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Studiendirektor i.R. Otmar Kurrus, Diplom-Mathematiker und leidenschaftlicher theologischer Denker, war langjähriges Mitglied des Bundes für Freies Christentum und Autor zahlreicher Beiträge in dessen Zeitschrift »Auf der Suche nach neuen Wegen«. Mit Datum vom 7. Juli 2009 verfasste er eine »Rede an meinem Grab«. Sie sollte bei der Trauerfeier anlässlich seines Todes verlesen werden. Kurrus, geboren am 24. Mai 1929, starb am 23. Juni 2012. Auf der Todesanzeige ist zu lesen: »In Natur, Musik und Kunst fand er einen Abglanz Gottes. Sein Bemühen galt der Zusammenschau des westlichen und östlichen Denkens.« Abgedruckt ist unter anderem ein chinesisches Sprichwort: »Besser auf neuen Wegen / etwas stolpern, / als im alten Pfad / auf der Stelle treten.« Bei der Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung am 6. Juli 2012 auf dem Hauptfriedhof in Freiburg verlas sein Freund Dr. Gerhard Augustin die Trauerrede, die im Folgenden dokumentiert wird.
Liebe Anwesende,
es ist mein Wunsch und Wille, dass an meinem Grab weder unverbindliche noch gar unzutreffende Worte gesprochen werden. Deshalb sollen die folgenden Sätze als eine Art von Totenpredigt vorgelesen werden. Sie sind zugleich mein Glaubensbekenntnis.
Sie haben sich zu einer Trauerfeier versammelt. Im Urchristentum hätte man sich über den Tod gefreut. Man glaubte, der Gestorbene würde dem Herrn Jesu begegnen und mit ihm in das von ihm verkündete und unmittelbar erwartete Gottesreich eingehen. Doch das Reich Gottes ist bis heute nicht angebrochen. Muss man wegen dieser Fehleinschätzung Jesu verzweifeln?
Ich bin im Glauben an Gott gestorben. Doch war es nicht der kirchliche Gott. Dass mit diesem Gott etwas nicht stimmt, zeigt das Theodizeeproblem: die Rechtfertigung Gottes angesichts des unverschuldeten Leides der Menschen. Sämtliche Versuche der Philosophen und Theologen während der fast zweitausendjährigen Geschichte des Christentums, dieses Problem zu lösen, sind gescheitert. Nach wie vor belastet das Leid des Menschen Gott und ist der Grund für Atheismus bzw. Gleichgültigkeit.
Gott ist kein übermenschlicher Vater. Er ist nicht nur Person, er ist auch der Urgrund des Seins. Ich glaube also an die Transpersonalität Gottes: er ist personal und zugleich apersonal. Und zwar im Sinne der holistischen und dynamischen Bipolarität des altchinesischen Yang und Yin, den Wirkkräften des Tao, das ein anderer Name für die Gottheit ist.
Gott befindet sich nicht außerhalb der sichtbaren Welt, er ist nicht nur im »Himmel«. Er ist das Größte und zugleich das Kleinste. Er ist in allem, das er aber auch umfasst. Ich glaube also an einen panentheistischen Gott: alles ist in ihm. Er ist verborgen in der Natur und im Weltall, das er umfängt. Sein Geist ist im Menschen. Alles durchdringt er und geht doch nicht darin auf. Jedoch ist er für unsere alltäglichen Sorgen und Nöte - dazu gehören auch Krankheiten - im allgemeinen nicht zuständig. Er ist kein »Mädchen für Alles«.
Diese Gottheit, die das Universum erschuf und es auch erhält, hat auf unserer Erde die Evolution in Gang gesetzt. Ihr Geist war bereits latent in der Materie vorhanden. Während in Pflanze und Tier noch die ursprüngliche göttliche Einheit vorhanden ist, spaltete sich diese bei der Entstehung des Menschen durch Selbstorganisation der Materie gemäß dem Willen Gottes in Subjekt und Objekt, in den Erkennenden und das Erkannte. Durch diese Trennung entstand das Gute und das Böse. Sie war notwendig, um im Menschen Selbstbewusstsein und freien Willen entstehen zu lassen.
