbindung zu freichristlichen Kreisen in Deutschland. Durch die dann erfolgte Auflösung ihrer Kolonien und durch ihre zwangsweise Zerstreuung in die verschiedensten Gegenden war später keine Voraussetzung für ein »Aufspüren« Gleichgesinnter in der Öffentlichkeit gegeben. Das änderte sich dann im Jahr 1956, als der Theologe Erich Bergmann Mitglied und Ältester in der Tempelgesellschaft in Deutschland (TGD) wurde.

Die Ära Bergmann

Bis dahin hatte Gebietsleiter Jon Hoffmann die ganze Last der geistig-religiösen Leitung und Betreuung der TGD allein getragen, hatte regelmäßig Gottesdienste sowohl in Stuttgart wie auch bei entfernter wohnenden Templergruppen gehalten, hatte Darstellungen, Trauungen, Konfirmanden-Stunden, Begräbnisfeiern übernommen und daneben noch die zeitaufwändige Redaktionsarbeit der »Warte des Tempels« erledigt. Dazu kam die mühsame Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für Templerveranstaltungen, denn die TGD verfügte damals noch nicht über ein eigenes Gemeindehaus. Eine Entlastung war dringend nötig, und so beschloss die Gebietsleitung, den freien Theologen Erich Bergmann als Teilzeit-Mitarbeiter gegen Honorar anzustellen.

Bergmann kam aus Schlesien im vormaligen Osten Deutschlands und wurde durch die Kriegsereignisse von dort vertrieben. In der Nähe von Stuttgart versuchte er, zusammen mit seiner Ehefrau, sich eine neue Existenz aufzubauen. Er hatte eine theologische Ausbildung hinter sich, hatte jedoch auf eine Anstellung als Pfarrer der evangelischen Kirche verzichtet, da er in Gewissenskonflikte mit der kirchlichen Lehre geriet und aus innerer Wahrhaftigkeit die Verpflichtungen nicht übernehmen konnte, die an einen Pfarrer gestellt wurden. So musste er große wirtschaftliche Entbehrungen hinnehmen und wurde Vortragsredner in Volkshochschulen und in freichristlichen Gemeinschaften, z.B. in Bremen.

Über fast ein Vierteljahrhundert war das Gemeindeleben der TGD geprägt durch die Person Bergmanns. Die auf ihn fallende Gemeindearbeit war auch durch das hohe Alter des Gebietsleiters bedingt. Er übernahm nicht nur zahlreiche Gottesdienste und Vorträge im Frauenkreis und vor jüngeren Mitgliedern, sondern besuchte regelmäßig Templergruppen außerhalb Stuttgarts (zum Teil bis nach Köln und Hamburg) und schrieb viele Aufsätze über religiöse und philosophische Themen. Vieles aus dieser Arbeit ist noch in unserem Archiv aufbewahrt.

Zusammenarbeit mit anderen freichristlichen Gemeinschaften

Erich Bergmann vermittelte der TGD auch den Kontakt zu anderen Gemeinschaften unserer Glaubensrichtung in und um Stuttgart, bei denen er predigte und Vorträge hielt. Es bildete sich der sogenannte »Degerlocher Arbeitskreis freichristlicher Gemeinschaften«, der in dem 1967 entstandenen neuen Gemeindezentrum der TGD seine Zusammenkünfte und Organisationsbesprechungen hielt und einen Redneraustausch organisierte. Auch Weiterbildungs-Seminare wurden gemeinsam mit Theologen der anderen Gemeinschaften im Gemeindehaus der Templer veranstaltet. Zu diesen Theologen zählten die Pfarrer Rudolf Daur, Georg Schneider und Karl Griesinger. Die beiden letzteren hatten wegen ihrer Mitarbeit bei den »Deutschen Christen« keine Pfarrstellen in der evangelischen Kirche erhalten und deshalb eine eigene Gemeinschaft, die »Volkskirchenbewegung Freie Christen« gegründet.

Mitbeteiligt an dem Degerlocher Arbeitskreis war auch die von Pfarrer Schäfer-Wald angestoßene »Gemeinschaft Christlicher Lebensglaube« sowie die »Freie Volkskirchliche Vereinigung in Württemberg«.

