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Am 9. März hat in diesem Jahr die kirchliche Fastenzeit begonnen. Traditionell heißen die 7 Wochen vor Ostern in der Römisch-katholischen Kirche Fastenzeit, während in den reformierten Kirchen der Begriff Passionszeit geläufiger ist. In Erinnerung an die 40 Tage, die Jesus vor seinem öffentlichen Auftreten in der Wüste verbracht hat, setzte die Kirche die vorösterliche Fastenzeit als Zeit der Buße fest, in der Verzicht geübt werden sollte. In der Synode von Benevent (1091) wurden die Sonntage in der Fastenzeit als Gedenktage der Auferstehung Jesu ausgenommen, wodurch sich der Beginn der Fastenzeit nach vorne verschob und seither am Aschermittwoch beginnt. Damit sind es bis zum Samstag vor Ostern genau 40 Tage und Nächte, die Verzicht geübt werden soll. Vor allem soll auf Fleisch verzichtet werden, ursprünglich auch auf Milchprodukte, Wein und Eier. Erst Papst Innozenz VIII. erlaubte 1486 Milchprodukte in der Fastenzeit. Auch Tanzveranstaltungen waren in der Fastenzeit nicht denkbar.
Die Reformatoren vertraten dagegen den Standpunkt, dass nicht äußere Akte wie der Verzicht auf bestimmte Speisen wichtig seien, sondern die Gesinnung. Schon Luther legte in seinem Sermon von den guten Werken den Maßstab an, dass jeder selber entscheiden müsse, was seiner Frömmigkeit zuträglich sei, und kam zu dem Schluss, dass daher nicht allen dasselbe Verzichtverhalten auferlegt werden könne. Daher wurde die kirchenrechtliche Festschreibung des Fastens abgelehnt und Freiheit in diesen äußeren Akten der Frömmigkeit gefordert. Fastentage werden durchaus begangen und angeraten, aber jeder hat die Freiheit, sich anzuschließen oder auch nicht.
Generell lockerte sich im 20. Jahrhundert der Umgang mit dem vorösterlichen Fasten auch in der Römisch-katholischen Kirche. Erstaunlich ist, dass sich gerade in der Evangelischen Kirche eine Aktion etabliert hat, die in den 7 Wochen vor Ostern den Verzicht als Programm hat. Zwar nicht den Verzicht auf bestimmte Speisen, wie überliefert, sondern um bewusst eigene Gewohnheiten zu durchbrechen und sich dadurch geistig neu zu "formatieren". Bereits seit vielen Jahren hat sich unter evangelischen Christen die Praxis eingebürgert, in der Passionszeit die geistliche Vorbereitung auch mit körperlichem Verzicht zu verbinden; d.h., jeder wählt eine ihm lieb gewordene Gewohnheit aus, auf die er über diese 7 Wochen verzichtet: gutes Essen, Alkohol, Kaffee, Zigaretten, Süßigkeiten, auch Fernsehen.
1983 entwickelte sich aus einer Stammtischidee des Hamburger Pressepastors Hinrich Westphal jene Fastenaktion »7 Wochen Ohne«, an der Jahr für Jahr Millionen Menschen teilnehmen - Tendenz steigend. Kennzeichen ist ein gemeinsames Motto - und in diesem Jahr ist es bemerkenswerterweise: »Ich war's! Sieben Wochen ohne Ausreden«.
Bemerkenswert finde ich sie, weil sie eine Haltung aufgreift, die weit verbreitet ist und in deren Versuchung bestimmt schon ein jeder von uns geraten ist. Besonders, wenn eine Notlüge oder eine Schwindelei sichtlich niemandem schadet, sondern uns vor allem aus einer unangenehmen Situation retten würde, könnte man sie doch vertreten! Was ist schon dabei, wenn ich meine Verspätung auf einen Stau schiebe, anstelle zuzugeben, dass ich einfach zu spät von zuhause weggefahren bin? Wenn ich (unwahre) Entschuldigungen anführe, die niemanden stören, weil ich etwas vergessen habe? Wenn ich Unwohlsein vortäusche, weil ich etwas nicht machen möchte? Wenn ich andere Sündenböcke (er)finde, weil mir etwas misslungen oder kaputt gegangen ist?