Nur durch die Entstehung des menschlichen Bewusstseins war es Gott möglich, in Erscheinung zu treten. Insofern braucht er den Menschen. Auch konnte dieser am Werke Gottes als der kleinere Partner mitwirken. Denn die Evolution hat eine Aufgabe und ein Ziel. Durch sie soll die ursprüngliche vorbewusste Einheit auf einer höheren Ebene zurückgewonnen werden.
Ich glaube an den Christus Jesus, an den Gesalbten Gottes, den größten jüdischen Propheten und Weisheitslehrer, aber nicht an Jesus Christus als die zweite göttliche Person. Denn erstens ist es vermessen, über die innere Struktur der Gottheit zu spekulieren. Sie ist ein Geheimnis und wird es immer bleiben. Und zweitens gab es weder beim Übergang vom Tier zum Menschen noch in der Frühzeit des Menschen eine Ursünde, die sich vererbte. Sowohl in der gesonderten Erschaffung des ersten Menschenpaares, ohne Anbindung an das Tierreich, als auch in der Abstammung von einem einzigen Menschenpaar - von der Molekularbiologie längst widerlegt - irrt die Bibel. Der Sündenfall fand nie statt. Das Christentum hat, beginnend mit Paulus, den einmaligen jüdischen Sündenfall auf alle Nachkommen ausgedehnt. Die sündige Menschheit - eine Folge der Erbsünde - erforderte nach Paulus den Opfertod Jesu; und dieser - da es galt, eine kollektive Sünde zu sühnen - machte die Vergöttlichung Jesu notwendig.
Doch Jesus war nach den Synoptikern, den drei frühesten Evangelisten, nur Mensch. Einzig der sehr späte »Johannes« behauptete seine Präexistenz in Gott, beschreibt ihn gewissermaßen als Gedanken Gottes. Jedoch auch Sokrates, Buddha und Konfuzius waren solche Gedanken.
Der Ausschließlichkeitsanspruch des Kirchenchristentums hat viel Leid in der Welt hervorgerufen. Der Mensch Jesus ist weder in den Himmel aufgefahren noch zu den Toten hinabgestiegen. Dies sind überholte Vorstellungen eines dreistufigen Weltbildes mit der Erdscheibe in der Mitte. Er wird auch nicht am Ende der Zeiten zu Gericht sitzen.
Ob Gott richten wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls wird ein solches Gericht mit unseren irdischen Vorstellungen wenig zu tun haben. Es gibt kein Fegefeuer und keine Hölle. Sie dienten vor allem der Festigung der Priestermacht und haben in der Vergangenheit unzählige Menschen sehr geängstigt. Natürlich gibt es auch keinen Teufel. Diese Verkörperung des Bösen kam in die hebräische Bibel durch östliche, besonders persische Einflüsse. Als zweiter Gott hat der Satan bis heute die dualistische Haltung des Kirchenchristentums bewirkt und unheilvoll beeinflusst. Selbst Jesus hat fälschlicherweise an ihn geglaubt. Als Mensch seiner Zeit war auch er gegen Irrtum nicht gefeit.
Aber Jesus ist von Gott auferweckt worden. Die Vision des Petrus, die bereits Paulus erwähnt, muss man ernst nehmen. Es ist eine rein geistige Auferweckung, die wir uns alle erhoffen. Der Mensch ist zu Selbstbewusstsein und freiem Willen gelangt, ist damit Person. Wenn es Gott gibt, der dies plante und veranlasste, so wäre es widersinnig anzunehmen, dass dieser Gott mit dem Tod dieses Personsein auslöschte.
Allerdings bedeutet individuelles Weiterleben nicht, dass wir um unsere irdische Vergangenheit wissen werden. Und auch das Geschehen auf der Erde nach unserem Tod kümmert uns nicht mehr. Denn Leben in Gott ist so überwältigend, dass alles Irdische versunken ist.
