Predigten und Ansprachen
Die Wandlung des Gottesverständnisses

Eine Hiob-Predigt von Karin Klingbeil in der Tempelgemeinde Stuttgart am 8. Mai 2011

 

Einleitungs-Lied: "Aus deiner Hand, Vater, nehm ich diesen Tag" (Tempel-Gesangbuch Nr. 61)

 

Trotz des schönen Wetters draußen beschäftigen wir uns heute mit einem schweren Thema, das uns alle mehr oder weniger und immer wieder in unserem Erdenleben betrifft: das Thema Leid. Unser Losungstext für heute steht im Buch Hiob, im ersten Kapitel:

 

Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!

 

Uns allen ist das Buch Hiob als das Buch der Bibel bekannt, in dem es um das Leid der Menschen auf Erden geht - nicht umsonst ist der Ausdruck "Hiobsbotschaft" zu einer stehenden Redewendung geworden. Früher fand ich die Geschichte immer empörend, denn sie beginnt ja in ihrer Rahmenhandlung mit einer Wette zwischen Gott und dem Satan. Zunächst wird Hiob als ein äußerst frommer, rechtschaffener und gottesfürchtiger Mann beschrieben, der es zu einer großen Familie und zu Wohlstand gebracht hatte. Er brachte Brandopfer dar, nicht, weil er meinte, er könne gesündigt haben, sondern weil er nicht sicher sein konnte, dass nicht vielleicht eines seiner Kinder gesündigt haben könnte. Dann wird von einer Versammlung "der Gottessöhne" vor Gott erzählt, zu der auch Satan hinzukommt. Gott selber fragt ihn nach seinem lieben Knecht Hiob, der auf der gesamten Erde beispielhaft sei. Und nun provoziert Satan Gott, indem er antwortet, dass es ja kein Wunder sei, dass Hiob gottesfürchtig sei, denn er habe ja alles, was man sich nur erträumen könne und Gott schütze ja sein Hab und Gut und segne das Werk seiner Hände. Wenn er das aber antaste, werde Gott schon sehen, dass es mit Hiobs Frömmigkeit nicht weit her sei und er von Gott ablassen werde.

Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Die ersten Hiobsbotschaften sind, dass Hiobs Herden teils gestohlen, teils vernichtet werden, dass seine Knechte erschlagen und alle seine Kinder unter einem Haus, das über ihnen zusammenstürzt, begraben werden und sterben. Nach diesen Nachrichten steht nun unser Losungstext: Hiob nimmt alles Unglück aus der Hand Gottes entgegen, denn er ist der Überzeugung, dass Gott das Recht hat, das, was er gegeben hat, auch wieder zu nehmen. So verbinden sich die Gesten der Trauer - die eigenen Kleider zu zerreißen und sich das Haupt zu scheren - mit der totalen Unterwerfung unter den Willen Gottes, sich auf die Erde zu werfen und sich tief zu verneigen. Mit seinem Lob Gottes in dieser Situation hat Hiob nicht nur die Probe bestanden, sondern sich noch viel gläubiger verhalten als erwartet.

Doch damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende: wieder kommt es zu einem Treffen der Gottessöhne und Gott wirft Satan vor, dass er Hiob ohne Grund "verdorben" habe und dieser trotzdem noch weiter an seiner Frömmigkeit festhalte. Doch Satan provoziert weiter und höhnt, dass Hiob, sobald es seine Person direkt, nämlich in Form von Krankheit treffen würde, er ganz sicher sofort von Gott ablassen werde. Hierauf gestattet Gott dem Satan, Hiob auch Krankheiten zu schicken, und stellt als einzige Bedingung, dass er Hiob am Leben lassen solle.

Auch das geschieht, so dass selbst Hiobs Frau ihn fragt, wieso er noch an Gott festhalte. Aber auch auf diese Frage antwortet Hiob aus tiefster Überzeugung: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?

Doch als er Besuch von drei Freunden erhält, die ihm zunächst nur beistehen und bei ihm aushalten wollen, beginnt Hiob, den Tag seiner Geburt zu verfluchen und sich zu wünschen, dass er nie geboren oder aber bei der Geburt gestorben wäre, um all das Leid seines Lebens nicht ertragen zu müssen. Nun meldet sich jeder der drei Freunde zu Wort, überzeugt davon, dass Hiobs Unglück ihm selbst anzulasten sei - denn Gott lasse keinen Unschuldigen leiden. In drei Gesprächsdurchgängen steigert sich der Disput der Freunde und die Beschuldigung, dass Hiob schwer gesündigt haben müsse. Doch Hiob rechtfertigt sich ausführlich und ist sich keiner Schuld bewusst.

