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In den meisten Religionen spielt Geschichte keine Rolle; es geht um das gegenwärtige oder zukünftige Wohl des Einzelnen. Die reale Welt ist ein gegebener, zeitloser Zustand ohne Anfang und Ende. Er kann positiv gesehen sein wie in vielen Naturreligionen oder dem Konfuzionismus: als eine ewige Ordnung, in der sich die Gegensätze immer wieder ausgleichen. Das Wohl des Einzelnen liegt dann darin, sich in diese Ordnung einzufügen. Oder dieser Zustand wird negativ gesehen: als ein Ort des Leidens und der Leidenschaften, wie im Buddhismus, und das Heil für den Einzelnen liegt darin, sich - durch stufenweise Erleuchtung - von Leidenschaften und Leiden freizumachen und einzugehen ins All-Eine (beides grob verkürzt). Die Welt als solche blieb davon unberührt.
Für die Wechselfälle des Lebens gab es daneben meist viele Götter, Geister und Dämonen, die man durch Opfer gnädig zu stimmen suchte, die man anflehte um eine gute Ernte, um Gesundheit und Bewahrung vor Unheil. Ihre Zuständigkeit war meist regional begrenzt, sie waren jeweils die Götter eines Staats, einer Bevölkerungsgruppe, eines Stamms. Ich nenne sie der Einfachheit halber Nationalgötter, obwohl sie mit dem, was wir heute Nation nennen, wenig zu tun hatten.
Dagegen hat sich in den drei abrahamitischen Religionen eine Beziehung zur Geschichte entwickelt, die z. T. unser Denken bis heute prägt. Sie ist im Judentum entstanden, und deshalb will ich zunächst auf die Entwicklung dort näher eingehen.
Auch Jahwe war ursprünglich ein solcher Stammesgott unter anderen - das spiegelt sich noch heute in vielen alttestamentlichen Erzählungen über die israelitische Frühzeit oder in der Bezeichnung »der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs«, die noch im Neuen Testament immer wieder vorkommt.
Der Auslöser dafür, dass aus diesem alten Gottes- und Weltbild ein neues, ganz anderes wurde, war wahrscheinlich ein »historisches« Ereignis, das nach damaligem Verständnis nur durch ein göttliches Wunder zu erklären war: die Errettung beim Exodus, dem Auszug aus Ägypten. Wahrscheinlich; der Zusammenhang ist meine Deutung, wissen oder gar beweisen kann das niemand; aber die spätere Entwicklung macht mir einen solchen Zusammenhang plausibel. Unsere frühesten schriftlichen Quellen entstanden erst Jahrhunderte später. Deshalb habe ich das »historisch« in Anführungszeichen gesetzt. Denn was die Bibel als Auszug aus Ägypten erzählt, ist Legende: Als die Hebräer (nicht das Volk Israel, das entstand erst viel später; eher ein einzelner Stamm) an das nördliche Sumpfland zwischen Ägypten und der Halbinsel Sinai kamen (vielleicht an einen flachen See?), zog das Wasser sich zurück; als aber die verfolgenden Ägypter nachziehen wollten, kam es mit Wucht zurück und begrub das Heer unter sich.
Historisch belegt ist nur, dass semitische Nomadenstämme in Zeiten der Dürre ins fruchtbare Ägypten zogen; dort bekamen sie Weideland zugewiesen und mussten dafür Frondienste leisten, z.B. für die Bauten der Pharaonen. (Übrigens, verglichen mit heute, eine recht humane Art, mit Elendsflüchtlingen umzugehen - sie setzte allerdings voraus, dass es genügend Land gab.) Dass einer oder einige von ihnen später zurückzogen, ist naheliegend. Vielleicht, wahrscheinlich, war die Ursache des Wunders ein Naturereignis (ein Tsunami?).