Ich werde also, liebe Anwesende, Ihre Teilnahme an meinem Begräbnis gar nicht wahrnehmen. Trotzdem danke ich Ihnen herzlich. Als Zusammenfassung meiner Rede denken Sie immer: die Gottheit ist anders und größer als wir uns vorstellen können. Sie wird immer ein Geheimnis bleiben. Und entsprechendes gilt auch für das Leben nach dem Tod. Streifen Sie überholte Vorstellungen von Gott ab, die ihn unglaubwürdig machen. Enthalten Sie sich Spekulationen über das Jenseits. Aber vertrauen Sie der Gottheit. Sie ist unsere einzige Hoffnung.
In unserem September-Heft warfen wir einen Blick zurück auf unsere Verbindungen der letzten 50 Jahre zu anderen freichristlich eingestellten Gemeinschaften und Freunden. Auch schon in der Zeit davor galt die Beobachtung freiheitlich ausgerichteter Vorgänge in der Christenheit der »Warte«-Redaktion als wichtige Aufgabe. So wurde u.a. in der Ausgabe vom 31. Mai 1929 über die erste Versammlung der "Vereinigung unitarischer und anderer freier christlicher Gemeinden Englands" in Manchester berichtet. Beobachter war der damalige Tempelvorsteher Christian Rohrer. Im Folgenden geben wir Ausschnitte aus den Ansprachen sowie seine Kommentierung wieder.
Der Vorsitzende der Versammlung, Dr. Gow, beschrieb das Band, das die neu gegründete Vereinigung umschlinge, in seiner Eröffnungsrede mit den folgenden Worten: »Nicht eine Bekenntnisformel, sondern ein Gebet ist das Band, das uns vereinigt. Es ist das Gebet des Herrn, nicht das "Apostolische Glaubensbekenntnis", das uns zusammenschließt. Es ist die Bitte um das Kommen des Königreichs Gottes auf Erden, die Bitte um Vergebung, d.h. Befreiung und Erlösung von unseren Irrtümern und Sünden durch die Liebe Gottes; die Bitte um Kraft in der Versuchung. Es ist die Bitte um die klare Erkenntnis, dass wir selbst und die ganze Welt unter der Führung und Leitung unseres Vaters stehen. Dies ist der Glaube, der in Jesus wirksam war, und der geistige Gehalt seines Lebens. So schwach und unbedeutend wir uns selbst wie auch anderen oft vorkommen mögen, so unwert wir uns selbst oft fühlen mögen, wir wagen es dennoch, dieses Gebet für den Ausdruck unserer höchsten Hoffnungen, unseres tiefsten Sehnens und unserer festesten Überzeugung zu erklären.«
Zur Ergänzung des Vorstehenden seien noch aus der Schlussrede des Rev. T. Herford, welche die religiöse Bedeutung der Reichgottesidee für die Gegenwart zum Thema hatte, folgende Sätze angeführt: »Die Verkündigung des Reiches Gottes war das oberste Bestreben Jesu, und der Gedanke hieran stand im Mittelpunkt seines Denkens. Was er auch immer darunter verstand, davon zu sprechen lag ihm mehr am Herzen als über irgendetwas sonst. Der Gedanke daran bildete den Hintergrund seiner gesamten Lehrtätigkeit, und der Wunsch, diesen Gedanken im Leben der Menschen wirksam zu machen, war der oberste Beweggrund seiner Wirksamkeit. Nicht nur lebte er dafür, sondern er starb dafür.
Kein Versuch ist jemals gemacht worden von Seiten der Christenheit als Ganzem, die Idee des Königreichs Gottes, wie Jesus sie verstand, zu verwirklichen. Sie ist dem Wortlaut nach gelehrt worden, weil sie im Gebet des Herrn enthalten ist, aber sie ist unbeachtet geblieben ihrem Wesensgehalt nach. Und was ihren ganzen wirklichen Einfluss betrifft, den sie auf die geschichtliche Entwicklung des Christentums gehabt hat, so könnte sie ebenso gut überhaupt niemals verkündigt worden sein. Die christliche Kirche war nie dasselbe wie das Reich Gottes, weder tatsächlich noch ihrem Streben nach, und dies hatte zur Folge, dass für das Reich Gottes niemals die wirkliche Möglichkeit bestand, das zu werden, was Jesus darunter verstand, nämlich die oberste Tatsache des religiösen Lebens, des individuellen wie des sozialen.«
Man möchte wünschen, dass die Erkenntnis der zentralen Stellung der Reich-Gottes-Idee in der Verkündigung Jesu und ihrer Bedeutung für die Gegenwart auch innerhalb der großen Kirchen unserer Zeit, zunächst einmal der protestantischen, Raum gewönne, weil nur auf Grund einer solchen Erkenntnis eine wahrhaft religiöse Erneuerung und allmähliche Überwindung des immer noch vorherrschenden konfessionellen Dogmatismus zu erhoffen ist.