Ich persönlich habe meinen Zweifel, dass solche Notlügen niemandem schaden - selbst, wenn kein anderer belastet wird, geht es um mich selbst. Auch wenn nur der Stau, die Technik oder das Wetter für irgendetwas die Schuld übernehmen müssen, erfüllen sie den Zweck, dass ich mich entziehe: der verdienten Rüge, dass andere schlecht von mir denken, einer Szene des Partners oder sonst einer Situation, die mir - begründet - unangenehm ist, die ich aber selbst zu verantworten habe. Dadurch, dass ich mich (weil es so einfach und angenehm ist, immer wieder) entziehe, glaube ich am Ende selbst, dass ich keinerlei Fehler gemacht habe. Hinzu kommt, dass es schwierig wird, die Grenze zu gewichtigeren Unwahrheiten zu ziehen.
Sehr beeindruckt hat mich der Umgang mit der Wahrheit des Klinikleiters Dr. Pfeiffer, in dessen Krankenhaus wenige Tage vor dem Ende seiner Verantwortlichkeit als medizinischer Vorstand ein Unglück geschah: drei Säuglinge starben wegen infizierter Infusionen - die Geschichte ging durch alle Medien. In »Chrismon« (März 2011) beschreibt er ausführlich, wie er als Verantwortlicher mit dieser furchtbaren Situation umging. Er hätte - zumal es am Wochenende passiert war - die Sache wenigstens einige Tage lang vertuschen können, um Zeit und damit Sicherheit für die Ursache gewinnen zu können. Stattdessen veranlasste er, dass zuerst die Eltern informiert wurden - sowohl die der drei verstorbenen Kinder als auch diejenigen, deren Kinder auf dieselbe Weise behandelt worden waren und somit auch in Lebensgefahr schwebten. Sie sollten von dem Unglück nicht aus der Presse erfahren. Ärzte und Krankenschwestern wurden aus ihrem freien Wochenende geholt, um die anderen Säuglinge zu retten; die Herstellerfirmen wurden informiert, damit nicht noch weitere Kinder gefährdet wurden. Dann informierte er selber den Staatsanwalt - die Polizei rückte zur Klärung eines Kapitalverbrechens an. Am gleichen Abend wurde eine Pressekonferenz gegeben, in der der Klinikchef die Möglichkeit einräumte, dass der folgenschwere Fehler in der Klinik passiert sein konnte - weil die Wahrscheinlichkeit, dass es beim Zusammenstellen der individuellen Infusionslösungen von Hand zu einer Infektion gekommen sein konnte, eins zu 50 Millionen war. Berichtet wurde: »Klinikleiter sieht die Schuld bei sich.« Was für Reaktionen - auch gegen ihn persönlich - es gegeben hat, kann man sich vorstellen. Trotzdem sagte er hinterher, dass er gut damit gefahren sei, zu jedem Zeitpunkt alles zu sagen, was er wusste und nichts unter den Teppich zu kehren - er stehe auf dem Standpunkt, dass die Wahrheit zumutbar sei (Zitat von Ingeborg Bachmann); für den, der sie sagen müsse - und für den, der sie hören müsse. Aber Mut erfordert eine solche Haltung. Schließlich stellte sich doch heraus, dass der fast unwahrscheinliche Fall eingetreten und eine Infektionslösung bereits verkeimt geliefert worden war. Trotz des furchtbaren Geschehens, dass drei Kinder gestorben waren, war das Vertrauen in die Klinik durch sein Verhalten gewachsen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass der Fall in den Medien außerordentlich schnell abgeschlossen war.
Warum ist es oft so schwer, bei der Wahrheit zu bleiben? Meistens geht es um die Konsequenzen, die zu tragen sind, wenn jemand die Verantwortung übernehmen muss. Aus der Politik ist uns das nur zu gut bekannt - Verantwortung übernehmen heißt meistens, dass jemand seinen Stuhl räumen muss, und oft genug sind es gerade nicht diejenigen, die direkt mit einer Sache zu tun hatten. Aber auch bei kleineren Fehlern fürchten wir nicht nur, dass uns durch Fehler u.U. Nachteile entstehen, unser Ansehen leidet.