Was genau damals geschehen ist und wann (wahrscheinlich im 13. Jahrhundert v. Chr.), können wir nur vermuten. Dass etwas Außerordentliches geschehen ist, legen die Folgen nahe: das Erlebnis dieses einen Stammes muss so überwältigend gewesen sein, dass sein daraus erwachsener Glaube sich Jahrhunderte später, nach der Ansiedlung in Palästina, sich auf andere semitische Stämme übertrug. Es entstand ein religiöser 12–Stämme-Bund und allmählich ein Identitätsbewusstsein: das Volk Israel. Bis heute ist die Exoduserzählung das Kernstück der jüdischen Tradition. Bei jedem religiösen Passah-Mahl wird sie rekapituliert.
Aus dieser Erfahrung erwuchsen neue Überzeugungen, z.T. vielleicht spontan; in späterer Zeit ausgeweitet, ausformuliert und festgeschrieben von der Priesterschaft (und heute ablesbar an den verschiedenen Überlieferungsschichten des Alten Testaments):
Zwar hatte das mit unserer Vorstellung von Geschichte bzw. Geschichtsschreibung wenig zu tun. Es ging nicht darum, »zu erkennen, wie es wirklich gewesen war«, sondern es ging um die richtige Deutung. Und beides konnte meilenweit auseinanderklaffen. Nur ein Beispiel: »die Eroberung« Palästinas, des Landes, das Gott dem Volk verheißen hatte. Sie wird geschildert als eine Folge von Kämpfen, von Niederlagen und Siegen nach dem obigen Muster. Die historische Forschung hat ergeben, dass sie undramatisch verlief: die nomadischen Stämme sickerten allmählich ein, ließen sich auf herrenlosem Gebiet nieder und übernahmen von den Kanaanäern den Ackerbau.
Aber das »falsche« Geschichtsbild bewirkte etwas Wichtiges für die damalige Gegenwart (7. Jahrhundert). Auch sie musste nach dem gleichen Schema gedeutet werden, und so gewann auch die reale historische Situation religiöses Gewicht. Und so ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass noch einmal eine Veränderung der religiösen Sicht durch reale historische Ereignisse ausgelöst wurde.
Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts v.Chr. drohten die damaligen Großreiche des Nahen Ostens, zunächst Assyrien und nach dessen Niedergang Babylonien, die beiden vergleichsweise winzigen jüdischen Königreiche zu erobern. 722 v.Chr. besetzten die Assyrer das Nordreich Israel, 587 v.Chr. die Babylonier das Südreich Juda. Und das hieß: Verwüstung des Landes, Zerstörung der Städte, Absturz der Überlebenden in Hunger und Elend; Deportation der politischen und religiösen Führungsschicht ins Exil. Schlimmer als die materielle war die religiöse Katastrophe: Jerusalem und der Tempel waren zerstört und damit der einzige, geheiligte Ort, wo man Gott opfern und ihn gemeinsam verehren durfte. Das schien das Ende des Judentums zu sein.
In dieser Katastrophenzeit von ca. 200 Jahren trat nun eine Reihe großer Propheten auf: Männer, deren Predigten auf viele (nicht alle - es gab auch viele Gegner) so großen Eindruck machten, dass sie von manchen Hörern aufgeschrieben wurden - und daher bis heute im der jüdischen und der christlichen Bibel stehen. Diese sogenannten Schrift-Propheten dachten neu und z.T. anders nach über das Verhältnis Jahwes zu seinem Volk. (Vielleicht müsste man auch sagen: sie erlebten es anders; darüber, wie solche Visionen und neuen Überzeugungen entstehen, wird man wohl nie etwas Sicheres sagen können.)
Geblieben war der unbedingte Glaube, dass Gott die Geschichte lenkt, durch direktes Eingreifen oder indirekt über Menschen, aber immer bis ins letzte Geschehen. Somit konnte die Katastrophe nur ein Strafgericht Gottes sein, dafür, dass das Volk seinen Geboten nicht gehorcht hatte.
