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Bei der letztjährigen Tagung des Bundes für Freies Christentum zum Thema »Gott im Werden der Welt« hielt Professor Dr. Werner Zager, der Präsident dieser Vereinigung, am 26. September 2010 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain eine vielbeachtete Predigt, die wir nachstehend für unsere Leser in einem Ausschnitt wiedergeben.
Durch das meist Sonntag für Sonntag im kirchlichen Gottesdienst gesprochene sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis kann leicht der Eindruck entstehen, als sei der Glaube das Fürwahrhalten von unveränderlichen Satzwahrheiten, als sei der christliche Glaube eine feste Größe, die keinen Wandlungen unterliegt.
Wer sich aber mit der zwei Jahrtausende umspannenden Kirchen- und Theologiegeschichte beschäftigt, wird beobachten, dass die Glaubensvorstellungen sich immer wieder gewandelt haben. Dabei handelt es sich nicht um einen geradlinigen Prozess. Vielmehr sind wegweisenden Aufbrüchen - wie etwa in der Reformation oder im Zeitalter der Aufklärung - auch immer wieder Rückschritte hin zu bereits überholt scheinenden Glaubensweisen gefolgt.
Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörte es fast zu den Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaft, dass man an Gott glaubte - und zwar an eine die Welt erschaffende und regierende »Person« Gottes. Und dies obwohl seit mehr als 200 Jahren immer wieder Wellen der Infragestellung Gottes durch die westeuropäische Kultur gegangen waren. Denken wir nur an Ludwig Feuerbach, der den Gottesglauben meinte als menschliche Projektion abtun zu können, oder an Friedrich Nietzsche, der den Tod Gottes proklamierte.
Seit geraumer Zeit ist allerdings eine Umformung des religiösen Bewusstseins zu beobachten. Denn in weiten Kreisen - und zwar sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kirche - setzt sich die Überzeugung durch, dass es eine höchste existierende Persönlichkeit, die in ihrer Allmacht die Welt erschaffen hat und in ihrer Vorsehung regiert, so gar nicht gibt.
Diese Entwicklung stimmt mit dem überein, was Dietrich Bonhoeffer bereits vorwegnahm, als er schrieb: »Einen Gott, den "es gibt", gibt es nicht.« Dabei steht Bonhoeffers Satz durchaus im Einklang mit dem, was man auch in jedem guten dogmatischen Lehrbuch lesen kann: Den menschlichen »Person«-Begriff dürfen wir nicht ohne Weiteres auf Gott übertragen. Wir können nämlich nur »symbolisch« oder in gleichnishafter Sprache von einem »persönlichen« Gott reden.
Jedoch wird diese Einsicht kaum umgesetzt. In Theologie und Kirche tut man meist so, als wenn da ein allmächtiges, in die Geschichte, in das Geschick des einzelnen Menschen eingreifendes höchstes Wesen wäre. Dies ist natürlich leicht nachvollziehbar, bedeutete es doch ein radikales Umdenken, was unser Denken und Reden von Gott, unser Glauben und unsere Frömmigkeitspraxis betrifft.