Nun meldet sich ein vierter Freund zu Wort, der mit seiner Meinung neue Aspekte für das Leid Hiobs benennt, nämlich, dass Gott mit dem Leiden eine für den Menschen heilsame Absicht verfolgt. Damit ist Gott dann nicht mehr nur der Richter, der in seinem Vergeltungs­schema gefangen ist, sondern einer, der dem Menschen das Leid quasi als Erziehungs­maßnahme, als Prüfung oder Warnung, schickt.

Dann folgt ein Teil in der Hiobs-Erzählung, in der Gott selber spricht. Weder auf Hiobs Anklage, er sei ungerecht von Gott behandelt worden, noch auf seine Einforderung seines Rechts geht Gott ein - auch die Auffassung der Freunde wird von Gott nicht bestätigt. Stattdessen führt Gott in einer Fülle von Fragen, die Hiob allesamt nicht imstande ist zu beantworten, seine Allmacht in der Schöpfung, seine Weisheit in der Ordnung der Natur und seine Fürsorge für die Schöpfung und die Geschöpfe vor Augen. Dadurch erkennt Hiob seine Kleinheit und Ohnmacht und begreift, dass Gottes allmächtiges und planvolles Handeln zu Unrecht von ihm angezweifelt worden ist.

Am Ende der Erzählung kehrt der Verfasser zur Rahmenhandlung zurück - der Satan tritt nicht mehr auf, er hat seine Wette verloren, da Hiob sich durch alle Versuchungen hindurch bewährt hat. Daher erhält Hiob seinen Wohlstand doppelt zurück, ihm werden wieder ebenso viele Söhne und Töchter geboren, wie er sie zuvor hatte, er lebte noch hundertvierzig Jahre und stirbt alt und lebenssatt.

 

Bevor wir uns weiteren Gedanken zu dieser Erzählung zuwenden, singen wir gemeinsam "Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut" (Nr. 201)

 

Mich hat an dieser Erzählung immer empört, wie Gott in der Rahmenhandlung dargestellt wird, wie er sich von Satan provozieren lässt und einen Menschen, von dessen Frömmigkeit er überzeugt ist, dennoch derartig leiden lässt. Daran änderte für mich auch das "happy end" nichts, nach dem er sogar doppelt so viel besaß und ebenso viele "neue" Kinder erhielt. Diesen Umgang mit einem Menschen empfand ich als unwürdig, wenn er so zu einer Grundlage für Leid wird.

Aber natürlich ist die Erzählung nicht eins zu eins zu nehmen, und sie stellt auch nicht insgesamt ein Bild für eine bestimmte Aussage dar. Hiob mag eine historische Person gewesen sein - bei Hesekiel wird er als beispielhaft frommer, reicher Halbnomade zur Zeit der Patriarchen genannt. In der vorliegenden Erzählung über ihn ist ein Stoff aufgenommen worden, der von mindestens zwei Verfassern bearbeitet worden ist. Sie besteht einerseits - nämlich in der (mich so empörenden) Rahmenhandlung - aus altem, vorderorientalischem Erzählgut, und andererseits aus Weisheitsliteratur der nachexilischen Zeit. Darin taucht eine neue Fragestellung auf, eingebettet in wunderschöne Dichtung. Diese neue Fragestellung war aufgekommen, weil die Antworten der älteren Weisheitslehre nicht mehr genügten: jene hatte den Menschen einen sicheren Weg zu Glück und Erfolg versprochen und darüber hinaus eine Lösung der Lebensrätsel. Nach dieser Lehre war das Schicksal des Menschen das direkte Ergebnis seines eigenen Verhaltens, allerdings eingebunden in das Ergehen des Volkes. Das alte Testament spiegelt diese Auffassung allerorten wider: es geht immer um Ereignisse, die das Volk Israel treffen und die als Bestrafung interpretiert werden, weil das Volk ungehorsam gegenüber Gottes Geboten sei.

Für die späte nachexilische Zeit – das sind die drei Jahrhunderte vor Jesu Auftreten - wird kennzeichnend, dass der Einzelne nicht mehr, wie früher, in der Gemeinschaft seinen Halt fand und, verbunden damit, deren Schicksal problemlos teilte. Nun begann er sich als Individuum zu verstehen, das ein individuelles Lebensschicksal hatte. Jetzt wurden die überlieferten Lehren und Glaubensvorstellungen sehr viel differenzierter mit der von jedem Einzelnen erlebten Realität verglichen - und dabei wurde häufig ein Missverhältnis zwischen beiden offenbar. Das führte dazu, dass der überlieferte Glaube kritisch hinterfragt wurde - das Buch Hiob und das des Predigers (Kohelet) sind die beiden deutlichen Niederschläge dafür in der Bibel.

