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Ostergedanken - Brigitte Hoffmann
Neuer Wein in alten Schläuchen - Wolfgang Blaich
Albert Schweitzer als liberaler Theologe - Fortsetzung und Schluss - Werner Zager
Nachruf auf Haim Goren - Karin Klingbeil
Heute ist Ostermontag - gestern haben wir Ostern gefeiert. Feiern wir wirklich Ostern? Wie feiert man ein Fest? Ein religiöses Fest? Wie und warum?
Als Mose den Israeliten die Anweisungen für das Passahfest gab - Bereiten und Essen des Passahlamms, des Brotes ohne Sauerteig -‚ heißt es, in leichter Abwandlung immer wieder: „Bei dieser Gelegenheit sollt ihr euren Söhnen erklären: Wir halten diesen Brauch zur Erinnerung an das, was der Herr für uns getan hat, als er uns aus Ägypten herausführte.“ (2. Mose 12, 13)
Besser kann man Fest und Festbräuche nicht erklären: die symbolische Wiederholung von Handlungen oder Worten oder Bildern, um die Erinnerung an ein Ereignis und das Bewusstsein seiner Bedeutung lebendig zu erhalten.
Und wir? Wir feiern an Ostern die Auferstehung Jesu. Wir feiern, indem wir Eier färben, Frühlingssträuße mit den bunten Eiern schmücken, Hasen aus Schokolade oder Marzipan verschenken, den Kindern Osternester verstecken oder Geschichten vom eierlegenden Osterhasen erzählen.
Was hat das eine mit dem andern zu tun? Auf den ersten Blick: nichts. Der Hase war - wohl als Fruchtbarkeitssymbol - das der germanischen Frühlingsgöttin Ostara heilige Tier - von ihr hat das Fest auch seinen Namen. Das Ei gilt als Symbol der Auferstehung, des neuen Lebens - aber ist uns das bewusst, wenn wir Eier ausblasen, kochen und liebevoll bemalen?
Dabei war Ostern ursprünglich das einzige, jahrhundertelang das größte Fest der Christenheit. Erst in den letzten vierhundert Jahren hat ihm, und nur bei uns im Westen, Weihnachten den Rang abgelaufen. Warum feiern wir Ostern weniger, warum haben wir dafür fast nur Bräuche, die mit dem Kern des Festes allem Anschein nach wenig zu tun haben?
Zum einen vielleicht, weil es für Ostern keine bildkräftige Legende gibt, wie sie die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums darstellt. Bezeichnenderweise gibt es, in der Musik wie in der bildenden Kunst, unendlich viele Darstellungen der Passion, aber nur wenige des Ostergeschehens. Die Passion ist konkretes, dramatisches, erschütterndes Geschehen, an dem sich religiöse Inbrunst entzünden und religiöse Phantasie entwickeln konnte. Auferstehung dagegen ist ein übersinnliches Geschehen, das sich in Worten und Bildern nur schwer darstellen lässt.
Und das führt zum zweiten Punkt, warum vielleicht viele von uns heute gewisse Schwierigkeiten haben mit dem Feiern eines christlichen Osterfestes: Es ist das Fest der Auferstehung - aber was heißt das? Was ist damals, in den Tagen nach Jesu Tod, geschehen? Und was bedeutet es für uns?
Für die ersten Christen wäre diese Frage absurd gewesen. Für sie war die Tatsache, dass Jesus, den sie hatten sterben sehen, trotzdem lebte, die Grundlage ihres Glaubens: der Beweis, dass er „mit Vollmacht“, im Auftrag Gottes, gesprochen hatte, dass seine Lehre wahr war; und zugleich war sein Leben die Garantie für das ihrige, er hatte den Tod überwunden, auch für sie. Das war die große, freudige Glaubensgewissheit, die die frühen Gemeinden trug, die Mühseligen und Beladenen, denen das diesseitige Leben nicht viel anderes zu bieten hatte als Sorge und Not, und die, die vielleicht ihr Auskommen hatten, aber kein Genüge finden konnten an einer unvollkommenen Welt. Sie alle ergriff und erfüllte die Verheißung eines neuen, besseren Lebens ohne Not, ohne Schuld, ohne drohendes Ende. Und diese Verheißung war verbürgt durch die Auferstehung Jesu. Aus diesem Glauben ist das Christentum entstanden. Paulus sagt es mit aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.“ (1. Korinther 15, 4)
Dieser einfache, unbedingte Auferstehungsglaube bestimmte über Jahrhunderte das Denken der Menschen. Es ist sicher kein Zufall, dass das erste Kirchenlied in deutscher Sprache - das also wohl in der Gemeinde gesungen wurde - ein Auferstehungslied ist, der Choral „Christ ist erstanden“, aus dem 12. Jahrhundert:
Christ ist erstanden / von der Marter alle. / Des solln wir alle froh sein, / Christ will unser Trost sein. Kyrie eleis.
Wär er nicht erstanden, / so wär die Welt vergangen. / Seit dass er erstanden ist, / loben wir den Vater Jesu Christ. Kyrie eleis.