Neu ist die Frage, um was für Gebote es dabei geht. Bisher war das klar: das Sich-Fernhalten von allem heidnischen Götzendienst und die peinliche Einhaltung aller religiösen Rituale, vor allem des Opferkults. Jetzt setzen einige Propheten andere, ethische Maßstäbe. In den Worten Jesaias bzw. Gottes: »Ich bin satt der Brandopfer... Euer Räucherwerk ist mir ein Gräuel! ... Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!« (Jes. 1, 11-14). Diese Sicht, dass Religion vor allem anderen Ethik sei, setzte sich damals nicht durch, aber sie steht bis heute auf der Tagesordnung.
Durch die Propheten des Exils und der unmittelbaren Folgezeit erhielt das alte Denken in den Kategorien von Verfehlung, Strafe und Vergebung eine neue Bedeutung. Mit der Katastrophe, dem Tiefpunkt des Elends, hat Israel seine Schuld abgebüßt - für immer. Gott wird vergeben - ebenfalls für immer. Denn nun - bald - wird er selbst sein Volk (die Verbannten) zurückführen nach Jerusalem und dort seine Herrschaft aufrichten: das Gottesreich. Dann würden alle wieder satt werden. Und keiner würde mehr dem andern schaden. Friede würde herrschen und Gerechtigkeit. Das ist eine begeisternde Vision. Vielleicht hat sie mit dazu beigetragen, dass die jüdische Religion damals nicht unterging. Ihre Bindung an die Geschichte bzw. an die eigene Geschichtskonstruktion hatte ihr ein neues, scheinbar konkretes Ziel gegeben.
Dazu passte, dass eine alte Verengung wenigstens teilweise durchbrochen wurde. Bis dahin war Geschichte israelische Geschichte. Die »Anderen«, die Heiden, waren die Feinde, um deren Vernichtung man betete; oder die Hilfsmittel, deren Jahwe sich bediente, um sein Volk zu bestrafen. Nun kamen, wenigsten an einigen Stellen, die Völker und Könige der umgebenden Länder anders ins Blickfeld. Sie würden lernen, die Größe Jahwes anzuerkennen und damit in das künftige Heil eingeschlossen sein. In die Sage von dem Urvater Abraham, die längst als Beginn der Geschichte Israels festgeschrieben war, wurde jetzt der Zusatz eingefügt: »Ich will dich segnen ... und in dir sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet sein«. In dieser Sicht war aus der israelischen Geschichte Weltgeschichte geworden, und sie führte zu einem von Gott gesetzten Ziel: der Gottesherrschaft. Sie war Heilsgeschichte geworden.
»Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob (die Israeliten), und lasst uns wandeln im Licht des Herrn«. (Jes. 2, 2-5).
Die vielen Bilder der Propheten von diesem Heilszustand sind so schön, dass sie uns bis heute begeistern können – ich erinnere an die Demostrationen in der Endphase der DDR mit dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen«.
Darüber übersieht man leicht, dass diese Vision von Anfang an in sich widersprüchlich war. Zum einen: Das versprochene Heil gilt in erster Linie Israel, erst in zweiter, abgeschwächter Form denen, die sich noch zu Jahwe bekehren. Für alle anderen wird es zum Unheilsversprechen: sie werden gerichtet, d.h. vernichtet.
Zum zweiten Punkt , der für unser Thema wichtig ist: Die Vision geht von der realen Geschichte aus. Der Perserkönig Kyros hatte inzwischen die Herrschaft über Babylon errungen. Als er 538 v.Chr. den verbannten Juden die Rückkehr erlaubte und sogar den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels aktiv förderte, schien das vielen als Beispiel und Beweis des direkten Eingreifens Gottes.
Zugleich aber reichte die Vision der Propheten weit über die reale Geschichte hinaus.