Und doch ist ein solches Umdenken notwendig. Und zwar ist dies notwendig, wenn wir mit Herz und Verstand Christen sein wollen, weshalb unser Gottesverständnis mit den Einsichten der Naturwissenschaft vereinbar sein muss. Oder um mit dem Physiker Jürgen Schnakenberg zu sprechen: »Ein Gottesbild, das die Vorstellung eines von außen auf unsere Welt einwirkenden Gottes enthält, ist mit dem Wechselwirkungsprinzip, also mit einer elementaren und empirisch zweifelsfrei begründeten physikalischen Aussage unvereinbar. Wer dennoch ein solches, traditionelles Gottesbild zu einem integralen Bestandteil des christlichen Glaubens erklärt, nötigt damit die ohnehin kleine Minderheit von Naturwissenschaftlern, die sich überhaupt noch zu einem christlichen Glauben bekennen, ihren Glauben aufzugeben oder ihr Bewusstsein in einen christlichen und einen wissenschaftlichen Teil zu spalten oder gar eine elementare Aussage ihrer eigenen Wissenschaft nicht mehr ernst zu nehmen.«
Also Gott ist weder eine Person, wie ein Mensch eine Person ist, noch ist er ein Über-Mensch, der mit übermenschlicher Kraft ausgestattet in die größeren und kleineren Konflikte auf dieser Erde eingreift und alles zum Guten wendet. Vielmehr übersteigt er den Personbegriff: Gott ist mehr als Person. Gerade weil wir Gott nicht begreifen, über ihn verfügen oder manipulieren können, ist er auch nicht weniger als Person. Er ist kein Ding unter Dingen, keine Sache unter Sachen. Ist er doch derjenige, der das Werden von Personhaftem ermöglicht. Wir können mir Hans Küng sagen: Gott ist »transpersonal«, »überpersönlich«. Freilich irrten wir uns, wenn wir meinten, damit Gott begriffen zu haben. Gott ist der ganz Andere, der jedes Denkschema sprengt, und doch - um mit dem Kirchenvater Augustin zu sprechen - »mir innerlicher als mein Innerstes«.
Dass wir uns von einem von außen in den Weltlauf eingreifenden Gott verabschieden müssen, führt somit nicht zur Aufgabe des Gottesglaubens, sondern zu dessen Vertiefung. Ulrich Beuttler hat es einmal so formuliert: Gott »wirkt nicht von außen, sondern im Innern der Welt. Die jeweils neue Gegenwart ist der Ort, an dem das Weltgeschehen, die Zeit und die Naturordnung aus Gott fortgeschrieben, gestaltet und erneuert wird.«
Oder wir können auch mit Johann Wolfgang von Goethe sagen: »Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, / Im Kreis das All am Finger laufen ließe! / Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, / Natur in sich, sich in Natur zu hegen. / So dass, was in Ihm lebt und webt und ist, / Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst. / Im Innern ist ein Universum auch; / Daher der Völker löblicher Gebrauch, / Dass jeglicher das Beste, was er kennt, / Er Gott, ja, seinen Gott benennt, / Ihm Himmel und Erden übergibt, / Ihn fürchtet und wo möglich liebt«. (Goethe: Gott und Welt)
Verstehen wir so Gottes Wirken in unserer Welt, ist es offenbar möglich, christlichen Gottesglauben und heutige naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander zu verbinden.
Gewiss mögen sich die physikalischen Weltmodelle weiterhin verändern. Aber das heißt gerade, dass wir als Christen uns kundig machen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die zeitgenössische Naturwissenschaft die Entstehung und Entwicklung des Kosmos vorstellt. Von Anfang an haben Menschen ihren Glauben an den Schöpfergott im Rahmen der jeweils in Geltung stehenden Weltanschauungen zur Sprache gebracht. Dieser Glaube trägt aber nur dann, wenn er sich mit Welterfahrung und Welterkenntnis vermitteln lässt.
An einen Schöpfer der Welt zu glauben, heißt zu vertrauen, »dass Welt und Mensch nicht im letzten Woher unerklärlich bleiben. Dass Welt und Mensch nicht sinnlos aus dem Nichts ins Nichts geworfen sind. Dass sie trotz allem Sinnlosen und Wertlosen als Ganzes sinnvoll und wertvoll sind, nicht Chaos, sondern Kosmos: weil sie in Gott, ihrem Urgrund, Urheber, Schöpfer, ihre erste und letzte Geborgenheit haben« (Hans Küng).