Diese absolute, freudige Gewissheit, ohne Frage und ohne Zweifel, ist tief beeindruckend, - aber ist es noch die unsrige? Ich glaube, die meisten von uns können so nicht mehr glauben. Wir müssen fragen, müssen versuchen, das, was wir glauben, in Einklang zu bringen mit dem, was wir wissen. Ein Glaube, wie ihn die mittelalterliche Kirche lehrte, der geradezu das „sacrificium intellectu“, den Verzicht auf Vernunft und Verstehen, forderte, würde für uns zur Lüge. Und ich glaube auch nicht, dass ein solcher blinder Glaube in Sinne eines Gottes wäre, der uns unsern Verstand gegeben hat, oder im Sinne Jesu, der von seinen Anhängern Wahrhaftigkeit forderte.
Wir sind nicht die ersten und nicht die einzigen, denen es so geht. Schon in der jungen Gemeinde von Korinth muss es Zweifel und Auseinandersetzungen gegeben haben über die Frage, ob ein Mensch, der tot ist, wieder lebendig werden könne. Denn Paulus beschäftigt sich an der schon angeführten Stelle des Korintherbriefs ausführlich, ein ganzes Kapitel lang, mit dieser Frage.
Er hebt zwei Dinge hervor: die Auferstehung als unverbrüchliche Tatsache. Zum Beweis führt er diejenigen auf, die Jesus als Auferstandenen, nach seinem Tode, gesehen haben, und fügt hinzu, dass viele davon noch leben - das heißt, dass sie darüber befragt werden können. In dieser Reihe nennt er auch sich selbst, seine eigene Lichterscheinung vor Damaskus, die seine Bekehrung bewirkte.
Das ist wichtig im Zusammenhang mit dem zweiten Punkt, den er betont. Auf die Frage, mit was für einem Leib die Toten auferstehen, gibt er zur Antwort: „Du Narr! Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt“, und führt als Beispiel das Weizenkorn an. Er fährt fort: „Gott gibt ihm einen (neuen) Leib, wie er will.“ Modern gesprochen: Was lebendig bleibt, oder besser: auf eine neue Weise lebendig ist, ist Geist. Deshalb auch kann er seine eigene Vision, die eindeutig ein geistiges Sehen war und nicht eine leibliche Begegnung, in eine Reihe stellen mit den Jesus-Begegnungen der Jünger - für ihn gab es dabei keinen Unterschied.
Das steht im Widerspruch zu den Evangelienberichten vom leeren Grab oder vom Nachtmahl in Emmaus, die eine leibliche Auferstehung suggerieren. Dagegen berichtet Paulus von einem eigenen Erlebnis und von Menschen, mit denen er persönlich gesprochen hat. Die Evangelien sind erst eine bis zwei Generationen später aufgeschrieben worden, weitgehend auf der Basis einer zunächst mündlichen Überlieferung. Es spricht also eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Bericht des Paulus und seine Auffassung einer geistigen Auferstehung die zuverlässigeren sind.
Das war aber im Prinzip nichts Neues. An eine geistige Auferstehung, banaler gesagt, an ein geistiges Weiterleben nach dem irdischer Tod, glaubten damals die meisten Juden, auf jeden Fall die maßgeblichen Vertreter der jüdischen Religion, die oft genannten Schriftgelehrten und Ältesten. Das war einer der wichtigsten Streitpunkte zwischen ihnen und den von ihnen bekämpften Sadduzäern. Jesus selbst hatte das gelehrt, z.B. in seiner Antwort auf die entsprechende Frage einiger Sadduzäer: „Habt ihr nicht gelesen im Buch des Mose, ... wie Gott sprach: „Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Gott ist aber nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“ Und an anderer Stelle: „Ihm leben sie alle.“
Und doch müssen die Jünger in jenen Tagen nach Jesu Tod etwas umstürzend Neues, Überwältigendes erlebt haben. Das wird unübersehbar deutlich, wenn man die Wirkung dieser Erlebnisse betrachtet.
Die Evangelien berichten Ereignisse, nicht Gefühle. Trotzdem ist es offensichtlich, dass Verurteilung und Tod Jesu seine Jünger und Anhänger an ihm irre werden ließen. Anders lässt sich ihre Reaktion nicht erklären: sie waren nicht nur betrübt und enttäuscht, sie waren zutiefst demoralisiert. Keiner von ihnen hält bei Jesus aus. Schon nach der Gefangennahme laufen sie in Todesangst davon und tauchen während des ganzen Passionsgeschehens nicht wieder auf. (Die Anwesenheit des Johannes unter dem Kreuz ist nur im Johannes-Evangelium überliefert.) Petrus als der einzige, der sich noch in den Hof des Gerichtsgebäudes gewagt hat, leugnet dort seine Beziehung zu Jesus und verschwindet ebenfalls.
Wenige Tages später aber stehen die gleichen Männer in den Straßen Jerusalems, bekennen sich offen zu Jesus und verkünden seine Lehre, - und das angesichts einer - wie die Steinigung des Stephanus zeigt - immer schärfer werdenden Verfolgung durch die Vertreter der jüdischen Religion, also angesichts eines viel größeren Risikos.