Bilder wie »da werden die Lämmer bei den Löwen liegen« beschworen etwas, was nach irdischem Maßstab nicht möglich war - eben den Anbruch des Gottesreichs durch direktes göttliches Handeln.
Die Vision hat sich nicht erfüllt und sie konnte sich nicht erfüllen. Trotzdem blieb die Idee der Heilsgeschichte lebendig - manchmal offen, manchmal nur unterschwellig - und hat ihrerseits immer wieder die reale Geschichte beeinflusst, zum Guten wie zum Bösen, ebenso wie die Frage, wie ein solcher Heilszustand kommen und wie er beschaffen sein sollte.
In einem zweiten Teil will ich wenigstens mit ein paar Streiflichtern auf diese Wirkungsgeschichte eingehen und damit auf die Frage, was diese Vision uns heute noch angeht.
Erkenntnisse eines jüdischen Grenzgängers
Baruch Rabinowitz studierte Theologie, Judaistik und Journalismus in Dänemark, Ungarn, Israel, Deutschland und den USA. 1973 in Moskau geboren, wurde er 1998 in Israel zum Rabbiner ordiniert und war als solcher in mehreren Gemeinden in den USA und in Deutschland beschäftigt. Er distanzierte sich von der traditionellen Form des Judentums, fand zur freien katholisch-apostolischen Kirche und wurde 2009 in Edinburgh zum Priester geweiht. Zu grundlegenden Fragen der Theologie hält er international Vorträge, insbesondere zur jüdischen und christlichen Mystik. 2010 erschien sein Buch in der Publik-Forum Edition.
Es ist etwas Besonderes, dass sich ein Jude mit Jesus auseinandersetzt und ich fand es beim Lesen des Buches immer wieder spannend und außerordentlich erhellend, Jesus aus dem jüdischen Blickwinkel beleuchtet zu bekommen.
Jesus steht zwischen Juden und Christen - in dem Maße, in dem er vom Christentum vereinnahmt wurde, ist er im Judentum abgelehnt worden. So ist denn auch der heftigste Vorwurf Rabinowitz’ an seine jüdischen Kollegen, dass Jesus - mit nur wenigen Ausnahmen - nicht als jüdischer Prophet, sondern immer als christlicher Heiliger angesehen wurde und dass die meisten jüdischen Gelehrten ihn ablehnten, ohne sich je mit ihm auseinandergesetzt zu haben.
Die Vorgehensweise Rabinowitz’, sich ganz konkret mit jenen Stellen zu befassen, die möglicherweise für das jüdische Verständnis Stolpersteine darstellen, finde ich sehr originell: er versetzt sich in die Zeit Jesu und mischt sich sozusagen unter die Jünger - so erlebt er Jesus hautnah und kann ganz direkt Bezug nehmen auf Bibelstellen, die Diskussionsbedarf aufkommen lassen. Der Leser erhält viel Hintergrundwissen über das Judentum und erfährt, warum gewisse Fragestellungen Protest herausfordern. So behandelt er das Auftreten Johannes des Täufers, die Versuchung Jesu durch den Satan, die Bergpredigt, Gespräche mit den Jüngern, Gleichnisse, Jesu Stellung zum Sabbat, die Tempelreinigung, das Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung.
Dabei ist überraschend, wie er für jede zweifelhaft erscheinende Stelle offenbar problemlos Möglichkeiten findet, Jesu Aussagen und Handeln auch aus jüdischer Sicht zu rechtfertigen. Ein wichtiger Punkt aber muss dabei bedacht werden: das Judentum zur Zeit Jesu unterscheidet sich zum heutigen in etwa so, wie die erste christliche Gemeinde, einer Kommune, in der das Eigentum unter allen geteilt wurde, mit der heutigen Institution Kirche - vielleicht sogar noch mehr, denn der zweite Tempel existierte noch und das Judentum war eine völlig zentralisierte Religion; Synagogen heutiger Ausprägung gab es damals noch nicht. Aber es gab viele Traditionen, die nebeneinander bestanden - Jesus setzt sich u.a. mit Pharisäern, Sadduzäern und Zeloten auseinander.