Bei Hiob vertreten die drei ersten Freunde die alte Position: sie sind davon überzeugt, dass Hiob gesündigt haben muss - und wenn man das Ausmaß seines Leides sieht, dann muss er sehr schwer gesündigt haben. Das kann für Hiob nur blanker Hohn sein, denn er ist sich keiner Schuld bewusst - und ruft daher Gott an, von dem ihm nach dieser Auffassung Unrecht geschieht. Das geht bis hart an Gotteslästerung heran, aber immer bleibt Gott für Hiob ein Gegenüber, mit dem er rechtet, immer ist Gott da, sonst würde Hiob nicht mit ihm reden.

Bei der Rahmenerzählung geht es um die Glaubens-Prüfung eines Menschen: in dieser hat Hiob den Test, ob er vom Glauben abfällt, wenn alles von ihm genommen wird, bestan­den. Seine Frömmigkeit bewährt sich in allen Heimsuchungen, und dafür wird Hiob am Ende durch mehr Wohlstand und neues Familienglück belohnt. Diese Rahmenerzählung wird durch die Reden des vierten Freundes - wahrscheinlich ein Einschub von einem weiteren Autor - inhaltlich unterstützt, denn dieser versucht, das Leid Hiobs im Gegensatz zur Einstellung der anderen drei Freunde als Prüfung zu erklären. Dem Verfasser der Dialoge zwischen Hiob, den drei Freunden und Gott allerdings geht es um etwas anderes: für ihn gibt es keine Antwort auf die Sinnfrage - die Frage des unschuldigen Leidens bleibt für ihn ungelöst. Er fragt sich eher, wie der Glaube an Gott trotz dieses ungelösten Rätsels bestehen und aufrecht erhalten werden kann.

Das ist genau die Frage, die wir bis heute stellen. Für wie viele Menschen ist eben diese Frage: "Wie kann Gott das zulassen?" Grund, sich vom christlichen Glauben abzuwenden. Sie können nicht damit umgehen, dass es auf unserer Welt tagtäglich für unendlich viele Menschen Leid, Hunger und Tod gibt - und im Christentum dennoch ein gütiger, liebender Gott verkündigt wird. Auch ich finde es unendlich schwer, das Leid Unschuldiger mit ansehen und erleben zu müssen - und wenn wir dann auch noch selbst von Leid betroffen sind, wird es noch schwerer.

Dann fragen wir uns zuerst immer einmal: Warum? Warum musste das jetzt passieren, warum hat gerade mich jetzt diese Krankheit getroffen? Das ist ganz normal, und diese Fragestellung zeigt nur, wie sehr uns etwas ganz persönlich betrifft; mit dieser Fragestellung beginnt unsere Auseinandersetzung mit dem, was uns da geschieht. Aber wir werden sehr schnell merken, dass wir auf die Frage nach dem Warum keinerlei Antwort finden werden. Für die meisten Ereignisse mögen wir sogar Zusammenhänge erkennen können, wie bei etlichen Krankheiten eben eine genetische Voraussetzung besteht oder unser gesundes oder eben ungesundes Leben gewisse Krankheiten begünstigt. Selbst bei Naturkatastrophen wie den immer mehr zunehmenden Wirbelstürmen wissen wir, dass unser Verhalten ursächlich für die Klimaerwärmung ist und daraus Stürme entstehen können. Aber das sind nicht die Antworten, die wir auf unsere Frage suchen - denn selbst wenn wir die Ursache kennen, bleibt immer noch die Frage, warum es einen trifft und den anderen eben nicht. Weshalb ist die Frage nach dem Warum falsch?

Sie setzt einen Zusammenhang voraus, und selbst, wenn es diesen Zusammenhang gäbe, könnten wir ihn nicht ergründen. Der Umgang mit diesen Fragen hängt ganz und gar von dem jeweiligen Gottesverständnis ab.