Das Internet hat mittlerweile nahezu alle Lebensbereiche durchdrungen und Internetanwendungen wirken sich zunehmend auf das Alltagsleben aus. So ist der Anzeigenteil vieler Zeitungen in den letzten Jahren immer dünner geworden, denn viele Stellenangebote oder -gesuche, viele Kaufangebote und Kaufgesuche vom Auto bis zur Hochseeyacht, von Kleidungsstücken aller Art bis hin zu Immobilien finden sich (fast) nur noch auf digitalen Marktplätzen. In den Innenstädten geben alteingesessene Fachgeschäfte auf, denn das Internet sorgt - Segen und Fluch zugleich - für eine gnadenlose Preis- und Produkttransparenz, so dass sich Kunden vielfach zwar ein Produkt im Laden anschauen und dort auch gerne beraten lassen, dann aber im Internet nach günstigeren Einkaufsmöglichkeiten Ausschau halten. Ähnliche Erfahrungen wie der Einzelhandel mussten auch schon Reisebüros und Buchhandlungen machen. Und war das Internet früher mehr oder weniger eine Einbahnstraße, auf der Information und Bestellung - etwa in Online-Katalogen oder bei Online-Händlern - oder der Transport von E-Mails vorherrschten, so sind die Nutzer in den letzten Jahren zunehmend selber zu aktiven »Sendern« eigener Botschaften geworden, indem sie z. B. ihre Meinung in Bewertungsportalen und Internetforen kundtun, ihre Familienfotos in digitale Bildarchive im Netz hochladen, an Internetenzyklopädien wie Wikipedia mitschreiben, vielleicht sogar ein eigenes Internettagebuch (sog. Blog) betreiben und vor allem sich in sozialen Netzwerken austauschen. So tummeln sich nach einer Studie des Branchenverbandes BITKOM vom Mai 2012 bereits drei Viertel aller deutschen Internetnutzer in einem sozialen Netzwerk, bei der jüngeren Generation schon 85 %. Marktführer ist hier das amerikanische Unternehmen Facebook mit rd. 1 Milliarde angemeldeten Nutzern weltweit (über 20 Mio. in Deutschland). Diese interaktive Form der Internetnutzung wird vielfach auch als Web 2.0 bezeichnet. Viele übersehen bei diesen Aktivitäten allerdings, dass dabei immer mehr Datenspuren erzeugt werden, die allmählich Teil unserer »virtuellen Realität« werden und neben unser körperliches Dasein treten. Beschleunigt wird diese Entwicklung zudem durch immer kleinere und leistungsfähigere Geräte, die Internetanbindung von technischen Gegenständen (zum Beispiel Fahrzeugen oder Stromzählern) und vor allem den Siegeszug internettauglicher Mobiltelefone (Smartphones). Bezogen sich die vielfältigen Datenspuren früher auf vorangegangene Erfahrungen und Erlebnisse, so geht der Trend nun in Richtung Datenverarbeitung in Echtzeit, zum Beispiel in Form der Anzeige des aktuellen Aufenthaltsorts einer Person gegenüber seinen »Freunden« in einem sozialen Netzwerk oder in Form der Meldung des aktuellen Stromverbrauchs an den Stromlieferanten, damit dieser mit lastabhängigen Tarifen rasch auf die schwankende Stromerzeugung durch erneuerbare Energien reagieren kann. Und nicht zuletzt werten Suchmaschinen und Internethändler immer schneller und präziser unsere Anfragen aus; in wenigen Jahren werden die Suchmaschinen wissen, was wir möglicherweise wissen wollen, bevor wir die erste Taste am Computer gedrückt haben.