Für den Verfasser eröffnete die Auseinandersetzung mit Jesus den Blick auf eine völlig neue Welt, eine Welt, die viel weiter, offener und bunter war, als er sie zuvor gesehen hatte. Denn zuvor hatte er gelernt, dass die Thora nur für das Volk Israel bestimmt sei und kein anderes Volk daran teilhaben könne; dass die Welt aus Israel auf der einen Seite und lauter Feinden auf der anderen bestehe. Nun, da durch Jesu Interpretation der Nächste, den zu lieben das Gesetz gebot, nicht auschließlich ein Jude war, sondern jeder, der begegnete, gehörte er zu einer viel größeren und umfassenderen Familie als zuvor, war er nicht mehr nur Teil seines Volkes, sondern Teil der ganzen Menschheit.
Hinzu kommt, dass Jesus nicht der zentralen jüdischen Auffassung entsprechend vom kollektiven Bewusstsein und vom kollektiven Schicksal Israels spricht, sondern sich an den Menschen als Individuum wendet. Damit beginnt eine Ich-Beziehung zu Gott, das individuelle Denken und die individuelle Verantwortung für das eigene Tun. Hierzu gehört die Auseinandersetzung Rabinowitz’ mit dem Ritus, der ihm als Ausdruck des religiösen Gefühls durchaus wichtig ist, dieser aber problematisch wird, wenn er den Inhalt der Religion ersetzt. So wirft Rabinowitz dem heutigen orthodoxen Judentum vor, dass das Befolgen der rabbinischen Gesetze, die alle Aspekte des menschlichen Lebens regeln, nicht nur dazu führt, dass viel mehr auf das Äußerliche geachtet wird, sondern auch zu Trennung und Absonderung. Am Christentum kritisiert Rabinowitz, dass es heute dieselbe Struktur aufweise, die Jesus damals im Judentum abgelehnt habe.
Für Rabinowitz bedeutete die Auseinandersetzung mit Jesus, die eigene Religion, den eigenen Glauben und Ritus zu überprüfen und festzustellen, was dafür und was dagegen spricht. Die »Begleitung« Jesu ließ ihm Jesu Botschaft und Handlungsweise immer verständlicher und schlüssiger erscheinen und so kam er zu dem Schluss, dass es viel Sinn ergebe, Jesus zu folgen - nur an ihn zu glauben, dagegen keinen; Jesus selbst hat nie nach dem richtigen Glauben gefragt, sondern immer nach dem richtigen Handeln. Trotzdem gibt es auf die Frage, wie man Jesus folgen soll, keine einheitliche Antwort - die muss jeder für sich selbst finden. Denn Jesu Lehre ist nicht eindeutig und so ist bislang jeder Versuch, sie zu systematisieren, misslungen. Daher sieht Rabinowitz die Aufgabe jeder Generation darin, Jesu Lehre für ihre spezielle Zeit und ihren Ort zu adaptieren, sich von leerem Dogmatismus zu befreien und Gott in Geist und Wahrheit zu dienen.
Das Buch ist interessant und in verständlichem Stil geschrieben und bringt vieles durch die Erklärungen und Interpretationen auf einen Punkt, den wir mit unserer Auffassung gut in Einklang bringen können.
Schon im März-Heft der »Warte« berichteten wir von der Neuerscheinung des Buches »Deutschland und Deutsche in Jerusalem«, das Prof. Haim Goren und Dr. Jakob Eisler in diesem Jahr gemeinsam herausgegeben haben. Am 6. November ist nun die deutschsprachige Version im Haus des Evangelischen Oberkirchenrates in Stuttgart von Landeskirchenarchiv-Direktor Dr. Norbert Haag zahlreichen interessierten Gästen - unter ihnen einer Reihe von Templern - offiziell vorgestellt worden.