Die TGD profitierte von der Erfahrung dieser befreundeten Theologen sehr viel, sie halfen verschiedentlich auch in unserem Predigtdienst und bei Weiterbildungsveranstaltungen aus und gaben dem Ältestenkreis der TGD, der sich inzwischen gebildet hatte, neue Impulse (so gehen zum Beispiel unsere seit über 25 Jahren alljährlich veranstalteten Wochenendseminare auf eine Idee von Karl Griesinger zurück; aus den Predigtbänden von Rudolf Daur entnehmen unsere Gemeinde-Ältesten bis heute wertvolle Denkanstöße).

1976 empfahl uns einer der befreundeten Pfarrer, zur Stärkung unserer theologischen Arbeit dem »Bund für Freies Christentum« beizutreten, was dann auch geschah.

Die Mitgliedschaft im »Bund für Freies Christentum«

Der Bund für Freies Christentum wendet sich nach eigener Darstellung »an alle, die der Kirche angehören, und steht denen offen, die sich aus ernsthaften Gründen von ihr getrennt haben, am Christentum aber in ihrer Weise festhalten wollen«. In ihm gibt es als Mitglieder viele evangelische Pfarrer, Religionslehrer, Gemeindemitarbeiter, aber auch zahlreiche religiös interessierte »Laien«. Die TGD ist als Gemeinschaft, also korporativ, 1976 Mitglied im Bund geworden und war in dessen Vorstand vertreten.

Ein namhafter Vertreter dieses Bundes (Wolfram Zoller) hat einmal aufgezählt, von was die freien Christen frei sein wollen:

frei von der Fesselung durch Glaubensformen (Dogmen) vergangener Zeiten,

frei von Glaubenszwängen aller Art,

frei von autoritären religiösen Herrschaftsstrukturen,

frei von bibelvergötzendem Buchstabenglauben,

frei von geistlosem und sektiererischem Fanatismus,

frei von intoleranten Absolutheitsansprüchen,

frei von missionarischer Vereinnahmung der Anderen,

und frei von dem Irrtum, der Mensch sei das Maß aller Dinge.

Der Bund für Freies Christentum hält jährlich einmal an verschiedenen Orten Deutschlands eine Vortragstagung und mehrmals im Jahr auch regionale Zusammenkünfte in Stuttgart, die schon seit vielen Jahren im Gemeindehaus der Templer stattfinden. Mehrere unserer Ältesten treffen sich alle paar Monate mit Vertretern des Bundes zu theologischen Gesprächsabenden in Privatwohnungen. Die Geschäftsführerin der TGD, Karin Klingbeil, ist inzwischen auch zur Geschäftsführerin des Bundes gewählt worden.

Derjenige Theologe im Bund für Freies Christentum, der uns glaubensmäßig am nächsten stand, ist der inzwischen verstorbene Pfarrer Ulrich von Hasselbach. Er hatte sich bemüht - trotz mancher Kritik auch aus den eigenen Reihen -, die Unterschiede zwischen traditionellem und freiem (bei ihm: offenem) Christentum klar und deutlich herauszustellen, wie folgende Beispiele zeigen:

1. »Die Gottesvorstellung im traditionellen Christentum ist tripersonal: Vater, Sohn und Heiliger Geist. - Die Gottesvorstellung des offenen Christentums setzt ein göttliches Wesen voraus, ist also monopersonal. Auch wenn es sich in dreifach verschiedener Weise, nämlich als Schöpfer, als zugewandter »Vater« im Sinne Jesu und als wirkender Geist manifestiert, ist es doch immer der eine, gleiche Gott, der dabei erfahren wird.

2. Jesus ist für das traditionelle Christentum der menschgewordene Sohn Gottes und als solcher selbst Gott. - Für das offene Christentum ist Jesus Mensch, sicher ein gottbegnadeter Mensch, in dessen Ausstrahlung offenbar Kraft und Licht aus der schenkenden Fülle Gottes in besonderer Dichte zu spüren waren.

3. Für das traditionelle Christentum hat das Sterben Jesu am Kreuz die Bedeutung eines Sühnetodes. Alle menschliche Schuld ist aufgewogen durch das Opfer am Kreuz. Wer daran glaubt, darf sich erlöst wissen und der Gnade Gottes sicher sein. - Für das offene Christentum ist das Sterben Jesu am Kreuz kein Opfer zur Versöhnung Gottes. Vielmehr geschieht die Hingabe seines Lebens um der ihm aufgetragenen Sache willen.«

Ulrich von Hasselbach verfasste 1987 ein Buch mit dem Titel »Der Mensch Jesus - Leitbild für das dritte Jahrtausend«, es ist bis heute ein wichtiger Leitfaden für die Templer in Deutschland. Von ihm verfasst sind auch zwei Lieder, die Eingang gefunden haben in die 2004 erschienene Sechste Auflage des Gesangbuches der TGD (fünf Lieder dort stammen von Erich Bergmann). Das freie Christentum ist also auch im templerischen Liedgut präsent, obwohl es von Verfassern aus der Tempelgesellschaft vergleichsweise leider nur wenige Lieder darin gibt.