Zwar war und ist das Individuum auch in der realen Welt vielschichtig und zeigt sich - je nach Situation und sozialem Kontext - in unterschiedlichen Facetten. Der knallharte Manager kümmert sich in seiner knapp bemessenen Freizeit vielleicht liebevoll um pflegebedürftige Verwandte, der charmante Kollege am Arbeitsplatz wird vielleicht am Feierabend zum üblen Querulanten, wenn er sich bei einem Callcenter über seine letzte Telefonrechnung beschweren kann. Und das Doppelleben mancher Erzieher und Seelsorger, denen junge Menschen anvertraut waren, ist uns durch die Medienberichterstattung über sexuelle Missbrauchsfälle noch in Erinnerung. Insofern kann man die eigene Identität durchaus auch als eine Art Flickenteppich bezeichnen, von dem wir freiwillig immer nur bestimmte Stückchen anderen zeigen wollen, nahen Angehörigen natürlich andere als dem beruflichen Umfeld, anderen Mitgliedern des Sportvereins wiederum andere als ehemaligen Klassenkameraden oder gar dem langjährigen Hausarzt. Was und wie wir etwas preisgeben, hängt entscheidend von dem gemeinsamen Erlebnis- und Erfahrungshorizont, von dem Maß des Vertrauens und nicht zuletzt von dem Zweck des Informationsaustauschs ab. Zu der gewohnten »analogen Identität« ist mit den Datenspuren in der digitalen Welt aber eine weitere Identitätsschicht hinzugetreten, die - zumindest hypothetisch - viel weitreichender und vielschichtiger als die gewohnte Erscheinung des Individuums sein kann. Während wir tagtäglich nur relativ wenigen Menschen körperlich, ja selbst per Telefon und E-Mail begegnen, hat das Internet mit seinen vielen digitalen Tummelplätzen die Möglichkeiten für soziale Kontakte erheblich erweitert. Aber wie wirkt sich das auf uns und unsere Beziehungen zu anderen Menschen aus? Schafft die potentielle Transparenz und das »ewige Gedächtnis« des Netzes mehr Integrität oder Verstellung, mehr Freiheit oder mehr soziale Kontrolle, mehr Vertrauen oder mehr Misstrauen? Wie können wir lernen, mit den erweiterten Freiräumen verantwortungsvoll umzugehen?
Mit diesen und ähnlichen Fragen befassen sich derzeit nicht nur Netzaktivisten und Kulturkritiker, Wirtschaftsethiker und Datenschützer. Die Diskussion hat längst die Politik erreicht. Nicht von ungefähr sind einige der aktuellen Vorschläge der EU-Kommission zur Reform des europäischen Datenschutzrechts darauf ausgerichtet, die Identität der Nutzer gegen die Wirtschaftsinteressen der de facto dominierenden amerikanischen Internetkonzerne wie Google oder Facebook zu verteidigen, so etwa durch ein »Recht auf Vergessenwerden« im Netz (right to be forgotten).
Bei der Schlüsselfrage, unter welchen Identitäten wir im Netz agieren bzw. agieren können und dürfen, zeichnen sich mittlerweile zwei Denkschulen ab. Die eine tritt aufgrund der Geschichte des Internet, das aus einem universitären Forschungsnetz hervorging, und wegen dessen dezentraler und antihierarchischer Struktur engagiert dafür ein, dass - wie seit den Anfängen des Internet üblich - »falsche Identitäten« verwendet werden dürfen. Schließlich spiegele selbst eine ausgedachte Identität einen wahren Teil der Persönlichkeit wider und könne zur Selbstfindung beitragen. Die Befürworter dieser »freien« Internetkultur befürchten bei einem Zwang zur Verwendung von Klarnamen auch staatliche Kontrolle und die wirtschaftliche Ausbeutung der Nutzer. Diese Denkschule kann sich nicht zuletzt auch auf die Rechtslage berufen, denn nach dem deutschen Telemedienrecht hat der Diensteanbieter die Nutzung von Internetdiensten und deren Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist; über diese gesetzliche Vorgabe setzen sich Anbieter sozialer Netzwerke wie Facebook übrigens unbekümmert hinweg, indem sie in ihren Nutzungsbedingungen die Anmeldung unter dem echten Namen zur Pflicht machen, was viele Nutzer aber ihrerseits ignorieren.