Dem Buch liegt eine Vortragstagung zu Grunde, zu der 2007 der israelische Historiker Professor Goren ins »Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum« in Mishkenot Sha’ananim, Jerusalem, eingeladen hatte und an der neben israelischen Geschichtswissenschaftlern auch mehrere Experten aus Deutschland beteiligt waren. Es war die erste größere Veranstaltung über dieses Thema in Israel gewesen und hatte große Beachtung in der Bevölkerung gefunden; der große Vortragssaal des Tagungszentrums konnte gar nicht alle interessierten Zuhörer fassen. Die Referate waren in Hebräisch, Englisch oder Deutsch gehalten und jeweils simultan übersetzt worden.
Die Vorträge sollten die vielen Facetten der Geschichte Jerusalems und den Beitrag der deutschen christlichen Institutionen zur Entwicklung, Modernisierung und Erforschung der Heiligen Stadt darstellen. Deren Aktivitäten in den Bereichen von Erziehung, Landwirtschaft, Sozialfürsorge, Gesundheitswesen und Tourismus werden in dem neuen Band nun auch einem erweiterten Interessentenkreis zugänglich gemacht. Dass alle Referate in dem Buch in deutscher Sprache vorliegen, steigert den Wert dieser Publikation für unser Land beträchtlich.
Wie Dr. Haag mit Recht darauf hinwies, haben viele Aktivitäten im damaligen Jerusalem von Württemberg ihren Ausgang genommen, und es müsste im Titel eigentlich heißen: »Württemberg in Jerusalem«, wenn man allein an das große Werk des »Syrischen Waisenhauses« von Johann Ludwig Schneller aus Erpfingen denkt, an die architektonischen und städtebaulichen Arbeiten des württembergischen Baurates Conrad Schick aus Bitz oder an die Gründung der Deutschen Kolonie Rephaim durch den Müller Matthäus Frank aus Neuffen und durch andere Handwerker aus Kreisen der Templer.
Die »Ewige Stadt« hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Dass sie zu dem geworden ist, was sie heute ist, hat seinen Ursprung in dem großen Interesse der Deutschen, nicht nur der Württemberger, an dieser Stadt. So hatte beispielsweise Christoph Hoffmann aus Korntal - wie wir wissen - alles daran gesetzt, um die Zentralleitung und Höhere Schule seiner Glaubensgemeinschaft nach Jerusalem verlegen zu können, entgegen dem Rat seiner engeren Freunde, die in diesem Unternehmen zu große finanzielle Belastungen auf sich zukommen sahen. Doch für Hoffmann lag die Entscheidung eben in der hohen religiösen Bedeutung des Ortes.
Das Buch enthält hervorragende historische Darstellungen bekannter Werke, wie etwa die der Kaiserswerther Diakonissen, des evangelischen Jerusalemsvereins und der deutschen Katholiken. Der Reise Kaiser Wilhelms II. zur Eröffnung der protestantischen Erlöserkirche in Jerusalem ist ein gesondertes Kapitel gewidmet, wie auch den militärischen Geschehnissen im Ersten Weltkrieg, die den Referenten Yigal Scheffi zu der Eingangsfrage veranlasste: »Wer rettete eigentlich Jerusalem vor der Zerstörung?«
In den Erinnerungsschriften der Templer werden neben den Schulen von Jerusalem, wie »Talitha Kumi«, besonders die deutschen Krankenhäuser und die verschiedenen Gewerbetreibenden der Deutschen Kolonie erwähnt, für den Reiseverkehr etwa die Reisebüros Fast und Kübler sowie das große Fast-Hotel beim Jaffator. Wer schon einmal Erinnerungsschilderungen der Vergangenheit gelesen hat, kann sich durch das neue Jerusalem-Buch weitere Informationen dazu geben lassen.