Werner Zager, übernommen aus: »Freies Christentum«, Heft 6, 2010
Es wird immer wieder von Außenstehenden die Frage an uns Templer gestellt, was denn das »Besondere« in unserer christlichen Glaubenssicht sei. Und auch wir selber fragen uns vielleicht ab und zu, welches Christentum wir denn in unserer Gemeinschaft vertreten. Ganz besonderen Anlass für dieses Hinterfragen gibt uns das beginnende Jubiläums-Jahr der 150. Wiederkehr der Tempelgründung.
Die öffentliche Ankündigung der Hundertjahrfeier der Tempelgesellschaft 1961 hatte unser damaliger Gebietsleiter Jon Hoffmann unter das Schlagwort »Neuzeitliches Christentum« gestellt. Er schrieb im Juli in der »Warte«, dass er das mit voller Absicht getan und damit den scheinbaren Gegensatz von »neuzeitlich« und »100 Jahre alt« herausgestellt hätte. Die Botschaft Jesu sei ja überdies nicht nur 100, sondern 1900 Jahre alt. Doch diese Botschaft Jesu sei alles andere als »alt«, denn sie würde zeitlos den Grundton des menschlichen Wesens anschlagen.
Als wir in der Zeit nach dem Bau unseres Gemeindehauses in Degerloch der Umgebung Aufschluss über die Ausrichtung unserer Gemeinde geben wollten, wählten wir die Benennung »freie christliche Gemeinschaft«. Jon Hoffmann bemerkte dazu im Mai 1970 in der »Warte«, dass wir damit nicht »ein Christentum mit Freiheit« meinten, das heißt mit Unverbindlichkeit in so und so vielen Stücken, sondern ein möglichst hundertprozentiges Christentum, das eben darum eine hundertprozentige Freiheit gegenüber allen Götzen der Tradition und der Vorurteile in sich schließe. Das Wesen der Tempelgesellschaft sei nicht bindungslose Freiheit - so wenig wie für den Protestantismus als Gesamterscheinung -, sondern die Bindung an Jesus und seine Liebesethik und nicht an andere »Götter«, an andere Ideale oder Höchstwerte.
1976 ist die TGD dann dem Bund für Freies Christentum beigetreten und hat damit zum Ausdruck gebracht, dass sie sich mit ihm gegen jede Einseitigkeit und Festlegung, Verengung und Verflachung des christlichen Glaubens wende. Dr. Hans Pribnow hatte diese Freiheit in der Zeitschrift »Freies Christentum« 1950 schon wie folgt gekennzeichnet: »Die Erfahrung zeigt, dass wir "Freiheit" zuerst immer und oft genug ausschließlich verstehen wollen in der Sicht: Freiheit wovon? Die rechte Sicht ist aber: Freiheit wozu? Gewiss, zuerst befreit die Freiheit von etwas; aber das ist nur ihr Mittel, um uns zu etwas, für etwas frei zu bekommen. Die Freiheit befreit uns vom Dünkel zur Demut, vom Dogmatismus zur Wahrheitssuche, von der Selbstsucht zur Liebe, von der Welt zu Gottes Reich.«
Das Adjektiv »frei« oder »liberal« wurde in der Vergangenheit im öffentlichen Leben so vielfältig und in so vielen verschiedenartigen Bedeutungen verwendet, dass sein innerer Gehalt im Bezug auf das Christentum immer undeutlicher wurde. Deshalb suchte man in den Reihen des Bundes für Freies Christentum immer auch nach Alternativen. Es wurden Bezeichnungen wie »undogmatisches« oder »offenes« Christentum vorgeschlagen. Der Untertitel der »Warte« - »Monatsschrift für offenes Christentum« - ist aus diesen Überlegungen heraus entstanden.
In letzter Zeit ist mir nun eine weitere Alternative ins Blickfeld getreten, die mir bis dahin noch nicht bekannt war: progressives Christentum. Diese Terminologie wird hauptsächlich in USA, Kanada und Australien für eine freie und undogmatische Glaubensausrichtung gebraucht, vor allem dort, wo es Zentren und Netzwerke für »Progressive Christianity« gibt. Der Begriff »progressive« könnte von uns wahrscheinlich eher mit »fortschreitend« (fortschreitend in der Entwicklung, in der Erkenntnis) als mit »fortschrittlich« übersetzt werden.