Es gibt Berichte, dass einige von ihnen, z.B. Petrus, später den Märtyrertod erlitten haben. Aber selbst wenn das nicht stimmt: mit dieser Möglichkeit lebten sie von nun an alle. Aber das schreckte sie nicht mehr, machte sie kein einziges Mal mehr schwankend in ihren Glauben, in dem, was von nun an ihr Leben war: die frohe Gewissheit, die sie erhalten hatten, an andere weiterzugeben.
Was hatte den Wandel bewirkt? Ihre eigene, ganz persönliche Erfahrung: Jesus lebt, er ist nicht im Tod geblieben!
Jesus selbst hatte daran nie gezweifelt, nicht für sich selbst, nicht für andere; er hatte es mehr als einmal gesagt, dass vor Gott der Tod kein Wesen habe. Sie hatten es gehört, und sie hatten es sicher brav geglaubt, so wie sie alles glaubten, was ihr verehrter Meister sagte. Aber das ist etwas wesentlich anderes als die unmittelbare, beglückende Erfahrung, die ihnen jetzt zuteil geworden war.
Ich glaube nicht, dass sie sich Gedanken machten über die Frage, ob es sich um eine leibliche oder geistige Auferstehung handelte. Auch wenn ihre Erscheinungen „nur“ geistiger Natur waren - die Gestalt kam durch verschlossene Türen und verschwand so auch wieder -‚ das, was für sie zählte, war, dass sie Jesus sahen, ihn als Person gegenwärtig fühlten, hören oder doch aufnehmen konnten, was er ihnen vermitteln wollte.
Und dann gingen sie weg und suchten nach Worten, um anderen mitzuteilen, was sie ganz erfüllte, um verständlich zu machen, dass dies etwas viel Intensiveres, viel Beglückenderes war als der allgemeine Glaube an ein Weiterleben der Toten.
Es gibt aber keine Worte, um eine einzigartige Erfahrung angemessen zu beschreiben. Wenn ich „Tisch“ sage, so versteht mich jeder, aber nur deshalb, weil er schon selbst einen Tisch gesehen hat. Jemand aus einem andern Kulturkreis, der die Sache nicht kennt, kann auch das Wort nicht verstehen. Und so griffen die Jünger zu Bildern und Vergleichen, um zu erklären, zu umschreiben, was sie erlebt hatten. Und bei denen, die sie hörten, die zwar tief beeindruckt waren, aber keine solche Erfahrung kannten, entstand daraus die Vorstellung der leiblichen Auferstehung. Und bis dann, 40 bis 70 Jahre später, die Evangelien aufgeschrieben wurden, war diese Vorstellung zur Selbstverständlichkeit geworden, so sehr, dass, in bestem Glauben, Details wie das vom leeren Grab, hinzugefügt werden konnten, um das Unbegreifliche begreiflich zu machen.
Was bedeutet das für uns? Wir brauchen uns nicht nur auf das Zeugnis der Jünger zu verlassen, um anzunehmen - im wörtlichen Sinn: für uns zu akzeptieren - ‚ dass das, was sie berichteten, möglich und wahr ist, nicht eine einmalige und unserem Wissen widersprechende Durchbrechung der Naturgesetze, sondern Beispiel einer fortdauernden Realität.
Ich denke, viele von uns haben schon entweder selbst die Erfahrung gemacht oder doch andere davon berichten hören, dass ihnen in bestimmten Situationen Verstorbene besonders nahe waren, auch dass sie Botschaften von ihnen empfingen oder zu empfangen glaubten. Bei manchen Menschen oder in manchen Extremsituationen kann dieses Erleben so stark sein, dass echter Kontakt - Austausch nicht von Worten, aber von Gedanken und Empfindungen - möglich wird. Dass das heute wohl seltener in solcher Intensität geschieht als in früheren Jahrhunderten, mag damit zusammenhängen, dass wir - im Guten wie im Schlechten - unseren Geist mit viel mehr Anregungen und Ablenkungen beschäftigen, als das früher möglich war, so dass wir seltener zu der Ruhe und Konzentration kommen, die meist Voraussetzung für solche Erlebnisse sind.
In diesem Zusammenhang sei auch an die vielfältigen Nahtoderlebnisse mancher Menschen erinnert. Beweise im wissenschaftlichen Sinn für ein Leben nach dem irdischen Tod sind das nicht - die kann es nicht geben. Aber es sind Hinweise dafür, dass es feingeistiges Sein jenseits dessen gibt, was uns normalerweise zugänglich ist; dass dieses Sein mit dem irdischen Tod nicht zu Ende ist; und dass in Ausnahmesituationen ein Durchlässigwerden der Grenze zu dieser anderen Seinsform möglich ist. Das hat Jesus gelehrt - und ich denke, das ist es, was die Jünger damals erfahren haben.
Daran ist noch etwas anderes bemerkenswert. Sie hatten Tag um Tag mit Jesus gelebt und seine Predigt vom Reich Gottes gehört - und sie hatten ihn doch nicht verstanden. Nicht weil sie zu dumm waren, um zu merken, wovon Jesus redete. Sondern weil sie keine eigene Erfahrung mit diesem anderen Sein hatten, nur in den ihnen vertrauten Kategorien der umgebenden sichtbaren Welt denken konnten. Ein Reich, auch ein Reich Gottes, war für sie konkrete Herrschaft des jüdischen, von Gott dafür auserwählten Volkes.
