Dieser Sinnspruch hat mich unmittelbar angesprochen, als ich ihn zum ersten Mal las. Er bietet sicher in verschiedenerlei Hinsicht Anlass zum Nachdenken. Vordergründig will er uns bewusst machen, wie vieles es gibt, für das wir bei einigem Nachdenken dankbar sein dürfen. Sicher, wir sind wahrscheinlich noch dankbarer für das, was uns unmittelbar begegnet und Freude macht, für das, was uns - auch ohne langes Nachdenken - schön und gelungen erscheint. Dankbarkeit empfinden wir wohl immer dann besonders, wenn wir spüren, dass wir nichts dazu beigetragen haben und es quasi überraschend oder unverdient, ohne unser Zutun erhalten haben und genießen dürfen. So wie die Früchte des Feldes und die Gaben der Natur. Wir können uns an den Formen und Farben und an ihrer Vielfalt begeistern, weil wir wissen oder zumindest spüren, dass wir selber das nicht bewerkstelligen könnten und dass in der Natur eine Kraft am Werke ist, die wir nur ansatzweise begreifen und nachvollziehen können, so sehr wir uns auch bemühen.
Das ist mir bei der diesjährigen Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum, dem die Tempelgesellschaft korporativ angehört, wieder bewusst geworden. Die Tagung stand unter dem Motto: »Gott im Werden der Welt«; dahinter stand die Fragestellung, wie wir angesichts der aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse noch von Gott reden können, wo also gewissermaßen Gott noch Platz haben soll in unserer scheinbar weithin erforschten Welt. Vorgeführt wurden aktuelle Erkenntnisse, die einerseits immer weiter in das Weltall hinaus bis zu dessen Ursprung führen (Kosmologie), andererseits aber auch hinein in den unvorstellbar kleinen Bereich des Mikrokosmos unseres Gehirns (Hirnforschung). Es ist schon faszinierend, sich bewusst zu machen, welche bislang einzigartige Konstellation unsere Erde aufweist, die sich quasi in einer klimatischen Komfortzone rund um die Sonne bewegt: Gerade in einem idealen Sicherheitsabstand, so dass die Erde weder nur aus Wüste noch nur aus Gletschern bestehen konnte, dass eine Atmosphäre zum Atmen und zur Entstehung von Lebewesen entstehen konnte. Ob es außerhalb unseres Sonnensystems und unserer Galaxie (die selbst rund 200 Milliarden Sterne aufweist), in einer der bis jetzt abschätzbaren rund 100 Milliarden anderen Galaxien, intelligentes Leben gibt, wissen wir nicht. Und man mag auch einwenden, wenn es der Zufall nicht so gefügt hätte, wären wir jetzt gar nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Mir fällt es jedenfalls schwer, angesichts der scheinbaren Einzigartigkeit der kosmologischen Bedingungen der Entstehung unserer Erde an Zufall zu glauben.
Und auch die Erkenntnisse der Hirnforschung beinhalten ein fast unvorstellbares Zahlenwerk: Unser Gehirn verfügt über rund 100 Milliarden Nervenzellen, die durch etwa 100 Billionen Synapsen eng miteinander verbunden sind. Durchschnittlich ist eine Nervenzelle mit 1.000 anderen Nervenzellen verbunden. Die Forschung macht zwar Riesenfortschritte, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wenn nicht sogar beruhigend, wenn man selbst von renommierten Forschern hört, dass jede neue Entdeckung zehn neue Fragen aufwirft und das Staunen umso größer wird, je tiefer man vordringt. Denn selbst wenn man Gehirnströme messen und Reaktionen lokalisieren kann, so weiß man doch nicht, noch nicht, welche Gedanken sich gerade abspielen. Wer die Wunder dieser Welt, im Kleinen wie im Großen, betrachtet, kann aus meiner Sicht nicht anders als dankbar zu sein.