Die historischen Darstellungen sind überwiegend mit Bildern angereichert. Im Buch enthalten ist auch mein Aufsatz über die verschiedenen Handwerker unter den Templern, die durch Privatinitiative die Kolonie Rephaim gegründet haben. Ein Personenindex sowie eine Bibliografie ist beigefügt. Das Buch kann bei der Verwaltung der TGD bestellt werden. Der Preis beträgt 25 Euro zuzüglich Versandkosten.
Als eine Ergänzung zu dem oben beschriebenen umfassenden Jerusalem-Buch von Haim Goren und Jakob Eisler können die Lebenserinnerungen des württembergischen Pfarrers und späteren Göppinger Dekans Otto Heinrich Stahl gelten, die Dr. Jakob Eisler ebenfalls in diesem Jahr in Buchform herausgegeben hat.
Jakob Eisler (Hg.) »Otto Stahl, Pfarrer in Nahost und Schwaben, Lebenserinnerungen« Kleine Schriften des Vereins für württembergische Kirchengeschichte, Nr. 11, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-944051-00-0
Der junge Pfarrer Otto Stahl aus Horb am Neckar war im Jahr 1900 als Hilfsprediger an die Propstei der protestantischen Erlöserkirche in Jerusalem berufen worden und sollte neben den Gottesdiensten auch Unterricht an der dortigen deutschen Schule erteilen, was ihm ein ordentliches Arbeitspensum aufgebürdet hatte.
Interessant für unsere Leser dürfte neben der allgemeinen Beschreibung des Lebens in der Stadt Jerusalem vor allem die Erwähnung und Charakterisierung bedeutender Persönlichkeiten unter den damaligen Deutschen sein, wie z.B. des Templer-Pioniers und Baustoff-Händlers Carl Hugo Wieland, des Leiters des deutschen Diakonissen-Krankenhauses Dr. Samuel Hoffmann, des Leiters der Schneller’schen Anstalten Theodor Schneller, des Direktors der Deutschen Palästina-Bank Wilhelm Faber oder des Arztes des Aussätzigen-Asyls Jesushilfe Dr. Einsler.
Auch die Tempelkolonie Rephaim wird von Stahl erwähnt und beschrieben, wobei seine Charakterisierung der templerischen Gottesdienste - offensichtlich hatte er solche damals schon besucht gehabt - recht kritisch ausfällt: »Sie waren in der Form so nüchtern als möglich und inhaltlich einer pietistischen Erbauungsstunde zum Verwechseln ähnlich« (was eigentlich widersprüchlich ist: »nüchtern« und gleichzeitig »erbaulich«).
Sicher wird mancher unter unseren Lesern auch schon Spendenaufrufe der Johanniter-Unfallhilfe in seinem Postkasten vorgefunden haben. Dabei wird den Empfängern der Post sicher nicht immer geläufig sein , dass der Ursprung des Johanniterordens mit Jerusalem zu tun hat. »Der Orden ist in Deutschland eine der wichtigsten, wenn nicht die größte private Organisation im Krankenhauswesen, bei der Ersten Hilfe und der Altenbetreuung« - so formuliert es eine kleinformatige Broschüre, die als dritte Neuerscheinung dieses Jahres hier vorgestellt werden soll:
Jörg Bremer/Jakob Eisler/Petra Heldt »Jerusalem und der Johanniterorden« Schriftenreihe Edition Auguste Victoria Band 1, Jerusalem 2012, ISBN 978-965-7221-99-0
Beschrieben werden in dem 54 Seiten umfassenden Büchlein das Johanniter-Hospiz in der Altstadt von Jerusalem, eine Herberge, die in früherer Zeit den aus Europa angereisten Besuchern der Heiligen Stadt willkommene Unterkunft bot, sowie die Kaiserin-Victoria-Stiftung auf dem Ölberg und ihre Verbindung zum Johanniterorden.