Fähig, die geistige Wirklichkeit wahrzunehmen, von der Jesus zu ihnen gesprochen hatte, wurden sie erst im Moment ihrer tiefsten Verzweiflung, als alles, worauf sie bisher gebaut hatten, zusammengebrochen war.
Nun waren sie bis ins Innerste aufgewühlt, losgerissen von ihren bisherigen Gewissheiten - nun waren sie bereit dafür, geistige Realität zu erkennen.
Damit sind wir wieder bei dem Wort des Paulus: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Wir feiern Ostern als Fest der Auferstehung, und wir denken dabei an Jesus. Es gilt aber auch allgemein, es gilt auch für uns: der irdische Tod ist die Voraussetzung für den Übergang in ein neues, anderes Sein. Es gilt für die Jünger: sie sind, aus der Verzweiflung, auferstanden in eine neue Erkenntnis. Es gilt für geschichtliche Prozesse und für viele Situationen unseres Lebens: wenn etwas Neues entsteht, muss etwas Altes absterben. Das ist fast immer schwierig und schmerzlich. Aber wir dürfen immer die Hoffnung haben, dass aus dem Vergehen neues Sein entsteht.
Am augenfälligsten ist dieser Prozess in der Natur; deshalb wählt Paulus auch das Bild des Weizenkorns, um den geistigen Vorgang anschaulich zu machen. Wenn wir Ostern feiern, erleben wir zugleich, wie draußen in der Natur aus scheinbar toten Zweigen Knospen und Bluten hervorbrechen, wie aus nackter Erde grüne Spitzchen hervorkommen, die innerhalb von Tagen zu kleinen Pflanzen werden, wie überall im eintönigen Graubraun frisches Grün und gelbe, blaue, weiße, rosa Blüten aufleuchten - wie auch die Natur Auferstehung feiert.
Und wir freuen uns doppelt daran, weil dieses Aufblühen wieder neu ist, weil die Kahlheit und Dunkelheit des Winters uns doppelt empfänglich dafür gemacht haben.
Dieser Auferstehung der Natur gelten die meisten unserer Osterbräuche, die Hasen und Eier und Sträuße. Und sie sind, wie alles Schenken und Schmücken, Ausdruck der Freude und Mittel, Freude zu bereiten.
Sie mögen aus der heidnischen Naturreligion stammen - aber auch in christlicher Sicht ist die Natur Gottes Schöpfung, und Freude über sie, über ihr Neuerwachen und ihre Schönheit, ist Dank an den Schöpfer. Und Freude haben und Freude machen bereiten gehört zum Kern der christlichen Botschaft, die nicht umsonst Evangelium, Frohe Botschaft, heißt. Und darum, denke ich, sind bunte Eier und süße Osterhasen kein Widerspruch zu einer christlichen Osterfeier, sondern sie gehören dazu, äußerlich, aus Tradition, aber auch innerlich. Das zeitliche Zusammentreffen von Frühling und Ostern in unseren Breiten mag Zufall sein, und das Einschmelzen heidnischer Osterbräuche in das christliche Fest kluge Politik der alten Kirche - aber es liegt auch ein beglückender Sinn darin, dass Ostern beides ist, das Fest der Auferstehung der Natur und das Fest der Auferstehung Jesu, der Auferstehung des Menschen.
Brigitte Hoffmann, leicht gekürzter Saalvortrag vom 19. April 1992
„Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Neuen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten.“
Das von Jesus erzählte Gleichnis vom „Neuen Wein in alten Schläuchen“ wird in den Evangelien im Neuen Testament bei Matthäus, Lukas und Markus überliefert. Die deutsche Redewendung „alter Wein in neuen Schläuchen“ leitet sich von diesem Gleichnis ab und bedeutet, einen alten Inhalt in neuer Verpackung, bzw. eine alte Idee als neu zu präsentieren und existiert als Redewendung in einer Vielzahl von Abwandlungen.
Die im Gleichnis erwähnten Schläuche waren aus Tierhäuten hergestellt. Solange diese Weinschläuche neu waren, blieben sie dehnbar und elastisch. Aber wenn sie alt wurden, waren sie steif und unflexibel. Wenn neuer Wein in alte Schläuche gefüllt wurde, entwickelte der Gärungsprozess so viel Druck, dass sich die alten Schläuche dem nicht anpassen konnten und deshalb zerrissen. Daher soll neuer Wein in neue Schläuche gefüllt werden.
Wie ist das Gleichnis zu verstehen? Warum benützt Jesus dieses Gleichnis? Was will er seinen Zuhörern vermitteln? Eine Deutung sieht das Alte, symbolisiert durch die alten Weinschläuche, das Judentum mit seiner alten Lehre, seinen Riten und Vorschriften, während das Neue, symbolisiert durch den neuen Wein, die Lehre Jesu und die Bewegung seiner Jünger darstellt. Mit dem Gleichnis erklärt Jesus die neue Lage. Das bezieht sich auf die Beispiele seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der zitierten Textstelle bei Matthäus: das Ährenraufen am Sonntag, das Mahl mit Zöllnern und Sündern, das Nicht-Fasten seiner Jünger, wo doch die Pharisäer fasten. Jesus bricht hier mit den von den Juden gesetzten Vorschriften und Regeln, weil für ihn das Wohl seiner Mitmenschen im Mittelpunkt steht.