In einem Basisdokument des »Centre for Progressive Christianity TCPC« heißt es zum Beispiel: »Wir nennen uns progressive Christen - weil wir einen Zugang zu Gott im Leben und der Lehre Jesu gefunden haben, - weil wir den Glauben anderer Menschen respektieren, die andere Bezeichnungen für den Weg zum Reich Gottes haben und weil wir anerkennen, dass dieser Weg für sie wahr ist, so wie unser Weg für uns wahr ist, - weil wir reichere Gnade finden in der Suche nach Erkenntnis als in einer dogmatischen Gewissheit, höhere Werte in den Fragestellungen als im absoluten Wissen.«
Ich denke, dass es wichtig ist, dass wir uns nicht auf Kennzeichnungen festlegen, sondern zu ergründen suchen, wie Nachfolge Jesu unter den jeweiligen Zeitumständen aussehen und beschrieben werden könnte. Dazu hat unser Gemeindeleiter Jörg Klingbeil in seiner Dankfest-Ansprache im Oktober ein wertvolles Beispiel gebracht, als er die Theologie des Tempels als »radikal«, als auf die Wurzeln (radix) des Christentums zurückgreifend bezeichnete. Das heißt nicht, wieder ein Leben wie die Urgemeinde zu führen, sondern den vertrauensvollen Glauben des Rabbi Jesus an Gott für unser heutiges Leben zu finden.
Vielleicht habe ich mir hier ein wenig zu viel Gedanken über eine passende Wortwahl für unsere Gemeinde gemacht. Vielleicht kommt es weniger darauf an, wie wir unser Christentum nennen - ob frei, undogmatisch, offen, neuzeitlich, progressiv oder radikal -, als darauf, dass wir nach unserem Glauben leben und unsere Mitmenschen entscheiden lassen, wie sie uns einordnen. Wenn es uns wirklich ernst ist mit unserem christlichen Glauben, dann wird der Name und die Bezeichnung von zweitrangiger Bedeutung sein. In erster Linie werden wir doch daran gemessen an dem, was wir sind und wie die Früchte unseres Denkens und Handelns aussehen.
Bereits im letzten Heft hatten wir damit begonnen, die Texte der Teilnehmer des Jugendsaals zu veröffentlichen. Als Thema hatten sie das Vaterunser gewählt und nach und nach, nicht unbedingt in der chronologischen Reihe der Vaterunser-Bitten, sollen die Texte in der »Warte« erscheinen.
Im Zusammenhang damit stehen jeweils neue Interpretationen des Vaterunsers.
Keiner will es sein! Wir alle sind es! Das Schlimmste ist, wir sind es so lange, bis sich jemand unser erbarmt. SCHULDIG! Wir machen uns am laufenden Band schuldig.
Sogar mittellos und in einem leeren Raum können wir schuldig werden, die größte Schuld ist die vor uns selbst. Denn wem können wir vertrauen, wenn wir uns nicht einmal selbst trauen? Wie soll jemand Vertrauen in uns finden, wenn wir das nicht einmal selbst schaffen! Finden wir kein Vertrauen in uns selbst, findet das auch kein anderer. Und ohne Vertrauen keine Vergebung, denn vergeben kann nur, wer liebt und eine lieblose Welt ist jene ohne Vertrauen. Dass uns Sünden und Schuld vergeben werden, die kein Mensch vergeben kann, müssen wir vertrauen in Gott und sein Reich. Um einen Menschen seelisch am Leben zu erhalten, muss er wissen, dass ihm immer vergeben werden kann. Das Vergeben von Schuld ist das, was über Glück und Unglück, über Liebe und Hass und über Vertrauen und Misstrauen entscheidet. Wir machen uns überwiegend schuldig vor uns selbst und daher vergeben wir uns selbst am häufigsten. Wir sind schon schuldig, wenn wir uns etwas vornehmen, es aber doch nicht tun. Lassen Sie uns etwas konsequenter sein, um uns selbst zu schützen, um uns nicht unnötig zu belasten. Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein, bevor wir anderen helfen können. Und wenn wir anderen helfen können, wenn man selbst mit sich im Reinen ist, hat man einen unschätzbaren Wert für die Gesellschaft. Was wir säen, werden wir ernten und was wir dann ernten werden, ist Vertrauen, Liebe, Respekt, Verblüffung, Dankbarkeit. Sind das nicht wundervolle Aussichten? Aber bevor es soweit ist, müssen wir wissen, wie man vergibt.