»Ökumenische Initiative Reich Gottes - jetzt!«

Unter dieser Bezeichnung haben wir eine kleine Gruppe freichristlich Denkender unter Leitung des Pfarrers Claus Petersen erst vor etwa zehn Jahren kennen gelernt. Inzwischen fanden schon zahlreiche Begegnungen zwischen ihnen und TGD-Mitgliedern statt. Jedes Jahr wird von dieser Initiativgruppe eine größere Studien-Tagung mit Vorträgen und Gesprächen über ihr Anliegen veranstaltet. Hier sind einige Angaben zu den Zielen dieser Vereinigung, die manches Thema aufgreift, das die Templer schon seit vielen Generationen beschäftigt, so das Thema des Gottesreiches als einer irdischen Aufgabe und nicht als einer Hoffnung im Jenseits oder am Ende aller Tage.

1. Wir wünschen uns eine Reform der Kirchen auf der Basis der Reich-Gottes-Botschaft des Jesus von Nazareth.

2. Wir möchten erreichen und dazu beitragen, dass unsere Kirchen sich auf ihre jesuanischen Wurzeln zurückbesinnen.

3. Wir glauben, dass in der Botschaft Jesu Heilung und Befreiung liegen. Er hat diese Botschaft konsequent gelebt. Seine Hinrichtung am Kreuz hat nicht verhindern können, dass seine Botschaft vom Reich Gottes weiterlebt.

4. Zentrale Inhalte seiner Botschaft sind: Das Reich Gottes ist angebrochen. Es geht um diese Welt und dieses Leben. Es gilt, in allem dem Reich zu entsprechen.

Abschließend darf ich sagen, dass die Templer vermutlich weit mehr gleichdenkende Mitbürger in Deutschland haben, als diese Aufzählung zeigt, und es deshalb eine Aufgabe für uns sein müsste, zu diesen Verbindung aufzunehmen. Die Freiheit im Glauben ist zwar größer geworden seit Christoph Hoffmanns Zeiten, aber es haben sich gleichzeitig auch vermehrt fundamentalistisch ausgerichtete Gruppierungen gebildet. Die Fahne des freien Christentums muss deshalb noch stärker als bisher hoch gehalten werden.

Dort, wo die Templer Freunde im freichristlichen Bereich gefunden haben, wird uns von ihnen Wertschätzung und Hochachtung entgegengebracht. Oft müssen wir beschämt erkennen, dass wir uns des Wertes unserer eigenen religiösen Ausrichtung nicht genügend bewusst sind und zu wenig zu ihrer Verbreitung beitragen.

Peter Lange, Gemeinde-Ältester der TGD

Befreiung vom Überfluss?

Auf dem Weg in die Postwachstums-Ökonomie?

Unter den Ökonomen gibt es eine, wenn auch bis jetzt sehr kleine Gruppe, die sich mit Entschiedenheit für eine »Entschleunigung« einsetzt. Ihre Mitglieder glauben nicht (mehr) an Wachstum und setzen auf eine Postwachstumsökonomie. Ihr Ruf gilt einer Nachhaltigkeit, die vom Überfluss befreien soll. Nach ihrer Auffassung ist die Ära des Wirtschaftswachstums vorbei, unbegrenztes Wachstum ein Mythos. Das Streben nach immer »mehr« führe zum unkontrollierten Rohstoffverbrauch und treibe die Umweltzerstörung voran. Nur wenn wir unseren Lebensstil radikal ändern, so die eindringliche Mahnung dieser Ökonomengruppe, sei die Welt noch zu retten.