Dabei kann jeder, der sich einen Fehler zuzugeben traut, sicher sein, dass diese Haltung Respekt hervorruft. Er setzt sich zuerst einmal (u.U. berechtigter) Kritik aus und muss diese aushalten; vielleicht ist sogar eine Entschuldigung angebracht oder notwendig. Das sind Situationen, die für niemanden angenehm sind - denn hier legen wir eine Schwäche offen, machen uns in unserem Selbstbewusstsein verwundbar. Und doch bringen gerade sie auch einen weiteren Gewinn: wenn schon ein Fehler, ein Missgeschick passiert ist, verändert eine Entschuldigung die Stimmung von Grund auf. Der andere hat nun die Wahl, eine Entschuldigung anzunehmen und "Gnade vor Recht" ergehen zu lassen. Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen den beiden Betroffenen, in der sich beide bewusst werden, dass jedem, der etwas tut, Fehler unterlaufen können und dass wir alle gut daran tun, großzügig mit - eingestandenen - Fehlern umzugehen.
Schwierig wird es dann, wenn diejenigen, die bei der Wahrheit bleiben, aus diesem Grund mit unverhältnismäßigen Reaktionen rechnen müssen. Das beschreibt sehr eindrucksvoll Katrin Rohde in ihrem Buch »Mama Tenga«, in dem sie von ihren Kinder-Projekten in Burkina Faso berichtet. Die Kinder waren in ihren Familien für die kleinsten Vergehen geprügelt worden und vermochten daher aus Angst nicht, auch kleine Fehler zuzugeben. Obwohl sie dazu übergegangen war, jedes Kind beim Eingestehen eines Fehlers zu loben und viele Gespräche über dieses Thema mit "ihren" Kindern führte, kam es immer wieder vor, dass die erste Reaktion angstvoll hieß: »Ich war's nicht!« Die Kinder brauchten viele Monate, um zu begreifen, dass sie hier nicht geschlagen wurden.
Wer bei der Wahrheit bleibt, ist glaubwürdig, ihm kann man vertrauen. »Denn all die leichthin formulierten Halbwahrheiten haben ihren Preis. Wer sich mit Ausreden aus einer misslichen Lage befreit, vertuscht damit nicht nur seine Fehler, sondern auch immer ein bisschen sich selbst. Er stiehlt sich nicht nur aus der Verantwortung, er stiehlt sich auch selbst die Verantwortung - und bringt sich damit um die eigenen Handlungsoptionen. »Wer nicht aufrichtig zu seinen Taten stehen kann, dem kommt mitunter der aufrechte Gang ganz abhanden«, heißt es in der Beschreibung zur aktuellen Fastenaktion »7 Wochen ohne - faule Ausreden«. Begleitend zur Aktion gibt es einen Fastenkalender mit Texten zu verschiedenen Themenblöcken, es gibt einen Internetauftritt und mehrere Blogs, in denen Redakteure von ihren Erfahrungen berichten, und Foren, in denen Fastende sich austauschen können.
Jeder von uns kennt wohl die zahlreichen Darstellungen, die auf dem Gebiet der Malerei das »Letzte Abendmahl« veranschaulichen, das Jesus mit seinen Jüngern feierte. Diese Bilder - und auch die biblischen Berichte, die darüber zu lesen sind - vermitteln den Eindruck, als ob es sich dabei um ein ganz besonderes Gemeinschaftsmahl des Jesuskreises gehandelt habe. Es ist jedoch nach allem, was die Bibelforschung erbracht hat, anzunehmen, dass Jesus von Nazareth die Tischgemeinschaft mit anderen während seiner öffentlichen Wirksamkeit ständig praktiziert hat. Dabei hat er bekanntlich die jüdische Tradition, dass man jeweils »nur mit Seinesgleichen« zusammensaß, damit durchbrochen, dass er keine Scheu hatte, auch mit den sozial Ausgegrenzten am Tisch zu sitzen und ein Mahl zu teilen.