In letzter Zeit mehren sich die Stimmen derer, die in der Anonymität des Netzes die Ursache allen Übels, also der Zunahme von Cyberkriminalität, der Verbreitung pornografischer Inhalte, von Mobbing und Rassenhetze im Internet sehen. Sie plädieren dafür, dass Nutzer im Netz quasi »mit offenem Visier« auftreten und sich nicht hinter einer virtuellen Maskerade verstecken sollen. Insofern begrüßen sie auch die restriktive Politik von Facebook. Wie eine aktuelle Umfrage von BITKOM zeigt, verwenden die meisten Nutzer in sozialen Netzwerken mittlerweile ihren vollen Namen, während in Foren oder Bewertungsportalen oder im Micro-Blogdienst Twitter noch Fantasienamen dominieren dürften.
Das Auftreten des Individuums im Netz unter echtem oder falschem Namen betrifft aber nur einen Aspekt der Problematik. Bedeutsamer dürften künftig die Möglichkeiten sein, die zahlreichen Datenspuren im Netz zu Bewegungs-, Verhaltens- und bald auch Meinungsprofilen zusammenzuführen. In den USA sind gezielte Internetrecherchen über Stellenbewerber bei 75 % der Personalchefs schon gängige Praxis; in Deutschland hinkt die Entwicklung noch etwas hinterher. Die Diskussion um die Befugnisse von Sicherheitsbehörden, selbst in sozialen Netzwerken virtuell gezielt auf Streife zu gehen, hat aber auch hier schon begonnen. In erster Linie sind es jedoch kommerzielle Interessen, die eine immer perfektere Profilbildung der Nutzer vorantreiben. Soziale Netzwerke basieren nämlich auf dem Geschäftsmodell, möglichst viele Daten der Nutzer zu sammeln, um diese mit individuell angepasster Werbung versorgen zu können; so gesehen sind sie weder sozial noch kostenlos, denn die Nutzer zahlen mit ihren Daten für das vermeintlich kostenlose Angebot. Bemerkenswerterweise ist dies den meisten Nutzern - wie eine aktuelle Untersuchung der TU Darmstadt in Zusammenarbeit mit HR-Info (»Der Preis des Kostenlosen«, Mai 2012) gezeigt hat - durchaus bewusst: So antworteten auf die Frage, ob sie es in Ordnung fänden, dass Anbieter wie z.B. Facebook, Google oder Apple Geld mit Nutzerdaten verdienen, rund ein Viertel der Befragten, dass sie nichts dagegen hätten, da der Dienst ja ansonsten für sie kostenlos sei. Fast die Hälfte fand das dagegen nicht in Ordnung, meinte aber resignierend, sich damit abfinden zu müssen. Nur knapp 15 % erklärten, dass sie so etwas ablehnten und den Dienst deswegen auch nicht benutzen würden. Auf die weitergehende Frage, ob sie Angst vor zu viel Macht der Internetanbieter hätten, erklärten knapp drei Viertel, dass sie durchaus Angst hätten, aber die Dienste trotzdem nutzen und sich dabei vorsichtig verhalten würden; bei jungen Nutzern unter 20 Jahren lag dieser Anteil sogar über 80 %. Entscheidend für die Einschätzung der Risiken war dabei die Sorge vor dem Verlust der Kontrolle über die eigenen Daten: Je mehr die Kontrolle beim Nutzer verblieb, desto eher wurde dem Betreiber vertraut und umgekehrt. Im Klartext: Nutzungsbedingungen, in denen dem Betreiber des sozialen Netzwerks eine übertragbare und weltweite Lizenz zur Nutzung der geposteten Bilder eingeräumt wird (so bei Facebook), sind offenbar nicht dazu angetan Vertrauen zu wecken. Deshalb sind hier gut verständliche Datenschutzbestimmungen und restriktive Voreinstellungen zu fordern. In Anbetracht der großen Verbreitung dieser Dienste, gerade unter jungen Menschen, kann es aber nicht darum gehen, diese digitalen Tummelplätze zu verteufeln. Junge Nutzer scheinen durchaus ein ambivalentes Verhältnis zu sozialen Netzwerken zu haben und die Risiken zu sehen. Die Betreiber werden gut beraten sein, das Vertrauen ihrer Nutzer nicht zu missbrauchen und deren informationellem Selbstbestimmungsrecht Vorrang einzuräumen. Jeder kann aber auch selbst durch Umsicht dazu beitragen, dass die Risiken beherrschbar bleiben. Und welche Priorität man echten oder virtuellen Freundschaften beimisst, hat ohnehin jeder selbst in der Hand.