Radikal, zumindest jedenfalls sehr entschieden, hat ein Vertreter dieser Gruppe, der Ökonom und Wissenschaftler Niko Paech sein persönliches Leben konsequent an dieser Erkenntnis ausgerichtet und umgestellt. Er besitzt kein Auto, keinen Fernseher, kein Handy, geschweige denn ein Smartphone oder iPad. Nur so habe er sich dem Teufelskreis von Konsumwunsch und Zeitmangel entzogen. Er hat sein Leben entrümpelt, wie er sagt, entschleunigt. Einsparen, rückbauen, schrumpfen, kurz, bescheidener leben, das ist der Kern dessen, was Paech Postwachstumsökonomie nennt. Dieser Begriff lässt sich anschaulicher ersetzen durch den Begriff »Wachstumsrücknahme«, den Wikipedia wie folgt definiert: »Darunter wird eine Rücknahme des Konsum- und Produktionswachstums verstanden, mit der einem solchen Wirtschaftswachstum dann begegnet werden soll, wenn es sozial, ökologisch, ökonomisch und politisch schädlich ist. In der Wachstumsrücknahme sehen die Vertreter dieses Konzepts eine Maßnahme gegen ein Umwelt und Ressourcen überlastendes Wachstum.«

Lassen sich Probleme wie Umweltzerstörung, Klimawandel und Ressourcenverknappung durch neue Technologien lösen? Nach Ansicht der Vertreter einer konsequenten Wachstumsrücknahme ist diese Hoffnung, dieser Glaube ein Trugschluss, ein Selbstbetrug. In ihren Augen bringen selbst Innovationen wie Passivhäuser, Elektroautos und Ökostrom bislang keine Entlastung, sondern verursachen mehr Schaden als Nutzen, weil sie das Resultat zusätzlicher Produktionen sind. D.h., es sind Neuerungen, welche die Probleme verlagern anstatt sie zu lösen. Hören wir Paech wörtlich: «Der Glaube an ein »grünes« Wachstum ist ein großer Selbstbetrug. Eine Art Ersatzreligion, die uns bis heute davon abhält, das Richtige zu tun!« (taz 21.01.2012)

Ich denke es ist richtig und bestimmt unerlässlich, für die Einschätzung der Weltlage bedingungslos Bilanz zu ziehen. Von unseren Entscheidungen heute hängt die Zukunft aller Entwicklungen auf der Erde ab. Aber wir sollten das mit Weisheit und Vernunft tun und uns vor einem Radikalismus, wenn nicht gar Fanatismus hüten. Das klingt für mich bei den angeführten Vertretern an, wenn sie die Forderung stellen, kein Flugzeug mehr zu besteigen, auf MP3player und Digitalkamera zu verzichten. Natürlich entscheidet jeder Mensch für sich, welchen Lebensstil er wählt und wie weit er seine Verantwortung für eine positive Zukunft zu tragen bereit ist. Daraus dürfen aber keine allgemeinen und bedingungslosen Forderungen werden. Anschließen kann ich mich aber an die Plädoyers für mehr Verzicht, für ein bescheideneres Leben – mein Konsumverhalten zu kontrollieren, Dinge länger zu nutzen, zu reparieren und nicht gleich wegzuwerfen, Werkzeug und Geräte wo möglich mit Nachbarn zu teilen. Das erscheint mir absolut vernünftig und praktikabel, weil durchführbar. Und es erscheint mir, dass diese kleinen Schritte erfolgreich sein können. Wenn wir jetzt hören, dass das Ozonloch auf Grund von Umweltmaßnahmen sich langsam wieder schließt, können wir doch zumindest Hoffnung schöpfen!

Die Auffassung dieser Wirtschaftsökonomen räumt gründlich auf mit der Vorstellung, dass man durch Expansion glücklich werde - eine Vorstellung, welche ohne Zweifel unser Zeitalter prägt. Hinter dieser Vorstellung steht der Drang, um nicht gar Zwang zu sagen, nach dem, was ich noch zusätzlich erfahren, besitzen, mir aneignen kann. Überspitzt sagt Paech: «Welchen Ort könnte ich noch anfliegen, um den Radius meiner Glücksuche zu vergrößern?« Vielleicht konsumieren wir so viel, dass uns die Zeit fehlt, um dabei glücklich zu sein. Vielleicht ist Zeit - für uns Menschen der westlichen Hemisphäre - die Ressource, die am knappsten geworden ist?