Für ihn waren auch diese Ausgegrenzten zu Gottes Reich berufen, und das gemeinsame Mahl diente ihm als Zeichen dafür. Im Johannes-Evangelium weist Jesus (in 6,31-33) seine Zuhörer auf diese Bedeutung hin: »Unsere Vorfahren aßen das Manna in der Wüste. Aber ich versichere euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Das wahre Brot ist das, das vom Himmel herabsteigt und der Welt das Leben gibt.«
Dieser innere Zusammenhang zwischen Gottes Geist und menschlichem Leben wird an vielen Stellen in den Berichten der Evangelien deutlich, in denen von gemeinsamen Mahlzeiten die Rede ist. Ganz besonders tritt uns das in der Geschichte von der wundersamen Brotvermehrung entgegen, bei der 5 Brote und 2 Fische ausreichten, um eine große Menschenmenge zu sättigen. Und es blieben sogar noch Reste übrig, wie es heißt. Wichtig ist die Art und Weise, wie der Beginn dieser Mahlzeit geschildert wird: »Jesus nahm die Brote, sprach ein Dankgebet darüber, zerteilte sie und reichte sie den Anwesenden.«
Das Wunder dieser Brotvermehrung kann als Zeichen gedeutet werden, dass das Vertrauen der Menschen in Gottes liebende Zuwendung das ist, was uns innerlich stärkt und erhält und für unser Leben wichtig ist. Auch wir wissen aus eigener Lebenserfahrung, dass zu unserem Wohlbefinden nicht nur leibliche Nahrung gehört, sondern genauso das Gefühl der Geborgenheit, des Zuspruchs von anderen, der Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Auch durch diese Zeichen werden wir - bildlich gesprochen - gesättigt.
Ganz deutlich geht das ja auch aus dem hervor, was wir über die Vesperkirchen und -tafeln hören und lesen. Bei uns in Stuttgart ist gerade in der Leonhardskirche zum 17. Mal eine solche Vesperkirche veranstaltet worden, in der Bedürftigen eine Zuflucht gewährt wird, indem sie für einen Euro eine warme Mahlzeit und eine Möglichkeit erhalten, sich in einem geheizten Raum aufzuhalten. Und es wird ihnen nicht nur eine warme Mahlzeit geboten, sondern auch Sonstiges, was zu ihren Bedürfnissen zählt: sie können sich vom Pfarrer oder Mitarbeiter Rat und Hilfe in Alltagsfragen holen, sich die Haare schneiden lassen oder medizinische Hilfe erbitten.
Der große niederländische Maler Rembrandt hat in einem seiner Bilder das von Jesus praktizierte Gemeinschaftsmahl in einer nachösterlichen Szene dargestellt. Es beruht auf der Geschichte von den zwei Jüngern, die nach dem schmachvollen Tod ihres Herrn und Meisters am Kreuz auf dem Weg nach Emmaus waren, und wie sich ihnen auf dem Weg ein dritter hinzugesellte, der sie ausfragte, was sie denn in Jerusalem mit diesem Jesus erlebt hätten. Die Zwei unterhielten sich eine ganze Zeit lang mit dem Fremden und luden ihn dann noch zu einer Abendmahlzeit ins Gasthaus ein, da es schon dämmerte.
Auf dem Bild sehen wir, wie die drei miteinander am Tisch sitzen und vom Wirt bedient werden. Im Lukasevangelium lesen wir, was an dieser Szene das eigentlich Bedeutsame war. Es wird dort geschildert, wie der Fremde zu Beginn ihrer Mahlzeit das Brot nahm, dankte, es brach und den beiden anderen reichte - »... da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn«, nämlich ihren Herrn und Meister. Und in diesem Augenblick, als es wie Schuppen von ihren Augen fiel, war er verschwunden.