Mit ihm, mit seiner Lehre kommt wirklich etwas ganz Neues. Sein liebender Blick auf alle Kranken, Schwachen und Außenseiter brachte eine Kehrtwende. Jesus gibt mit seinen Worten zu verstehen, dass die veralteten Formen, Zeremonien, Traditionen und Rituale des zeitgenössischen Judentums zu starr und steif waren, um die befreiende und begeisternde, durch ihn ausgelöste religiöse Bewegung zu tragen.
Diese Botschaft ist zweitausend Jahre alt - und, wie ich meine, keineswegs veraltet. Ich denke, dass das, was wir momentan in unserer Gesellschaft, im Weltgeschehen überhaupt erleben, überdeutlich zeigt, dass wir neuen Wein und neue Schläuche brauchen. Überlieferte Strukturen in Politik und Gesellschaft brauchen neue Gedanken und Reformen, brauchen vor allem Mitmenschlichkeit.
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift Schweitzer als eine Erweiterung des Doppelgebots der Liebe durch die „Liebe zur Kreatur, die Ehrfurcht vor allem Sein, das Miterleben allen Lebens, mag es dem unseren äußerlich noch so unähnlich sein“. Jedoch auch dies macht der Prediger seiner Gemeinde deutlich, dass sich die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben nicht auf eine entsprechende in der Natur geltende Lebensordnung gründet. In der Natur herrscht das brutale Gesetz von Fressen und Gefressen-Werden. Orientierte der Mensch aber sein Verhalten an diesem Gesetz, würde er sein Menschsein verleugnen. In einem eindrucksvollen Bild beschreibt Schweitzer die fundamentale Differenz zwischen Mensch und übriger Kreatur:
„Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle [sc. Wesen] müssen in dem Dunkel leben, nur eines darf hinaus, das Licht schauen: das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet.“
Die ihm als Assistenzarzt und Vikar verbleibende freie Zeit nutzte Schweitzer für die Weiterarbeit an seiner Kulturphilosophie. Hatte er bisher die Philosophie daraufhin befragt, „inwieweit sie ethische Welt- und Lebensbejahung als Antriebe zur Kultur enthält und begründet“, untersuchte er nun „die Weltreligionen - Christentum, Judentum, Islam, Zarathustrareligion, Brahmanismus, Buddhismus, Hinduismus und die Religiosität des chinesischen Denkens - auf Ethik, Welt- und Lebensbejahung und Welt- und Lebensverneinung“. Durch seine Untersuchungen sah er sich in seiner Theorie bestätigt, „daß Kultur auf ethische Welt- und Lebensbejahung zurückgehe“.
Was das Christentum betrifft, so enthält es nach dem Urteil Schweitzers „Welt- und Lebensbejahung und Welt- und Lebensverneinung nebeneinander und in Spannung miteinander“. Allein die Phasen der Christentumsgeschichte, in denen Welt- und Lebensbejahung überwiegen - wie Renaissance, Reformation und Aufklärung -, erfahren eine positive Wertung.
Kurz vor Weihnachten des Jahres 1919 erhielt Schweitzer durch Erzbischof Nathan Söderblom eine Einladung, in der Zeit nach Ostern 1920 die Olaus-Petri-Vorlesungen an der Universität Uppsala zu halten. In diesen erörterte Schweitzer das „Problem von Welt- und Lebensbejahung und Ethik in der Philosophie und den Weltreligionen“. Die Uppsala-Vorlesungen bildeten die Basis für die beiden ersten 1923 erschienenen Bände der Kulturphilosophie.
Zwar darf nach Schweitzer in Anbetracht dessen, dass in vielen östlichen Religionen und Kulturen Lebens- und Weltverneinung begegnet, die in unserer westlichen Welt dominierende Lebens- und Weltbejahung nicht als etwas Selbstverständliches angesehen werden, ohne denkerisch vergewissert zu werden. Gleichzeitig betrachtet er aber die Lebensbejahung als der menschlichen Existenz von Natur aus zugehörig, was er wie folgt begründet: „Wir sind nicht nur Leben, sondern Wille zum Leben. Der Trieb, unser Leben zu erleben und auszuleben, gehört zu unserem Wesen.“ Die Bejahung unseres eigenen menschlichen Lebens ist also für Schweitzer grundlegend; sie bildet den Ausgangspunkt dafür, dass wir uns auch der Welt bejahend zuwenden und in unserem Lebensraum wirken und ihn gestalten.
Ähnlich wie bei der Lebens- und Weltbejahung nimmt Schweitzer an, dass jedem Menschen eine ethische Veranlagung eigne. Er vergleicht das Ethische mit einer Ellipse, deren beiden Brennpunkte zum einen das Motiv der Hingebung und zum anderen das Motiv des innerlichen Vollkommenerwerdens bilden. Die Ethik hat folglich nicht nur das rechte Verhalten zu den anderen, sondern auch zu uns selbst zu thematisieren.