Wir sollten uns schon einmal der Frage unterziehen, ob wir wirklich weiterhin so alles brauchen, was wir besitzen? Was hängt zum Beispiel nicht alles in meinem Kleiderschrank, was ich nicht oder kaum anziehe, was ich also nicht brauche. Oder anders gedacht: weil der Schrank so voll ist, brauche ich nichts Neues! Vielleicht ist manches tatsächlich Wohlstandsballast, der mein Leben verstopft. So gesehen kann Reduktion befreien und hat unter dieser Perspektive nichts mit schmerzhaftem Verzicht zu tun. Unser Wirtschaftssystem ist ambivalent. Es vergrößert Reichtum bei denen, welche sowieso schon haben, und geht am Mangel vorbei. Es nimmt bislang wenig Rücksicht auf die Natur, sondern beutet sie aus. Es wirkt als großer Verführer bei denen, die es einschließt, in dem es u. U. süchtig macht und vom wirklichen Leben ablenkt. Es produziert am Bedarf vorbei und schafft künstliche Bedürfnisse. Werbung und vermeintlicher Wachstumszwang führen vermutlich zum »Konsumieren-Müssen«. Damit sind wir wieder bei den Grundansätzen einer Postwachstumsökonomie, der wir uns ernsthaft stellen sollten, jedoch ohne uns unter den übertriebenen Druck nach einem sich Versagen aller modernen Errungenschaften zu begeben. Schauen wir doch einmal unseren Lebensstil sachlich an - was ist notwendig, nützlich, auf was kann und will ich verzichten? Es fällt nicht immer schwer, Prioritäten zu setzen.

Wolfgang Blaich

Andreas Struve und die Jerusalemsfreunde von Buffalo

Es ist wohl den wenigsten unter unseren Lesern bekannt, dass der Wirkungskreis der Jerusalemsfreunde vom Kirschenhardthof in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts bis weit in den Norden und den Westen der USA reichte. Beigetragen zu ihrer Bekanntheit in Amerika hatte vor allem ihre Zeitschrift »Süddeutsche Warte«, die schon 1845 gegründet worden war. Mit der Zeit bildeten sich in verschiedenen Städten Hauskreise. Andreas Struve (1833 - 1906)Nachdem 1861 in Württemberg die Bildung einer selbständigen Glaubensgemeinschaft unter der Bezeichnung »Deutscher Tempel« ausgerufen worden war, kam es auch in den Vereinigten Staaten zur Gründung fester Tempelgemeinden.

Auf eine dieser Gemeinden möchte ich heute mein besonderes Augenmerk richten: auf diejenige in der an der westlichen Grenze des Staates New York am Eriesee gelegenen Stadt Buffalo. Paul Sauer schreibt in seiner Templer-Chronik, dass eine maßgebliche Rolle in dieser Gemeinde die Deutschstämmigen Jakob Schumacher, John Sorg und Andreas Struve gespielt hätten. Auf ihre Spuren wurde ich erst vor wenigen Monaten wieder gelenkt, als ich einen E-Mail-Brief von einer Linda Wiley aus Oregon erhielt, die über das Internet ihre deutschen Verwandten suchte, speziell die Nachfahren des Steinmetzen, Bildhauers und Architekten Jakob Schumacher. Sie hatte Schumachers Grab mit Hilfe der Grabstätten-Datenbank www.findagrave.com auf dem Templer-Friedhof in Haifa gefunden und damit auch uns als Auskunftsstelle für genealogische Angaben. Es stellte sich heraus, dass sie eine Nachfahrin eines Bruders von Jakob Schumacher ist, der von Tübingen ebenfalls nach Amerika ausgewandert war, aber im Gegensatz zu Jakob dann dort blieb und nicht nach Palästina weiter zog.

Unsere E-Mail-Korrespondenz mit Übersendung von Nachkommen-Listen zeigte für Linda eine ihr bisher noch nicht bekannte Verwandtschaft mit der Familie Scheerer an, von der der Ahnherr Michael Scheerer (Schneidermeister, in Holzheim bei Göppingen geboren) ebenfalls der Gemeinde in Buffalo angehört hatte. Georg Scheerer (1844 - 1912)Auf unseren Schriftwechsel wurde auch eine Mary Shearer aus Texas aufmerksam, deren Ehemann ein direkter Nachkomme von Michael Scheerer ist. Sie hatte schon viel Familienforschung betrieben und konnte in Recherchen herausfinden, wo Michael Scheerer in Buffalo gewohnt hatte und wo er seinem Beruf nachgegangen war.