Wir denken bei dieser Stelle wahrscheinlich an die Brotvermehrungsgeschichte, als der Brauch des Brotbrechens und Dankens in derselben Weise geschildert wird, und auch an die letzte Mahlzeit von Jesus vor seiner Verhaftung, wo es ebenfalls heißt »... und er nahm das Brot, dankte, brach's und gab es ihnen«. Es ist dieses Brotbrechen ein tief inneres Bewusstwerden dessen, dass das Brot für die Menschen die Lebensgrundlage bedeutet, dass es uns von einer höheren Kraftquelle gegeben wird und dass wir aufgerufen sind, es mit anderen zu teilen. In jedem Jahr am Gründonnerstagabend versuchen wir in unserer Tempelgemeinde, in diesem Geist und Bewusstsein Brot zu brechen und es anderen zu reichen. Es ist ein Gemeinschaftsmahl, das vielen anderen gemeinschaftlichen Mahlzeiten in unserem Gemeindeleben Muster und Vorbild ist.
Muster und Vorbild für uns Heutige waren auch schon die Gemeinschaftsmahlzeiten früherer Generationen von Templern. 1874 - fünf Jahre nach Gründung der Kolonie Haifa - wurde dort ein Tempelfest gefeiert, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Speisung der 5.000 hatte, auch wenn die Zahl weit kleiner war und etwas mehr Brote zur Verfügung standen. Nach einer lebendigen Schilderung des großen Picknicks im Freien unter dem Schatten von Bäumen am Fuß des Karmelbergs heißt es in einem Bericht:
»Die Hauptsache des anschließenden Essens war, dass es ein Liebes- und Opfermahl war. Ein Opfermahl war dieses Essen, weil die Auslagen für die Speisung aus Stiftungen bestritten wurden, die von einigen Brüdern zu diesem Zweck als Dankopfer gegeben wurden; ein Liebesmahl war es, weil die Anwesenden als eine zusammengehörige Körperschaft von Einem Brote aßen und von Einem Weine tranken. Die höhere Bedeutung dieser Mahlzeit wurde allen fühlbar, als einer der Brüder den Antrag stellte, dass auch ein Teil der Speisen und des Weins in den Häusern der Kolonie verteilt werden möge, wo manche durch Krankheit verhindert seien, an dem Einigungsfest und Liebesmahl teilzunehmen. Die freudige Zustimmung der Festgäste zu diesem Vorschlag war geeignet, die geistige Bedeutung des Mahles zur Anschauung zu bringen.«
Am Schluss des Berichtes heißt es dann noch: »Mit gehobener Seele kehrte man abends in die Kolonie zurück mit dem Eindruck, dass man in der Einigkeit des Geistes einen Schritt vorwärts getan und Stillings Ermahnung zur Bruderliebe nicht fruchtlos gewesen war. Denn Bruderliebe ist die Gesinnung des Volkes Gottes.«
Predigt von Peter Lange in der Tempelgemeinde Stuttgart am 6. Februar (gekürzte Fassung)
Die Worte des Vaterunser, besonders in seiner ersten Hälfte, sind ihrem Wesen nach »Anrufungen«, die nicht nur eine Bedeutung haben, über die nachgedacht werden kann und die das Gemüt mit Ehrfurcht und Andacht füllen, sondern auch Worte, die wesenhaft wirken und selber im ursprünglichen Sinne des Wortes (Logos) Kraft in sich tragen. In der zweiten Hälfte des Vaterunsergebets geht die Anrufung mehr in ein Bitten über, mehr in die menschliche Sphäre.
Natürlich kann man die Worte »und führe uns nicht in Versuchung« durchaus in einen weltlichen Bezug setzen. Sind unsere Sinne in der heutigen Zeit doch permanent der Versuchung ausgesetzt. Sei es eine Zigarette (obwohl wir wissen, dass es unserer Gesundheit schadet), ein Stück Schokolade (auch wenn wir befürchten, dass es direkt auf den Hüften landet) oder dem Nachgeben des inneren Schweinehundes, wenn es um Sport geht. Werbung für Produkte, die wir nicht brauchen, aber unbedingt haben müssen, begegnet uns in Zeitschriften, Fernsehen und Radio. Wie soll man da nicht gelegentlich in Versuchung geraten? Ist es denn nicht auch nur allzu menschlich, gelegentlich einer Versuchung zu erliegen? Und ist das denn überhaupt von Bedeutung? Bin doch nur ich selber in den meisten Fällen derjenige, der unmittelbar oder langfristig die Konsequenzen zu tragen hat.