Während uns als von Judentum und Christentum geprägten Europäern eine Ethik der Hingabe vertraut und ohne Weiteres plausibel erscheint - man denke nur an das biblische Gebot der Nächstenliebe (Levitikus [3. Buch Mose] 19,18; Markus 12,31 mit Parallelen) -, mutet uns eine Ethik des Vollkommenerwerdens eher fremd an. Doch vergegenwärtigen wir uns, was Schweitzer mit solchem Vollkommenerwerden meint! Am Anfang des Vollkommenerwerdens steht das Bemühen um Wahrhaftigkeit - und zwar nicht nur, um vor anderen vertrauenswürdig zu sein, sondern vor allem auch, um vor uns selbst bestehen zu können. Weiterhin rechnet Schweitzer zur innerlichen Vollendung „Sanftmut, Friedfertigkeit und gütige Gesinnung gegen alle Wesen“ - durchaus in Übereinstimmung mit der lebens- und weltverneinenden Ethik Buddhas. Während die genannten Gesinnungen innerhalb der buddhistischen Ethik wegen des Grundsatzes der Nicht-Tätigkeit sich lediglich in der Enthaltung von mitleidlosem Verhalten auswirken, geht die von Schweitzer intendierte Ethik darüber hinaus: Als lebens- und weltbejahende Ethik kennt sie nicht das Dogma der Nicht-Tätigkeit, so dass die ethischen Gesinnungen auch in aktivem Verhalten ihre gestalterische Kraft entfalten können.
Schweitzer intendiert also eine für alle Menschen einsichtige und gültige Ethik, die das der Lebens- und Weltbejahung zugehörige Motiv der Hingabe mit dem der Lebens- und Weltverneinung entsprechenden Motiv des innerlichen Vollkommenerwerdens verbindet. Dabei verleiht das erste Motiv der Ethik ihre Lebendigkeit, das zweite steht für ihre Tiefe.
Da die großen ethischen Herausforderungen unserer Zeit - ich nenne nur als Stichworte: Krieg und Frieden, Flucht und Vertreibung, Gerechtigkeit, Ökologie, Klimawandel, Überbevölkerung, Biotechnologie, Gentechnik - globale Lösungen erfordern, bietet die Schweitzer’sche Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben eine gute Grundlage dafür, insofern sie zum einen westliche und östliche Denkansätze überzeugend miteinander verbindet. In einer Zeit, in der überkommene Moralvorstellungen und Tugendlehren nicht mehr in der Lage sind, Fragen nach Möglichkeiten humanen Lebens und Überlebens zu beantworten, kommt es zum anderen darauf an, ethisches Handeln im Denken zu begründen, was gerade keinen Rückzug aus dem gefährlichen Terrain aufeinanderprallender Interessen und Konflikte in den geistig wohl temperierten Elfenbeinturm bedeutet. Für Schweitzer verdient nämlich das „wahre Denken“ diesen Namen erst dann, wenn es „in jeder Weise von dem Wirklichen ausgeht und auf das Wirkliche zugeht“. Die entscheidende Wegweisung dabei ist das Prinzip der Ehrfurcht vor allem Leben.
Seine Philosophie bzw. Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat Albert Schweitzer als „ethische Mystik“ oder „mystische Ethik“ verstanden. Auch fällt auf, dass in Schweitzers literarischem Werk - ob nun im Kontext von Theologie, Philosophie oder Musik - immer wieder von „Mystik“ die Rede ist. Erich Gräßer hat daher mit Recht Mystik als „Sammelbegriff all seines Denkens und Tuns“ bezeichnet.
Bereits in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ von 1906 (2. Auflage 1913) hat Schweitzer die auch für unsere Zeit tragfähige Glaubensbeziehung eines Christen zu Jesus als „Jesus-Mystik“ bestimmt. Und im Anschluss an seine Jesusforschung widmete er sich der „Mystik des Apostels Paulus“. In seinen kulturphilosophischen Überlegungen zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ überschreitet er Mystik im christlichen Sinn, indem er auch andere Religionen und die Philosophie mit einbezieht. Schweitzer wörtlich: „Jede Weltanschauung, insoweit sie das Verhalten des Menschen durch sein geistiges Verhältnis zum unendlichen Sein bestimmt sein lässt, hat mystischen Charakter.“
Und was Schweitzer vor 100 Jahren, im September 1915, bei seiner Kahnfahrt auf dem Ogowe durch eine Nilpferdherde hindurch erfahren hat, ist eine mystische Grunderfahrung, die Erfahrung des innigsten Verbundenseins mit allem Lebendigen. In einer Predigt entfaltet er diesen mystischen Erfahrungszusammenhang wie folgt: „[...] der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht: Das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewußtsein seiner selbst kommt - das Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinflutet.“