So langsam setzte sich - wie in einem Mosaikbild - Stein an Stein und ergab, dass der Mittelpunkt des templerischen Gemeindelebens das Haus des Andreas Struve war. Struve war - im Gegensatz zu Jakob Schumacher und Michael Scheerer - kein Württemberger, sondern war im Jahre 1853 von der Ostseeinsel Fehmarn nach USA gekommen. Nach anfänglichen beruflichen Beschäftigungen in New York und Boston fand er in einem Salzdock in Buffalo eine kaufmännische Anstellung. Und er freundete sich mit den dort schon wohnenden Templern an. Mit der Zeit erwarb er ein eigenes Haus in der Eagle Street Nr. 383. Seine Freunde fanden oft bei ihm gastfreundliche Aufnahme (wie z.B. Jakob Schumacher, der bis zu seiner Auswanderung nach Haifa 1869 bei ihm wohnte). In Ermangelung eines eigenen Gemeindehauses bot er der kleinen Tempelgemeinde an, dass ihre Gottesdienste und Treffen im unteren Stockwerk seines Hauses stattfinden könnten. Jakob Schumacher fungierte als Ältester. Man kann diese Bereitstellung eines Zusammenkunftslokals durch Andreas Struve nicht hoch genug einschätzen. Oliven-Anlieferung in der Öl- und Seifenfabrik StruveStruve war immer mehr zu einer Säule der Tempelgemeinde geworden und hatte an der Ausdehnung der Tempelbewegung in Amerika maßgeblichen Anteil. Er vertrieb die »Warte« und pflegte Korrespondenz mit Lesern und Herausgebern des Blattes und war an der später gescheiterten Gemeindegründung der amerikanischen Templer in Maresa beteiligt.

Struve und seine Freunde in Buffalo wollten nicht nur Förderer des Tempelwerks aus der Ferne sein, sondern entschlossen sich bald mehrheitlich, ihren Wohnsitz in den Vereinigten Staaten aufzugeben und beim gerade beginnenden Aufbauwerk der Templer in Palästina aktiv mitzuwirken. Struve und Scheerer übersiedelten 1873 nach Haifa, während Schumacher ihnen schon 1869 vorausgegangen war. Der unternehmende Andreas Struve gründete kurze Zeit nach seiner Ankunft zusammen mit Georg Scheerer, dem Sohn von Michael Scheerer, am Gestade der Bucht von Haifa eine Öl- und Seifenfabrik, die zu großer Bedeutung gelangte. Vor kurzem fiel mir ein Bericht aus USA in die Hände, aus dem hervorging, dass auch noch in der nächsten Generation Olivenöl in Fässern nach Nordamerika verschifft worden ist. Den Vertrieb im Ankunftsort hatte der Sohn des oben schon erwähnten Templers John Sorg in der Hand. Er konnte seinen Landsleuten ein wenig von diesen Templern in Buffalo erzählen, die einer Idee zufolge zweimal ihre Heimat verlassen hatten.

Außer Schumacher, Struve und Scheerer waren es noch zahlreiche andere Deutschstämmige, die die USA mit dem Ziel Palästina verließen. Die meisten von ihnen waren in den Vereinigten Staaten schon eingebürgert worden und bildeten in der wachsenden Gemeinde in Haifa nun eine »amerikanische Fraktion«, die nach wie vor ihren Unabhängigkeitstag am 4. Juli mit Festlichkeiten feierte. Mein Vater, der von Mutterseite auch »Amerikaner« war, hat mir aus seiner eigenen Erfahrung oft von diesen Ereignissen in Haifa erzählt. Amerikanische Templer,
 Haifa,
 Karmel,
 4. Juli 1912Erst recht spät beantragten die amerikanischen Templer beim deutschen Reich ihre »Rückbürgerung«, um so wie die direkt aus Deutschland Eingewanderten die deutsche konsularische Vertretung in Anspruch nehmen zu können.

Für mich war das Kennenlernen von ameri­kanischen Verwandten unserer »Templerväter« von Haifa äußerst spannend. Das World Wide Web ist tatsächlich ein weltumspannendes Netz, in dem es immer wieder interessante Verknüpfungen aufzufinden gibt. Ob in einem kleineren Ort in Texas oder einem größeren in Oregon, ob in Deutschland oder Australien, es leben da Menschen, die in geschichtlicher Hinsicht »zueinander gehören«, die gemeinsame Schicksale in der Vergangenheit miteinander teilen und sich auch über Entfernungen hinweg kennen lernen. Die Familien- und Ahnenforschung bildet dabei die Brücke, über die wir zueinander finden. Für Linda Wiley und Mary Shearer war es jedenfalls ein Erlebnis, weitere Verwandte in Übersee entdeckt zu haben, für uns eine Ergänzung unserer bisherigen Kenntnisse über deutsche Auswanderer nach Amerika.

Peter Lange, TGD-Archiv

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