Wir können das Sprichwort »Wer denkt, der dankt« aber auch zum Anlass nehmen, uns immer wieder bewusst zu machen, wie gedankenlos wir die Gaben der Natur in Anspruch nehmen und wie wenig verantwortungsbewusst wir zumeist damit umgehen. Denn das Nachdenken über den Entstehungsprozess der Welt, so wie sie ist und wie sie uns umgibt, muss eigentlich unweigerlich über das Staunen hinaus zur Einsicht führen, dass wir eine ungeheure Verantwortung für das haben, was uns wie ein unverdientes Geschenk in den Schoß fällt und was wir oft wie selbstverständlich gebrauchen, verbrauchen und verschwenden. Nun ist natürlich klar, dass der Mensch diese Welt vielfältig selbst gestaltet und verändert hat und dass uns die Natur in der Regel nur als Ergebnis eines sehr langen Gestaltungsprozesses, als von Menschenhand gestalteter Kulturraum begegnet. Dennoch bleibt der Auftrag an uns, unsere Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung in Verantwortung umzupolen und unsererseits eine Gegenleistung für das große Geschenk der Schöpfung und für die Gaben der Natur abzuliefern, eben in Form eines rücksichtsvollen, gerechten und liebevollen Umgangs damit. Das gilt aber auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch hier wäre oft etwas mehr Dankbarkeit angebracht, die von Herzen kommt, statt den Dank nur floskelhaft zu gebrauchen.
In Abwandlung des eingangs genannten Sinnspruchs könnte man in Bezug auf die Tempelgesellschaft und deren religiöse Ausrichtung ergänzen: Danke, dass wir denken dürfen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass viele Mitglieder der Tempelgesellschaft gar nicht wissen, welchen Freiraum des religiösen Denkens sie genießen dürfen, was das wert ist und wie dankbar sie dafür eigentlich sein dürfen. Bei den einen mag das daran liegen, dass sie es nicht anders kennen. Wer die Unterschiede im Vergleich zu den großen Volkskirchen kennt, wird den Freiheitsgewinn natürlich anders empfinden als derjenige, der außer der Tempelgesellschaft nie eine andere religiöse Heimat hatte. Bei der Mehrheit der Mitglieder dürfte es aber wohl eher mit einem Desinteresse an theologischen Fragestellungen zu tun haben. Damit befinden sie sich ja auch in einer guten Tradition, denn auch Christoph Hoffmann hat bekanntlich das praktische Christentum propagiert und von der Theologie selbst nicht allzu viel gehalten.
Dennoch meine ich, müssen wir uns auch die Bedeutung der von der Tempelgesellschaft vertretenen Theologie immer wieder bewusst werden. Man kann sie im positiven Sinn als radikal bezeichnen. Radikal kommt vom lateinischen Radix = die Wurzel, und die Tempelgesellschaft greift tatsächlich auf die Wurzeln des Christentums zurück, auf die Zeit, als die dogmatischen Festlegungen über die Natur von Jesus, die Rolle des Heiligen Geistes und die Trinität noch in weiter Ferne lagen. Es geht - verkürzt gesagt - darum, wie Jesus zu glauben, nicht an ihn. Die Zeitgebundenheit der Dogmen tritt dadurch in den Hintergrund, und das sollte unsere Auffassung für viele rational denkende Menschen heute attraktiv machen. Die Tempelgesellschaft verkörpert eine so konsequent liberale Glaubensauffassung, dass sich eigentlich die meisten Christen bei uns gut aufgehoben fühlen müssten, gerade weil sie bei genauerer Prüfung der dogmatischen, historisch bedingten Glaubensgrundlagen ihrer eigenen Kirche Zweifel bekommen müssten. Deshalb sollten wir auch unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern immer wieder mutig unsere Alleinstellungsmerkmale offensiv nach außen vertreten.
Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal ist und bleibt sicher die Geschichte; die wird der Tempelgesellschaft auch keiner wegnehmen können und sie ist ja auch auf jeder Israelreise wieder lebendig. Aber mindestens genauso wichtig, und künftig noch wichtiger, muss für uns das theologische Profil sein, weil es viele Christen gibt, die zwar mit der Siedlungsgeschichte Palästinas nichts am Hut haben, aber auf der Suche nach einer religiösen Heimat sind und Zweifel an den kirchlichen Lehrmeinungen haben. Wenn uns dies gelingt, können wir auch über das 150. Jahr unseres Bestehens hinaus hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.
Zu diesem Dankfest-Gottesdienst wurden die Lieder "Himmel, Erde, Luft und Meer" (Tempel-Gesangbuch Nr. 6), "Vertraut den neuen Wegen" (Nr. 116), "Der Herr segne dich" (Nr. 191) gesungen.
Das jährliche Dankfest der Tempelgemeinde gilt nicht nur dem Erntedank, der die Grundlage unseres Lebens bildet, sondern dem Dank für alles, was uns von Gott gegeben worden ist. Dazu gehört vor allem jedes neue Menschenleben, weshalb an diesem Tag neu geborene Kinder vor der Gemeinde "dargestellt" werden.