Für Schweitzers ethische Mystik oder mystische Ethik ist kennzeichnend, dass sie nicht allein Menschen gilt, sondern die Achtung allem Leben gegenüber einfordert. Die mystisch-ethische Bewusstheit der eigenen Mitgeschöpflichkeit umfasst also auch Pflanzen und Tiere. Mit Schweitzers Ethik ist daher die industrialisierte Massentierhaltung unvereinbar, durch die Milliarden von sogenannten Nutztieren ungeheures Leid zugefügt wird. Schweitzer wörtlich: „Mitleid gegen die Tiere muß auf dem Boden einer allgemeinen Ehrfurcht vor allem, was Leben ist, erscheinen, sonst ist es unvollständig und unbeständig.“
Für Schweitzer schließen sich Denken und Mystik nicht aus, führe doch das elementare Denken, das sich den grundlegenden Fragen des Daseins stellt, zu mystischen Einsichten. So kann er geradezu von einer „Denkmystik“ sprechen. Ähnlich wie Meister Eckhart und Nikolaus von Kues lässt Schweitzer dabei ein anthropomorph personales Gottesverständnis hinter sich und gelangt zu einem geistigen Verstehen der Wirklichkeit Gottes, wenn er sagt:
„Die Frömmigkeit hängt nicht davon ab, daß ein Mensch sich zu einer historisch überlieferten Gottesvorstellung bekennen kann, sondern daß er von dem Geiste ergriffen ist und in ihm wandelt. [...] Wenn wir noch die Sprache der überlieferten Religion sprechen, ist dies zeitlich bedingt und in Rücksicht auf die, die noch in der historisch überlieferten Religion vorstellen und denken. [...] Mehr und mehr aber werden die Menschen über die historischen Vorstellungen hinausgeführt werden. [...] Aus Gott, dem Schöpfer und Regierer der Welt, ist der unergründliche Urgrund des Seins geworden, der uns als ethischer Geist bewußt wird. Diesem Geiste ergeben sein, ist fromm sein im allgemeinsten und tiefsten Sinn.“
Schweitzer kann - in gewisser Weise Intentionen von Hans Küngs Projekt „Weltethos“ vorwegnehmend - zu den Wegbereitern des interreligiösen Dialogs gerechnet werden. Bei seiner Suche nach einem die Religionen und Philosophien verbindenden ethischen Grundprinzip beschäftigt er sich nämlich intensiv mit den fernöstlichen Religionen und Kulturen, der „Weltanschauung der indischen Denker“ des Hinduismus und Buddhismus und der „Geschichte des chinesischen Denkens“. Er möchte die mehr innerlich meditativ orientierte Kultur des Fernen Ostens und die stärker äußerlich ausgerichtete Kultur des Westens dialogisch aufeinander beziehen. Ein solcher Dialog mündet dann bei Schweitzer in die spannungsvolle Einheit von Mystik und Ethik, denn: „Alle tiefe Philosophie, alle tiefe Religion ist zuletzt nichts anderes als ein Ringen um ethische Mystik und mystische Ethik.“
Schließlich ist für Schweitzer Mystik auch ein Thema der Musik. So betrachtet der Organist und Bach-Forscher Musik nicht nur als ein ästhetisches, sondern zugleich auch als ein zutiefst geistiges Phänomen. Johann Sebastian Bach versteht er als einen Mystiker, „der in der Sprache der Töne redet“. Schweitzer schreibt: „In dem Thomaskantor redet einer der größten Mystiker, die es je gegeben hat, zu den Menschen und führt sie aus dem Lärm zur Stille.“ Jedoch eignet nicht allein der Musik Bachs eine spirituell-mystische Dimension, denn: „Jede wahr und tief empfundene Musik, ob profan oder kirchlich, wandelt“ Schweitzer zufolge „auf jenen Höhen, wo Kunst und Religion sich jederzeit begegnen können.“
Unternehmen wir noch den Versuch, Schweitzers Einsichten zusammenzufassen, die auch für uns heute relevant sind:
1. Den Wahlspruch der Aufklärung, Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, gilt es gerade in Fragen der Religion und des Glaubens zu beherzigen. Ist doch recht verstandener christlicher Glaube ein denkender Glaube.
2. Ein wahrhaftiges Christentum macht Ernst damit, dass Jesus von Nazareth sich in der Naherwartung des Reiches Gottes geirrt hat. Den Jesus Nachfolgenden ist es daher aufgegeben, sich im Sinne eines ethischen Reich-Gottes-Verständnisses für dessen Verwirklichung zu engagieren.
3. Wichtiger als dogmatische Glaubensformeln nachzusprechen, ist es, sich von Jesu Geist berühren und bestimmen zu lassen.
4. Eine liberale christliche Frömmigkeit bedarf der Rückbindung an eine Gemeinde und der geistlichen Stärkung im Gottesdienst.
5. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die Übersetzung von Jesu Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten in die Sprache der Philosophie, erweitert durch die Liebe zur Kreatur.
6. Die Ehrfurchtsethik verbindet westliches und östliches Denken. Befreit von überkommenen Vorstellungen, finden Philosophie und Religion in einer ethischen Mystik bzw. einer mystischen Ethik zueinander.