Ich bin sicher: von dieser Art von Versuchung hat Jesus nicht gesprochen. Worum wir uns viel mehr Sorgen machen sollten, ist die Frage, ob wir mit dem Erliegen einer Versuchung nicht auch anderen Schaden zufügen. Ein Versprechen, das gebrochen wird. Ein Mensch, der enttäuscht wird. Einer Versuchung zu widerstehen bedeutet immer, sich der Konsequenzen einer Handlung bewusst zu sein, innere Größe zu beweisen und an moralischen Werten festzuhalten.
Die an Gott gerichteten Worte »und führe uns nicht in Versuchung« klingen bei näherem Hinhören allerdings mehr als erschreckend. Gefällt uns doch die Vorstellung von einem gütigen, liebenden, beschützenden Gott. So heißt es auch bei Jakobus 1,13-14: »Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und er führt auch selbst niemanden in Versuchung. Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt.«
Kommen also Zweifel an der Aussage einer Botschaft auf, so sollte man sich auch immer vor Augen führen, dass der bekannte Wortlaut des Gebets nur die griechische Übersetzung von dem ist, was Jesus in seiner aramäischen Sprache verkündet hat. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich der eine oder andere Übersetzungs- oder Überlieferungsfehler eingeschlichen hat. So zeigt sich auch hier, dass das hebräische Wort für »Führen« auch zugleich »Kommen lassen« bedeuten kann. Die Zeile würde dann wie folgt lauten »Und lasse mich nicht in Versuchung kommen«, womit eine ganz andere Wertigkeit erreicht wird. Ist es somit doch der Mensch, der aktiv in Versuchung gerät, und nicht von Gott in eine solche gebracht wird. Im Rahmen der Vorbereitung zu diesem Jugendsaal habe ich gelesen, dass Ruth Lapide bei der französischen Bischofskonferenz nach jahrelanger Intervention erreicht hat, dass zumindest in Frankreich statt »und führe uns nicht in Versuchung« nun offiziell: »und lass uns der Versuchung nicht erliegen« gebetet wird. Wir im Familienkreis haben diesen Gebetsteil immer leicht abgewandelt zu »und führe uns in der Versuchung«. Denn wenn wir schon davon ausgehen wollen, dass Gott uns führt und leitet, so wäre es doch mehr als vermessen zu glauben, dass er uns aktiv in Versuchung führt. Sollten wir also nicht vielmehr bitten um seine Hilfe und Stütze in Zeiten der Versuchung und um seine Führung aus diesen Situationen heraus? Als Kind habe ich dieses Bild immer in Einklang gebracht mit der Vorstellung von Gott als dem »Guten Hirten«, der seine Schäfchen aus dem dunklen Tal zurück ins Licht führt.
Zudem muss bedacht werden, dass das Wort »Versuchung« nicht immer »zum Bösen versucht werden« bedeuten muss oder gar dem Erliegen einer weltlichen Sünde im geläufigen Sinne entspricht. Bei den Evangelisten wurde »versuchen« auch oft mit »auf die Probe stellen« gleichgesetzt. So kann man diesen Gebetsteil vielmehr als Bitte verstehen, nicht in eine Situation gebracht zu werden, die das Gottvertrauen auf die Probe stellt. Mit der Bitte »Stelle uns nicht auf die Probe« lehrt Jesus, alles, was uns bedroht und verängstigt, als »Proben« des Lebens anzusehen, sie ins Gebet mit aufzunehmen und an ihnen zu wachsen. Dabei dürfen wir aber nicht das Vertrauen in Gott verlieren, müssen wir uns doch darauf verlassen, dass er alles in seinem Sinne gestaltet und uns vor dem Bösen beschützt. Das ist oft mehr als schwer, wenn man sich in der Welt umschaut oder wenn man angesichts persönlicher Schicksalsschläge ins Zweifeln gerät. Man fragt sich, ob es einen »guten« Vater im Himmel überhaupt geben kann, der dabei zuschaut, wie seinen Geschöpfen so viel Schlimmes widerfährt. Aber genau da fängt Glaube an - er erfordert ein tiefes Urvertrauen in die Weisheit, Gerechtigkeit und Güte Gottes. Alles, worum wir bitten können, ist, dass er uns keine allzu schweren Prüfungen auferlegt und uns vor dem Bösen beschützt. So dass wir uns von ihm getragen fühlen können, was allerdings auch immer voraussetzt, dass wir uns vertrauensvoll in seine Hand begeben.