»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Wir vergeben im selben Ausmaß, in dem wir lieben. Also vergeben wir, wenn wir lieben, unseren Nächsten und Verwandten. Wir vergeben aber auch nur so viel wie wir lieben. Das heißt, wir lieben mehr, je weniger wir vergeben müssen. Es gibt aber auch Fälle, in denen haben Menschen mehr vergeben als sie liebten. Das nennt man Vertrauen. Vor und nach jeder Liebe steht Vertrauen. In der Bibel wird das Vaterunser als Lehre eingeführt, aber gerade in Vers 7 und 8 ist das Vaterunser eine Aufforderung an Gott. Wir bitten Gott mit gutem Beispiel voran zu gehen. Wir erwarten, dass er uns zeigt, wie man vergibt und dass er uns zeigt, ihm zu vertrauen. Im Matthäus-Evangelium wird erzählt, wie Jesus einen Gelähmten mit den einfachen Worten »Deine Schuld ist dir vergeben« heilte. Jesus hatte ihn, den Gelähmten, geheilt, da er sah, wie viel Vertrauen der Gelähmte in ihn hatte. Diese Heilungsgeschichte von Jesus und dem Gelähmten soll uns zeigen, wie wichtig Vertrauen und Vergebung sind. Und wie eng diese beiden Komponenten zusammenhängen. Ohne Vertrauen keine Liebe und ohne Liebe keine Vergebung. In einer Welt, in der vergeben werden muss, ist Liebe das Wichtigste was wir haben. Stolz hindert das Vergeben, und wer nicht vergibt, schürt Hass. Vergeben wir nun alle einmal mehr einem Menschen, um Liebe zu geben und Hass zu besiegen. Vergeben wir alle einmal mehr einem Menschen, um Brücken zu bauen und zu stärken. Brücken der Liebe.
Deshalb wollen wir jetzt gemeinsam das Lied Nr. 162 »Herr gib mir Kraft zum Brücken bauen« singen.
Unser Vater im Himmel!
Groß ist dein Name und heilig.
Dein Reich kommt,
wenn dein Wille geschieht,
auch auf Erden.
Gib uns das, was wir brauchen.
Vergib uns, wenn wir Böses tun
und Gutes unterlassen.
So wie auch wir denen verzeihen wollen, die an uns schuldig geworden sind.
Und mache uns frei, wenn es Zeit ist,
von den Übeln dieser Welt.
Neuinterpretation von Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags
Was ist eigentlich ein »Team«? Wir könnten im Deutschen »Arbeitsgruppe« dafür sagen – das würden wir dann vermutlich mit einem Forschungsbetrieb oder Wirtschaftsunternehmen in Verbindung bringen. Wie wäre es mit »Mannschaft«? Das wiederum klingt sehr nach Sport, nach Männerklub ohne weibliche Beteiligung. Oder wie wäre es mit »Gemeinschaft«? Nein, das wäre lediglich die innere Qualität, die ein Team verbindet. Dieser in unserer Gegenwart so häufig gebrauchte Begriff hat im Deutschen, der Sprache der Dichter und Denker, offensichtlich keine direkte Entsprechung. Deshalb gibt es auch für »Team-Arbeit« keinen Begriff, der ihm inhaltlich gleichkommen würde. Mit der Frage, was Team-Arbeit ist und bedeutet, hat sich vor Kurzem Christine Ruff von der TSA in einem Familien-Gottesdienst auseinander gesetzt. Wir übernehmen nachstehend Teile ihrer Ausführungen, die vor allem an jüngere Zuhörer gerichtet waren, aber natürlich allen Altersstufen galten.