Wie bereits gesagt, stehen wir bei der Hiob-Erzählung in einer Zeit, in der sich das Gottesverständnis zu wandeln beginnt. Was für ein Gottesbild haben die Freunde Hiobs? Sie glauben an einen "moralischen Gott", der völlig nachvollziehbar und nach menschlichen Gerechtigkeitskategorien überschaubar und direkt Fehlverhalten bestraft und Wohlverhalten belohnt. Damit wird Religion zu einem Mittel zum Zweck, denn Gott wird verfügbar und die Frömmigkeit dient dem Eigennutz - wenn ich gottgefällig lebe, geht es mir gut. Diesen Sachverhalt unterstellt ja der Satan bei Hiob und möchte Gott zu gerne beweisen, dass Hiob vom Glauben abfällt, wenn er nichts mehr hat. Hiob aber zeigt, dass Religion für ihn etwas anderes bedeutet - sie bringt für ihn weder einen Vor- noch einen Nachteil: Unglück und Leid bedeuten nicht zwingend Folge von Schuld, und ebenso wenig bedeutet gerechtes Verhalten Garantie auf Glück: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Hiob sieht alles, was seinen Wohlstand und sein Glück ausgemacht hat, als Gabe Gottes an - und daraus ergibt sich auch völlig selbstverständlich für ihn das Recht Gottes, ihm all das auch wieder zu nehmen.

Als ihn auch noch Krankheit befällt, ist Hiob der Meinung, dass er so, wie er das Gute von Gott angenommen habe, er gleichermaßen das Böse annehmen müsse. Er beginnt erst dann wirklich zu leiden, als seine Freunde ihm klar zu machen versuchen, dass er durch Sünde seine Situation selbst verschuldet haben muss.

Diese Auffassung, dass Sünde mit Krankheit und Leid in direktem Zusammenhang stehen, besteht im traditionellen Judentum bis heute. Für Jesus dagegen galt sie nicht - gerade sein Verhalten Kranken und Sündern gegenüber war revolutionär und beeinflusste grundlegend die neue Bewegung, aus der sich das Christentum entwickelte. Dass wir heute ein solch großes Problem mit dem Leid haben, liegt gerade darin begründet, denn Jesus hat die Menschen das Mitleiden gelehrt, das Einschreiten, wenn unser Nächster leidet.

Auch mit Worten lehnte er den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit ausdrücklich ab, als ihn seine Jünger beim Anblick eines von Geburt an Blinden fragen, ob nun dieser gesündigt habe oder seine Eltern (Johannes 9, 1-3). Dasselbe gilt für jene Menschen, unter denen Pilatus ein Blutbad angerichtet hatte, oder für jene, die durch das Einstürzen eines Befestigungsturmes zu Tode gekommen waren - Jesus bestreitet vehement die durch die Jünger geäußerte Annahme, dass diese sündiger gewesen seien als andere (Lukas 13, 2-3).

Doch zurück zu Hiob, der sich aufrichtig keiner Schuld bewusst ist und sich nun gegen die ungerechte Behandlung durch Gott aufzulehnen beginnt. Damit kämpft er regelrecht darum, dass er nicht Abschied von seiner Vorstellung eines gerechten Gottes nehmen muss, damit nicht aus dem Gott, der als - immerhin gerechte - Strafe für Sündhaftigkeit Leiden schickt, ein willkürlich handelnder Gott wird. Er möchte Gott so erfahren, wie er ist. Deswegen verlangt er Rechtfertigung von Gott.

Nun leidet Hiob unter dem Schweigen Gottes, erst jetzt verflucht er seine Geburt und die Tatsache, dass er am Leben geblieben ist. Diese Erfahrung des Verborgenseins Gottes ist es, die ihn niederschmettert - nicht die Tatsache, dass Gott ihm, möglicherweise unver­hältnismäßiges oder auch ungerechterweise, Leid geschickt hat, nein, dass Gott schweigt und für ihn nicht vorhanden ist. Genau das ist das Empfinden eines jeden, der leidet: er fühlt sich von Gott und der Welt verlassen - und näher betrachtet, ist die Forderung nach der Rechtfertigung Gottes Hiobs "Warum?"

Aber auch Hiob erhält auf seine konkrete Frage keine Antwort, wenn auch Gott ihm schließlich begegnet und zweimal "aus dem Wettersturm" zu ihm spricht. Gott führt ihm in einhundertzwanzig wunderschönen Versen seine Schöpfung vor Augen und fragt Hiob, wo er denn gewesen sei, als Gott die Welt erschuf?