Dietrich Bonhoeffer findet dafür die Worte »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag«. Angesichts der Tatsache, dass dieses Lied in den letzten Stunden seines Lebens im Gefängnis entstand, gewinnt die Tiefe seines Gottvertrauens umso mehr an Bedeutung.
Erfahrenes Unrecht reizt zum Zorn, ja möglicherweise zum Hass und damit zum Bösen. Böses, das uns begegnet, droht uns selbst böse zu machen. Wir bitten im Vaterunser, dass wir dieser Versuchung nicht anheim fallen; es geht vor allem auch um das mögliche Böse in uns selbst, wenn die achte und letzte Bitte lautet: »Erlöse uns von dem Bösen!« Indem uns die Bereitschaft und Fähigkeit gegeben wird, anderen Schuld zu vergeben, geraten wir nicht in die Versuchung, selbst böse zu werden. Der Gerechte aber, der Aufrechnende und Vergeltende, der nicht zur Vergebung Bereite, droht besonders dem Bösen anheim zu fallen.
Ulrich von Hasselbach in: »Der Mensch Jesus-Leitbild für das dritte Jahrtausend«
Das ist das neunte der zehn Gebote, und wahrscheinlich hat sich mancher schon wie ich gewundert über die umständliche Formulierung, die sich deutlich abhebt gegen die lapidaren Sätze der anderen Gebote: du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen usw. Warum nicht einfach: Du sollst nicht lügen?
Das hat einen einfachen Grund. Der Dekalog (die zehn Gebote) war, wie die Thora, zu der er gehört - und wie auch der Koran -, Gesetzbuch, das das gesamte Leben regelte, eine Trennung zwischen weltlicher und religiöser Sphäre gab es nicht. Mord, Ehebruch usw. waren eindeutige, juristisch fassbare Sachverhalte, - oft wird die Strafe genannt, die auf den Verstoß stand. Für die »private« Lüge galt das nicht, sie blieb außer Betracht.
Bei Jesus heißt es zwar lapidar »Eure Rede sei: "Ja, ja; nein, nein". Was darüber ist, das ist vom Übel.« (Matth. 5, 37, Bergpredigt). Aber das richtet sich eindeutig gegen den Eid, bei dem Gott zum Erfüllungsgehilfen für das Versprechen gemacht werden soll. Wir lesen das meist als eine Mahnung gegen die Zweideutigkeiten, Vorbehalte, Einschränkungen, die oft hinter unseren Worten liegen. Aber es scheint nur zumindest zweifelhaft, ob es so gemeint ist. Ein eindeutiges Verbot: »Du sollst nicht lügen« ist es wohl nicht.
Ein solches eindeutiges, allgemeines Verbot gibt es im AT nur einmal und auch im NT nur einmal, im Jakobus-Brief in einer Reihe von Ermahnungen an die Gemeinde: »und lügt nicht wider die Wahrheit« (3, 14), und einmal bei Paulus: »Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind« (Eph. 4, 25). Es ist immer wieder von der Lüge die Rede: die Sprecher - Propheten, Apostel - betonen, dass sie selbst nicht lügen, dass Gott nicht lügt, oder sie werfen ihren Gegnern vor, dass sie lügen. Aber es gibt sonst kein generelles Verbot.