Jesus erzählt das Gleichnis vom reichen Kornbauern als Mahnung an seine Zuhörer, und damit an uns, zu prüfen und überlegen, was in unserem Leben Sinn gibt und was uns wirklich »reich« macht.
Da ist dieser Bauer in der Erzählung, der über ein großes Vermögen verfügt, und jetzt noch durch eine gute Ernte reich an »Gütern« geworden ist. Das führt ihn nicht zu Dankbarkeit in der Erkenntnis des ihm geschenkten Segens, sondern er fängt an, sich Sorgen zu machen, wie er mit diesem Reichtum am besten umgehen soll, um ihn zu bewahren, besser noch, um ihn zu vermehren. Was soll er tun?
Er entschließt sich, seine Scheunen abzureißen und an deren Stelle neue zu bauen: »...und will darin sammeln alles, was mir gewachsen ist, und meine Güter; und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!«
In diese Selbstberuhigung bricht aber Gottes Wort ein: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?« Dem Bauern wird in diesem Wort seine Habgier gespiegelt, die auf äußeren Gewinn bedacht ist. Deswegen wird er in der Erzählung mit der Zielfrage für das Ganze konfrontiert, an die Vergänglichkeit der Dinge erinnert. Diese Perspektive scheinen dem reichen Bauern, zumindest im Moment, fremd zu sein. Das einzige Äquivalent für den Besitz ist ihm die Ruhe seiner Seele.
Für mich prangert Jesus in seinem Bild nicht Reichtum an sich an, sondern die Gefahr, dass eine Sucht, eben jene Habsucht daraus erwachsen kann, die alle Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn unseres Daseins entstellen. Wir laufen Gefahr, das Maß zu verlieren, maßlos immer weiter nach physischem Reichtum zu streben, ohne uns zu fragen, was wir letztendlich davon haben.
Leo Tolstoi macht das in einer Erzählung deutlich, die den Titel trägt: »Wie viel Erde braucht der Mensch?« Sie erzählt von einem Bauern, dessen ganzes Bestreben es ist, immer mehr Land zu besitzen. So hört er durch einen Kaufmann von den Baschkiren, wo das Land im Überfluss und so billig zu haben ist. Er entschließt sich, seine Heimat zu verlassen, um dort Land zu erwerben. Und es gelingt ihm, mit den Baschkiren einen seltsamen Handel zu erwirken: Für 1000 Rubel bekommt er so viel Land, wie er an einem Tag umrunden kann. Wenn er es nicht schafft, rechtzeitig vor Sonnenuntergang sein Ziel zu erreichen, dann soll sein Geld verfallen sein.
In der Nacht vor seinem großen Landrundgang wird der Bauer in einem Traum gewarnt. Die Baschkiren lachen ihn aus; und zuletzt sieht er den Teufel, der sich über eine reglose Gestalt beugt. In der reglosen Gestalt aber erkennt er sich selbst. Der Bauer jedoch verwirft diese Warnung und wetteifert am nächsten Tag mit der Zeit. Überall setzt er seine Zeichen, um zu beweisen, wo er gewesen ist. Vor lauter Habgier aber bemerkt er nicht, wie die Sonne schon am Untergehen ist. Er hastet dem Ziel zu und Angst packt ihn, dieses nicht mehr rechtzeitig zu erreichen, alles zu verlieren. Schließlich erreicht er das Ziel mit den letzten Strahlen der Sonne, doch er bricht zusammen und ist tot. Sein Knecht schaufelt ihm sein Grab: ein mal zwei Meter. Wie viel Erde also braucht der Mensch?