Das ist die einzige Antwort, die auch für uns aussagekräftig ist. Wir leben in einer Welt, die so ist, wie sie ist. In ihr gelten Naturgesetze, die ihre Wirkungen und Auswirkungen haben. Die erstarrende Erdkruste ist noch immer in Bewegung und daher reiben die Kontinental­platten aneinander - Ursache für Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche. Nicht Gott schickt den davon betroffenen Menschen aus nicht verstehbaren Gründen Leid, sondern sie befinden sich dort, wo dieses passiert und sind daher mitbetroffen. Das Leben auf dieser Erde spielt sich in immer fortlaufendem Werden und Vergehen ab - und auch wir Menschen sind als Lebewesen dieser Erde davon betroffen - einzig durch unsere Fähigkeit nachzudenken, sind wir auch in der Lage, unser Leben - und unser Leid - zu reflektieren. Und so, wie wir für alles Geschehen auf dieser Erde nach Ursachen suchen, suchen wir auch nach dem Sinn von Leid und begehen den Fehler, dieses Leid als spezifisch und individuell zugemessenes Leid zu verstehen. Nein, Gott will uns nicht durch Leid strafen, aber das Leid ist in dieser Welt als Konsequenz - und als solche wird es jeden von uns mehr oder weniger auch treffen. Wir würden kein Leid empfinden, hätten wir nicht unser Gefühl, mit dem wir auch all die Freude erfahren, die uns überhaupt leben lässt! Schmerz ist ein wichtiger körperlicher Indikator für Krankheiten - und, verglichen mit früheren Zeiten - wie viel lässt sich heutzutage medizinisch doch gegen Schmerzen und überhaupt gegen Krankheiten tun!

Hiob gibt Gott Recht. Nicht, weil er sich überfahren oder "untergebuttert" fühlt, sondern weil er durch die Begegnung mit Gott ehrlich erschüttert ist, etwas von seinem wahren Wesen gründlicher erfassen konnte. Für mich ist Hiob ein außerordentlich moderner Mensch - und das Anrührendste an seiner Geschichte ist für mich sein unbedingtes Festhalten an Gott. Nur dadurch erfuhr er später, dass Gott da war, auch wenn er schwieg. Auch für uns wird Gott immer auch ein Verborgener sein und ganz sicher gibt es auch für den Frömmsten genug Momente, in denen er unter dem Schweigen Gottes leidet. Selbst von Jesus lesen wir bei Markus den Aufschrei am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und wie auch ganz elementar bei Jesus, der nach seinem Tod von seinen Anhängern als lebendig erfahren wurde, werden auch wir meist nur im Rückblick beurteilen können, was es für uns bedeutet hat, wenn wir ein Lebenstal durchschritten haben.

Wenn wir unbedingt einen Sinn im Leid suchen wollen, so könnten wir immer anführen, dass wir durch Leid wachsen, in unserer Entwicklung vorwärts kommen. Zwar nicht so, wie es der vierte Freund von Hiob vertrat, als Erziehungsmaßnahme oder Warnung Gottes, sondern eher als "Entwicklungshelfer" sozusagen. Wer Lebenssituationen überstehen konnte, unter denen er gelitten hat, ist nicht ohne neue Erfahrungen aus diesen hervorgegangen, hat für sich etwas gelernt. Mindestens wird er bei Menschen in derselben Lage mitfühlen können - und vielleicht sogar eine neue Aufgabe für sich sehen. Manche stellen sogar fest, dass sie völlig neue Perspektiven in ihrem Leben gefunden haben. Das ist das Tröstliche, wenn wir Leidenssituationen überstehen: wir erkennen, dass vieles in unserem Leben unverfügbar für unser Wollen ist, dass es mehr zum Leben braucht, als wir aufbringen können - aber dass uns so viel geschenkt wird, dass unser Leben gelingen kann und wir - was auch geschehen sein mag - dankbar darauf zurückblicken können.

Wir wissen alle, dass eben nicht alles Leid gut ausgeht und überstanden werden kann. Dafür gibt es eine christliche Hoffnung - und auch wenn wir diesbezüglich zurückhaltend sein sollten, weil wir nicht wissen können, was nach unserem Erden-Leben geschieht, so glauben wir doch an jenen von Jesus verkündeten Gott, der als unser Vater alle Tränen abwischen und es am Ende gut machen wird. Dieser Glaube gibt uns die Geborgenheit im Leben und im Sterben - und begleitet uns hoffentlich auch in jenen Lebenslagen, die wir durchleiden müssen. So, wie es die Wandkritzelei im Warschauer Ghetto aussagt:

 

Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.

Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.

Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.

 

Schlusslied "Ach bleib mit deinem Segen bei uns, du reicher Herr" (Nr. 190)

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