Wie können wir »Team-Arbeit« definieren? Vielleicht so: Als ein Zusammenschluss Einzelner zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Oder so: als die Kooperation einer Gruppe zu einem gemeinsamen Zweck. Oder auch so: die Zusammenarbeit von Menschen für ein gemeinsames Ziel, die sich von anderen Arten von Gruppenarbeit abhebt.
Ist es nicht bemerkenswert, dass in jeder dieser Definitionen das Wörtchen »gemeinsam« vorkommt? Wie äußert sich denn Team-Arbeit? Vielleicht in den folgenden Feststellungen?
In einem erfolgreichen Team muss jeder Einzelne zuhören können.
In einem erfolgreichen Team muss der Einzelne opferbereit sein. Opferbereit sein kann heißen, etwas aufzugeben, auf etwas zu verzichten, das einem viel bedeutet. Vielleicht auch, eine besondere Idee aufzugeben, die man selbst hatte, und das zu tun, was ein anderer vorschlägt.
Ein erfolgreiches Team bedeutet, miteinander zu teilen. Was zu teilen? Die Arbeit, das Handwerkszeug, die Vorräte, den Erfolg, das Misslingen. Einfach alles.
Erfolgreiche Team-Mitglieder verständigen sich untereinander. Sie sprechen miteinander. Sie wissen, was jeder andere tut und warum er es tut.
Es gibt in der Bibel im ersten Buch Mose die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Sie wird häufig herangezogen, um zu veranschaulichen, wie Menschen versagen können, wenn sie überheblich werden und die wirklich wichtigen Dinge im Leben aus den Augen verlieren. Die Geschichte kann aber auch etwas über Team-Arbeit aussagen:
Die Geschichte erzählt, wie die Menschen in Urzeiten einen riesigen Turm bauen wollten, der bis zum Himmel reichte, den höchsten, den es jemals gab und der sie berühmt machen würde. Zu keinem anderen Zweck. Der Turm wuchs auch bald zu gewaltiger Höhe an. Doch dann wird beschrieben, wie Gott, als die Menschen ihm zu ehrgeizig und selbstsüchtig wurden, ihre Sprache verwirrte. Jeder redete daraufhin in einer anderen Sprache. Keiner verstand mehr den anderen.
Was geschah nun? Es gab keine klaren Anweisungen mehr, die Verständigung untereinander wurde fehlerhaft, niemand wusste mehr, was der andere tat oder warum. Das Ergebnis war katastrophal. Der Turm blieb unvollendet und wurde allmählich zu einer zerbröckelnden Ruine.
In einem erfolgreichen Team sprechen die Einzelnen nicht nur dieselbe Sprache und verstehen einander, sie sprechen auch in einer positiv ausgerichteten Sprache, in der es zum Beispiel viel Ermutigung und Ansporn gibt.
Erfolgreiche Team-Mitglieder arbeiten hart. Sie sind bereit, ihren ganzen Einsatz zu geben.
In einem Team ist der Einzelne bereit, auch andere für das Beste des Ganzen, für das gemeinsame Ziel zu motivieren.
Erfolgreiche Team-Arbeit kann in den verschiedensten Bereichen gelingen, auf dem Gebiet des Sports, in der Musik, im Geschäftsleben, in der Familie, in den Kirchen und natürlich auch in der Tempelgesellschaft. Warum kann die Tempelgesellschaft als ein Beispiel für erfolgreiche Team-Arbeit dienen?