»Wenn etwas unklar ist und Fragen bestehen,« heißt es im Vorwort, »müssen aussagekräftige Informationen zur Hand sein. Jörg Bremer, selbst ein Johanniter, der als Korrespondent einer großen Tageszeitung viele Jahre in Jerusalem lebte, und Petra Heldt, eine Berliner Pfarrerin, die ebenfalls seit vielen Jahren in der Heiligen Stadt arbeitet, haben die Informationen in dieser Broschüre zusammengestellt. Jakob Eisler vom Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart hat zwei gut dokumentierte Abschnitte zum Johanniter-Hospiz in der Jerusalemer Altstadt und dem großen Auguste-Victoria-Komplex auf dem Ölberg hinzugefügt.«
Einen Blick unserer Leser wert sind die Namen von Templern, die an der Erbauung der Auguste-Victoria-Stiftung mitgewirkt haben und in der Broschüre erwähnt sind: Karl und Hugo Wieland, Bauunternehmer Sebastian Blaich und Friedrich Karl Ehmann, Schreinermeister Christian Imberger, Baurat Gottlieb Schumacher und Regierungsbauführer Gottlob Sandel.
Jeder Reisegruppe, die die Stadt Jerusalem und den Ölberg besucht, sollte dieses kleine Büchlein in die Hand gegeben werden.
Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Markus 3, 31-35)
Wer - wie ich - mit dem traditionellen Jesus-Bild groß geworden ist, für den enthält diese Bibelstelle zunächst die überraschende Erkenntnis, dass Jesus kein Einzelkind war, sondern - wie für die damalige Zeit üblich - vermutlich zahlreiche Geschwister hatte. Was aber mehr auffällt und geradezu provozierend wirkt, ist der Umstand, dass Jesus sich um das traditionelle - und auch heute noch vielfach beschworene - Rollenbild der Gesellschaft in keiner Weise schert, um das Eingebundensein des Einzelnen in den Verband von Familie und Sippe, von Stamm, Volk und Nation. Für den ausgeprägten jüdischen Familiensinn muss seine offene Distanzierung von der eigenen Familie damals geradezu anstößig gewirkt haben. Dabei spricht aus dieser Szene nicht so sehr die Ablehnung der eigenen biologischen Familie, sondern - siehe die Betonung von »drinnen« und »draußen« - mehr die Abnabelung, die Emanzipation und innere Befreiung Jesu von der Tradition. Kennen nicht auch wir das Schuldgefühl, es den Eltern nicht recht machen zu können? Haben wir sie nicht manchmal insgeheim verwünscht, dass sie uns nicht loslassen konnten und bis ins Erwachsenenalter erziehen wollten? Waren nicht auch wir häufig lieber mit Freunden und Gesinnungsgenossen unterwegs als mit den Eltern oder den Geschwistern? Und haben wir nicht selbst manchmal die Fehler der Eltern wiederholt, indem wir unsere eigenen Kinder zu sehr einengten und bevormundeten? Es scheint eine immer wiederkehrende Geschichte von Abnabelung und Trennungsschmerz, von Freiheitsdrang und Schuldgefühlen auf beiden Seiten in dem Reifeprozess der Generationen zu geben. Was Jesus demgegenüber wollte und verwirklichte, war ein Zusammengehörigkeitsgefühl einer Familie von Menschen, die dem Ziel der Liebe zu Gott und den Menschen und damit der Arbeit am Reich Gottes stärker verpflichtet war als dem angstbesetzten Denken in traditionellen Kategorien. So besehen, steckt in der kleinen Geschichte von der wahren Familie Jesu das Angebot der offenen Tür zu dieser Gemeinschaft auch für uns heute, die wir zwar nicht zur gleichen Volksgemeinschaft wie der Wanderprediger aus Galiläa gehören, aber sich Jesus im Denken und im Geiste verbunden fühlen. Die Chance zur Nachfolge, gewissermaßen zum »Familienanschluss«, ist auch für uns gegeben.