Hat das etwas zu bedeuten? Was Jesus selbst betrifft: er arbeitet nur ganz selten mit Verboten. Er setzt sehr wohl Maßstäbe, Höchst-Maßstäbe, aber er setzt sie mit Anforderungen - »darum sollt ihr vollkommen sein«. Das entspricht der modernen psychologischen Erkenntnis, dass es viel effektiver ist, das Gute im anderen zu verstärken, als zu versuchen, mit Verboten das Böse zu unterdrücken. Und: er stellt diese Anforderungen meist nicht in Regeln, sondern in Bildern – Bilder, die die Hörer selbst deuten und auf ihr Leben anwenden sollen. Es geht ihm nicht um Regeln, sondern um die geistige Haltung dahinter.
Bei den Aposteln gibt es über ganze Kapitel Ermahnungen, was die Gemeindeglieder tun und was sie lassen sollten. Wenn man eine neue Art von Gemeinschaft aufbauen will, braucht man solche Regeln. Aber auch bei ihnen spielt das Lügen kaum eine Rolle. Vielleicht war einfach Anderes wichtiger.
Vielleicht steht aber auch die Erfahrung dahinter, dass Lügen ein vielschichtigerer Tatbestand ist als Diebstahl oder Mord. Einerseits kann man oft »lügen«, ohne dass man ein einziges unwahres Wort sagt. Der Bankbeamte, der die Vorteile einer Geldanlage erklärt, ohne dazu zu sagen, dass eine jährliche Rendite von 10% ohne Risiko nicht zu haben ist, ist ein gängiges Beispiel. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist der umgekehrte Fall, dass eine Lüge barmherziger sein kann als die Wahrheit. In einem gewalttätigen Unrechtsstaat muss man pausenlos lügen, um sich und andere nicht ins Verderben zu stürzen. Es gilt aber manchmal auch im persönlichen Umgang. Ein Beispiel aus der Schule: es ist unvermeidlich, dass einem Lehrer von 30 Schülern einige sympathischer sind als andere. Das darf man sich nicht anmerken lassen, und wenn ein Kind danach fragen sollte, müsste man lügen. Man darf einem Kind, das verunsichert ist - sonst würde es ja nicht fragen -, nicht die brutale Bestätigung geben, dass es weniger geliebt, weniger wert sei als die anderen.
Aber auch zwischen Erwachsenen kann es Situationen geben, wo man sich zumindest fragen muss, ob nicht eine Lüge barmherziger ist. Neulich kam in der Zeitung ein Bericht darüber, dass auf dem Land, wo inzwischen immer mehr Ärzte fehlen, ein Notruf nicht an den Haus- oder den Bereitschaftsarzt geht, sondern an eine Zentrale, die einen Rettungshubschrauber schickt, mit einem Arzt und dem Piloten als geschulten Helfer. Ein Fall wurde geschildert: eine knapp 90jährige, die Diabetes hatte und Herzinsuffizienz, dazu noch einige andere Leiden und seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war. Sie war bewusstlos und litt unter Atemnot. Die Tochter sagte zu den Helfern: »Sie hat sich gewünscht, friedlich zuhause sterben zu dürfen.« Was anklingt, aber nicht gesagt wird: das wäre in diesem Moment unmöglich gewesen. Aber dann hätten alle drei für den späteren Bericht lügen müssen, um nicht wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden.
Das ist ein Extrembeispiel. Ein anderes, das im Alltag sicher viele schon erlebt haben: eine Situation, in der man das Gefühl hat, dass es besser ist, über einen Punkt, der den anderen verletzen könnte, zwar nicht direkt zu lügen, aber zu schweigen - obwohl auch das eine Form von Lüge ist. Man sollte mitbedenken, was die Wahrheit - meine Wahrheit - für den anderen bedeuten kann. Manchmal ist die Liebe wichtiger als die Wahrheit. Manchmal nicht. Manchmal ist eine Wahrheit, die im Moment weh tut, besser - sie schafft Offenheit. Und manchmal ist es schwer zu erkennen, was in einer gegebenen Situation besser ist.
Die Beispiele zeigen: Wahrheit ist wichtig, aber noch wichtiger ist die Liebe, das Mit-Bedenken dessen, was die Wahrheit für den anderen bedeuten kann.