In der Tempelgesellschaft sind wir nicht nur eine oft eng miteinander verwandte große Familie, sondern auch ein Team. Unsere Vorväter arbeiteten hart zusammen, oft unter sehr schwierigen Bedingungen, um ihre Gemeinden aufzubauen und sich als eine freie christliche Gemeinschaft zu formieren. Sie stellten ein gutes Team dar. Und ich möchte sagen, dass wir uns auch heute noch als Team verstehen.
Unser Leitspruch und unser Ziel zeigen uns unsere Aufgabe und unsere Richtung an. Wir wissen, wohin wir gehen wollen. Wir alle streben als Einzelne nach diesem Ziel, doch wir wissen, dass wir es als Gemeinschaft wirksamer tun können. Wir sind gleichgesinnte Menschen. Wir können immer noch die bleiben, die wir sind, aber wir erkennen den Wert einer Team-Arbeit. TEAM wird im Englischen so buchstabiert:
»Together Everyone Achieves More«. Wir hören aufeinander, wir sind opferbereit, wenn es nötig ist, wir teilen miteinander, wir verständigen uns, wir versuchen positiv-gestimmt zu bleiben, wir arbeiten hart und wir geben unser Bestes für das Team, zu gemeinsamem Wohl und Nutzen.
Ein unbekannter Autor sagte einmal: »Ungeachtet unserer Unterschiede arbeiten wir Schulter an Schulter. Team-Arbeit kann in vier kurzen Wörtern ausgedrückt werden: Wir - haben - Vertrauen - zueinander.«
Christine Ruff, in gekürzter Fassung dem »Templer Record« Oktober 2010 entnommen, übersetzt von Peter Lange
Nachbemerkung:
Christine Ruff brachte in ihrem Familien-Gottesdienst als Anschauungsbeispiel noch das Team-Verhalten der Wildgänse bei ihrem Formationsflug zur Sprache.
Ich möchte ein weiteres, noch viel überzeugenderes Beispiel aus der Natur nennen: die Ameisen-Staaten. Eine kürzliche Fernsehdokumentation über diese Kleinlebewesen, die zur Nahrungsbeschaffung, zum »Hausbau«, zur Brutpflege und zur Verteidigung alle Grundprinzipien der Team-Arbeit beherrschen und die als Super-Organismus weit mehr erreichen können als der Einzelne allein. Für sie gilt der Satz: Gemeinsam sind sie stark, allein sind sie nichts.
Im Vergleich dazu ist der Mensch mit individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet, ist aber trotzdem ein geselliges Wesen, das im Team zu besonderen Leistungen gelangen kann.