Ein »Narr«, der am Leben vorbeigelebt? Es geht um die Prioritäten, damit wir nicht am Leben vorbei leben. »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.« Das hätte der Narr zuerst zu seiner Seele sagen sollen, und damit hätte er getrost seine Scheunen bauen können. Wir leben nicht aufgrund unserer Tüchtigkeit, sondern aufgrund der Liebe des Allmächtigen.
Am 15. September wurde Rolf Beilharz offiziell aus dem Amt des Tempelvorstehers verabschiedet. Er hatte dieses Amt von Peter Lange übernommen, und, auf Bitten der Gebietsleitungen der TGD und der TSA, noch ein Jahr über die offizielle Amtszeit weitergeführt, da bis dahin noch kein Nachfolger gefunden war. Rolf hat dieses Amt als Tempelvorsteher im Namen und im Interesse der gesamten Tempelgesellschaft geführt. Er war vor dieser Amtszeit Gebietsleiter der TSA und weiterhin auch im Ältestenkreis tätig.
Ein für uns erkennbarer Schwerpunkt seiner Tätigkeit war sein Bemühen, die TSA und TGD als Teilgemeinden einer Gesellschaft zu bewahren. Das hat sich im schriftlichen Austausch zwischen den Gebieten gezeigt, besonders aber in den häufigen Besuchen bei uns. Er hat - oft zusammen mit seiner Frau Vyrna - an Gemeinde-Veranstaltungen teilgenommen, so z.B. an der 150er Jubiläumsfeier im letzten Jahr, am Wochenendseminar in Schönblick 2008, und an Gottesdiensten in unserer Gemeinde. Bei seinen Aufenthalten in Stuttgart hat er an den Sitzungen der Gebietsleitung und im Ältestenkreis beratend teilgenommen und damit das Band zwischen uns aufrecht erhalten. Und Rolf hat immer den Kontakt zu unseren Gemeindemitgliedern gesucht. Das hat eine persönliche Nähe gebracht. Für diese Bemühungen sind wir ihm sehr dankbar.
Die Vertreter der TSA haben Rolfs Arbeit im Sinne der Interessen der Gemeinde in ihrem Grußwort bei der Verabschiedungsfeier vor Ort gewürdigt (s. Foto zus. mit Mark Herrmann) -
sein Engagement zur Vorbereitung des englischsprachigen Templerhandbuchs, seine Arbeit an der Verbindung zum progressiven Netzwerk von Victoria, und auch für die für den Ältestenkreis wichtige Zusammenstellung des jährlichen »Losungskalenders«, um nur einige Beispiele zu nennen.
Rolf Beilharz' religiös-theologische Arbeit stand unter dem Motto, wie er es selbst in einem Grußwort in unserer Warte im Dezember 2007 formuliert hat: »Mich interessiert das Erkennen von Wahrheit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Religion. Muss religiöse Wahrheit in Gegensatz zu wissenschaftlicher Wahrheit stehen oder gibt es Brücken von einer zur anderen?« Dieser Fragestellung ist er während seiner Amtszeit treu geblieben und hat sie in Vorträgen häufig thematisiert. Ich meine, dass er dadurch auch das Interesse von jungen Zuhörern gewinnen konnte, zeigt es doch einen wesentlichen Aspekt templerischen Denkens: die Offenheit für zeitnahes Gedankengut im Rahmen biblischer Grundfragen.
Wir danken Rolf für seine Arbeit im Dienste und für das Wohl unserer Gemeinschaft. Wir wünschen ihm, zusammen mit seiner Frau Vyrna, einen wohlverdienten »Ruhestand« im Kreise der Gemeinde und der Familie, und Zeit für das geliebte Hobby des Singens im Chor.
Im Namen beider Gebietsleitungen wurde Rolf ein Geschenk überreicht als Zeichen unseres Dankes.