Schließen möchte ich mit einem Ausblick. - Das zentrale Anliegen des Protestantismus erkannte Albert Schweitzer - wie wir gesehen haben - in der radikalen Suche nach Wahrheit und der damit einhergehenden Selbstverpflichtung auf die erkannte Wahrheit. In einem Brief an Beneficiant Euler vom 6. Juni 1952 sprach Schweitzer seine Überzeugung aus: Der religiöse Liberalismus „ist ein Sauerteig, dessen das Christentum nicht entbehren kann“. Und sechs Jahre zuvor, am 25. März 1946, machte Schweitzer den Freigesinnten Theologiestudenten der Universität Bern Mut, indem er ihnen versicherte:
„Die Freigesinnten sind Fremdlinge in der heutigen Welt. Sie vertreten etwas, das einst war und unsere christliche neuzeitliche Kultur schuf und das einst wiederkommen muss, wenn diese Kultur weiterbestehen soll.“
Heute können wir - vergegenwärtigen wir uns die Entwicklungen in Theologie und Kirche der jüngeren Vergangenheit - mit guten Gründen sagen: Die Zeit der Fremdlingschaft gehört für das freie Christentum der Vergangenheit an. Wie Kirche nur noch als Kirche der Freiheit überzeugen kann, so kann Christsein nur noch als freies Christsein überzeugend, d.h. mit Herz und Verstand gelebt werden.
Am 1. März 2025 verstarb Prof. Dr. Haim Goren, Historiker und guter Freund der Tempelgesellschaft.
Haim Goren wurde 1946 in Rischon le Zion geboren, absolvierte nach seiner Schulzeit den Militärdienst zunächst im Hule-Tal, dann im Nahal und kehrte dann als Mitglied in den Kibbuz Gonen zurück. Dort hatte er verschiedene Positionen inne und begann sein Studium 1982 an der Fakultät „Land of Israel Studies“ in Haifa, wo er mit dem Bachelor abschloss. Seinen Master erwarb er mit dem Thema „Die deutsch-katholische Tätigkeit im Lande Israel, 1838-1910“ und seine Promotion 1993 zum Thema „Das Land Israel im neunzehnten Jahrhundert: Der deutsche Beitrag zu seiner Erforschung (1766-1877)“ unter der Betreuung von Prof. Ruth Kark und Prof. Alex Carmel an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Beide Themen waren bis zu dem Zeitpunkt nicht untersucht worden. Seine Studien führten zu zahlreichen Publikationen auf Hebräisch und Deutsch.
Seit 1996 war er Senior Lecturer, 2003 Associate Professor und 2013 ordentlicher Professor für Historische Geographie, Prof. Emeritus seit seiner Emeritierung im Jahr 2016.
1988 hatte er sich mit seiner Frau Ila und den drei Kindern in Rosh Pina niedergelassen; seit dieser Zeit war das Tel Hai College, eine Erweiterung der Universität Haifa, sein akademisches Zuhause. 1994 wurde es zu einer unabhängigen akademischen Hochschule, an der Haim Goren sich in vielerlei Aufgabenbereichen als Koordinator, Vorsitzender in Ausschüssen, Leiter von diversen Abteilungen und Behörden, Gründer der Fakultät für Sozial- und Geisteswissenschaften, akademischer Berater und vieles mehr engagierte. 2010-2014 war er Vizepräsident für akademische Angelegenheiten und von 1988 bis 2024 Dozent am Tel Hai Academic College. Er wurde in akademische Ausschüsse gewählt, förderte in verschiedenen Funktionen das akademische Engagement in der Gemeinschaft und gehörte auch dem Höheren Ausschusses für die Berufung von Professoren in den Universitäten in Israel an. Dann setzte er sich intensiv mit der Geschichte der wissenschaftlichen Forschung im Land auseinander und gleichzeitig mit der Geschichte und Entwicklung der Kartographie des Landes und der Region. In diesem Rahmen wurde über viele Jahre die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung über das Tote Meer und die Jordan-Senke erforscht. Zugleich beschäftigte er sich mit einem der bedeutendsten Entdecker des Landes im 19. Jahrhundert, dem Deutsch-Amerikaner Edward Robinson, mit seinen Reisen (in Begleitung des Missionars Eli Smith), seinen Publikationen und den von ihm veröffentlichten Karten.
Alle seine Studien stützten sich auf umfangreiche Archivarbeit in Israel, Deutschland, den USA und dem Vereinigten Königreich und vervollständigten ein umfangreiches Forschungsbild.
Dieses beachtliche, umfangreiche akademische Engagement von Haim Goren ist die eine Seite. Die andere ist die eines liebenswerten Menschen, der durch seine Studien auch mit der Tempelgesellschaft in Kontakt kam - damals vornehmlich mit Hans Lange. Wir erinnern uns an seinen Nachruf auf Dieter Lange, der ihm zum engen Freund wurde, und in dem er seine Beziehung zur Familie Lange und zur Tempelgesellschaft (s. „Warte“ Nr. 7/8-2024) beschrieben hat. Wann immer eine Templergruppe - "große" Reise, Jugend- oder Friedhofsgruppe - nach Israel kam, war es ihm ein großes Anliegen, diese zu treffen und den Kontakt zu halten. So traf er entweder am See Genezareth mit der Gruppe zusammen, wenn diese sich dort aufhielt, oder je nach seinem Terminkalender auch in Jerusalem oder anderswo. Bei dieser Gelegenheit hielt er auch kurze Vorträge und führte einmal auch eine Friedhofsgruppe durch das historische Rosh Pina, seine Heimatstadt.
Mit Haim Goren verlieren wir einen treuen Freund, dem wir ein ehrendes Andenken bewahren werden.