Als aber einer das hörte, der mit zu Tisch saß, sprach er zu Jesus: Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes. Er aber sprach zu ihm: Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles bereit. Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen. Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird. (Lukas 14, 15-24)
Wir verstehen unmittelbar, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen will: Der Gastgeber, das ist offenbar Gott. Einige Gäste, die von ihm eingeladen sind, haben nun - wie wir es ausdrücken würden - andere Prioritäten. Uns mögen die harsche Reaktion des Gastgebers als etwas übertrieben und die Ausreden der Gäste als teilweise nachvollziehbar erscheinen, aber man muss sich zunächst die damaligen Gepflogenheiten vor Augen führen: Die Gäste wurden Wochen vorher eingeladen, wobei natürlich ihre Zusage eingeholt wurde. Dennoch war es als ein Zeichen der Hochachtung üblich, zur vereinbarten Stunde noch einen Knecht zu schicken, um die Gäste von zu Hause abzuholen. Sich jetzt noch der Einladung zu entziehen, kam einer unerhörten Brüskierung des Gastgebers gleich. Dass es in dem Gleichnis um mehr als eine gewöhnliche Einladung zum Abendessen geht, wird in dem Ausspruch des Gastes am Anfang deutlich: »Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes,« sagt dieser zu Jesus. Der Begriff »Brot« steht dabei für die Mahlzeit als Ganzes und das »Festmahl« oder »große Abendmahl« soll offenbar als Symbol für die Erfüllung allen Lebens im Reich Gottes angesehen werden. So gesehen, stellt die Einladung des Gastgebers das Ultimatum Gottes an die Menschen dar, alle diesseitigen und mehr oder weniger vordergründigen Geschäfte hintenan zu stellen und am Reich Gottes mitzuwirken. Offenbar soll es ein zweites Angebot, eine zweite Chance nicht geben, denn der Schlusssatz, auf den das Gleichnis hinausläuft, macht unmissverständlich klar: Denn ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird. Soll heißen, dass jeder, der die Einladung ausschlägt, nicht in das Reich Gottes hereingelassen wird, sondern draußen vor der Tür bleiben und mit ansehen muss, wie andere, die Armen, Entrechteten und Behinderten, daran teilhaben. Die Kompromisslosigkeit des Gastgebers fällt auf, ja stößt ab, vor allem im Vergleich zum kurz darauf folgenden Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dort tritt eine andere Botschaft in den Vordergrund, welche lautet: Für eine Umkehr ist es nie zu spät; du bekommst bei Gott immer noch eine zweite Chance. Das ist zumindest für mich eine tröstliche Verheißung.
Die Widersprüchlichkeit des Gleichnisses vom großen Abendmahl ist denn auch immer wieder historisch gedeutet worden: Lukas, von Haus aus Grieche, also ein Heiden-Christ, schrieb in erster Linie für eine heiden-christliche Leserschaft, deren Beziehungen zu den juden-christlichen Gemeinden nicht spannungsfrei waren. Das Gleichnis könnte insofern als deutliche Warnung an das jüdische Establishment gemeint sein, endlich den durch Jesus aufgezeigten Weg zum Heil zu beschreiten, andernfalls andere an die Reihe kämen, nämlich die weiter Entfernten, für die strenggläubigen Juden die weniger Auserwählten, also die Nicht-Juden. Das Unbedingte und Unwiderrufliche in dem Gleichnis vom Großen Abendmahl mag auch ein Beleg dafür sein, dass Jesus das Zeitenende in Bälde erwartete und mit dem Gleichnis die Botschaft verband, dass man sich angesichts der nahenden Endzeit nicht mehr mit Belanglosigkeiten und Vordergründigem beschäftigen, sondern sich entscheiden möge.
Ich will das Gleichnis vom großen Abendmahl damit aber nicht als zu zeitbedingt abwerten, denn ich meine, es trägt auch für uns eine sinnvolle, ja sogar aktuelle Botschaft in sich: Auch wir stehen stets vor der Frage, was sind unsere Prioritäten, was steht für uns an erster Stelle. Wir mögen im Alltag den Bezug zu Gott nicht immer deutlich genug erkennen und eine Einladung zu einem großen Abendmahl bei ihm werden wir auch nicht im Briefkasten finden, aber es sind sicher zahlreiche Gelegenheiten, wo wir am Reich Gottes etwas mitwirken können, durch Güte und Verständnis für unsere Nächsten, durch Hilfsbereitschaft für die, die es nötig haben, durch Ehrfurcht vor dem Leben und durch Achtung der Schöpfung. Tausend Gelegenheiten mindestens. Klar, auch wir haben keine Zeit. Wenn man keine Zeit hat, muss man sie sich nehmen. Nimmst du sie nicht, so hast du sie nie. Die Zeit ist allzeit bereit, drum nimm sie dir, dann hast du sie. Oder anders ausgedrückt: Zeit hat man immer, fragt sich nur wofür.
Jörg Klingbeil, aus der Ansprache zum Dankfest 2010