Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 181/3 - März 2025

 

 

Albert Schweitzer als liberaler Theologe - 2. Teil - Prof. Dr. Werner Zager

Detailergebnisse der 6. KMU liegen jetzt vor - Jörg Klingbeil

Religiöse Gleichgültigkeit - Dr. Andreas Rössler

Verlasst euch nicht auf Lügenworte... - Jörg Klingbeil

Reisebeschreibungen aus Palästina - Birgit Arnold

Albert Schweitzer als liberaler Theologe

2. Teil

3. Denken und Frömmigkeit verbindende Predigt

Von Albert Schweitzer sind aus seiner Straßburger Zeit als Vikar an St. Nicolai von 1898 bis 1913 und von 1918 bis 1921 - dazwischen liegen die Jahre seiner ersten Wirksamkeit als Arzt im Tropenspital von Lambarene und seiner Kriegsgefangenschaft in Afrika und Frankreich - zahlreiche Predigtmanuskripte oder -abschriften erhalten. Hinzu kommen noch einige wenige aus späterer Zeit. In einem voluminösen Band innerhalb der Nachlassausgabe von 1392 Sei­ten liegen sämtliche vorhandene Predigten Schweitzers im Druck vor.

Welch einen hohen Stellenwert Schweitzer dem Predigen für seine Person einräumte, zeigt sich darin, dass er, obwohl er gerne dem Rat seines Straßburger Lehrers Theobald Ziegler ge­folgt wäre, sich an der philosophischen Fakultät zu habilitieren, sich für eine theologische Ha­bilitation entschied. In seiner Autobiographie bemerkt er: „Ziegler deutete mir nämlich an, daß man nicht gern sehen würde, wenn ich als Privatdozent der Philosophie mich zugleich als Pre­diger betätigte. Nun war mir das Predigen aber ein innerliches Bedürfnis. Ich empfand es als etwas Wunderbares, allsonntäglich zu gesammelten Menschen von den letzten Fragen des Daseins reden zu dürfen.“

Zweifellos hat Schweitzer die Kunst beherrscht, selbst tiefe religiöse Gedanken schlicht und verständlich auszudrücken und dadurch Menschen aus den unterschiedlichsten Bildungs­schichten zu erreichen. Seine Predigtweise ist sehr persönlich. So lässt er in seine Predigt ei­gene Erfahrungen und Erlebnisse einfließen. Die Ausstrahlungskraft seiner Predigten dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass diese - wie er sagt - einen Gedanken des Evangeli­ums entfalten, „den wir lebendig aus unserm Leben herausgerissen haben“, so dass dieser „auch in andern Leben werden“ kann. Zum anderen sind es die eindrücklichen Bilder und Metaphern, die überzeugen.

Als für unsere Zeit besonders wegweisend hat Schweitzers bewusster Verzicht auf dogmati­sche Lehrformeln zu gelten, die bis in die heutige Predigtpraxis hinein gerade an den kirch­lichen Feiertagen Verwendung finden. Pointiert drückt er dies so aus: „Nur was du wirklich sel­ber denkst und empfindest, ist deine Religion. Gar oft sind überlieferte Worte nur dazu da, uns mit ihrem Schall über unsere innere Armut hinwegzutäuschen, und wir riskieren fort und fort, daß es uns ergeht wie manchen alten Handelshäusern, die auf ihre Solidität bauen und immer Werte auf dem Papier mit weiterführen, die sich bei einem richtigen Inventar als nicht mehr vorhanden erweisen würden.“

Als ein der Wahrhaftigkeit kompromisslos verpflichteter Prediger erklärt Schweitzer in aller Klarheit, dass das Weltbild Jesu für uns hinfällig geworden ist: „Wir rechnen nicht mehr mit dem nahen Weltende und einem direkten Eingreifen Gottes in das Geschehen [...]“. Die Vorstellung von dem unmittelbar durch Gottes Handeln herbeigeführten Reich ist abgelöst worden durch die von dem durch Arbeit des Menschen zu verwirklichenden Reich. Im Blick auf das Ostergeschehen geht es Schweitzer nicht um das Mirakel einer leiblichen Auferstehung, sondern darum, dass Jesu Geist „sich in vielen Menschen lebendig erwies, und ich selber füh­le, wie er bei mir zum Leben gelangen will“. Und so kann er formulieren: „Es ist, als ob Jesus selber der Menschen bedürfte, um in uns zur Herrschaft zu gelangen. Seine Worte sind für uns Leben geworden durch Menschen, in denen sie Leben waren, und er selber lebt in uns durch die, die in ihm lebten und uns berührten, daß sich unser Geist an dem ihren entzündete.“ Aber nicht nur Schweitzers Christologie, sondern auch seine Weise, vom heiligen Geist zu spre­chen, ist nicht eine, wie man sie aus den theologischen Lehrbüchern der Dogmatik kennt. Während die alte Christenheit glaubte - man denke nur an die lukanische Pfingstgeschichte -, der heilige Geist „falle vom Himmel über den Menschengeist“, glaubt Schweitzer, „daß er aus den Tiefen desselben aufsteigt, und daß er natürlich da ist, wenn man nur tief genug geht. Alles, was rein und wahr und erhebend und belebend ist, ist heiliger Geist. Es gibt keine Kluft zwischen natürlichem und heiligem Geist, sondern der eine geht in den andern über.“

Somit erscheint Schweitzers Äußerung über den Sonntag Trinitatis nur folgerichtig: „Man hat ihn früher zu den großen Festtagen gerechnet, weil er der Lehre von der Dreieinigkeit geweiht ist. In unserer Kirche hat man das Fest der inneren Mission darauf verlegt, weil man sich wohl gesagt hat, daß es notwendiger ist, unserer Zeit von den Aufgaben, die ihrer harren, zu predi­gen als von einer Lehre, die uns so, wie sie in alter Zeit in Formeln gegossen worden ist, nicht mehr viel sagen will.“

Was die Predigten Schweitzers wie ein roter Faden durchzieht, ist die immer wieder von Neuem vollzogene Verbindung von Denken und Glauben bzw. Frömmigkeit. Die Predigten sind getragen von einem tiefen Gottvertrauen - einem Gottvertrauen „von Geist zu Geist, das dahingestellt sein läßt, nach welchem Plane sich die Dinge, in die unser Leben hineingezogen wird, abspielen, das sich fast mit dem Gedanken vertraut machen kann, daß wir der Willkür der Ereignisse ausgeliefert sind, weil es sich daran hält, daß unser Geist in dem Geiste Gottes die Kraft findet, alles was kommt zu überwinden“. Und auch dies ist ein charakteristischer Zug des Predigers Schweitzer: bei aller Liberalität in Glaubensfragen der hohe Stellenwert von Kirche und Gottesdienst. Den Satz, man könne „ein guter Christ werden und sein, ohne in die Kirche zu gehen“, brandmarkt Schweitzer als einen „grundfalsche[n] Satz; wer ihn ausspricht, der weiß gar nicht, was wahres Christentum ist. Er meint, es sei, so einige Sätze für wahr zu halten, ihnen zuzustimmen, aber das Christentum ist inneres Leben! Und dieses Leben ent­wickelt sich nur, wenn man allsonntäglich aufs neue in der christlichen Gemeinde sich ver­sammelt und allsonntäglich Gottes Wort hört.“

4. „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“

Einsetzen möchte ich mit der „Entdeckung“ des Begriffs der „Ehrfurcht vor dem Leben“, also mit Schweitzers Bericht darüber - einem geradezu klassischen Text. Als Elsässer und damit deutsche Staatsangehörige waren Helene und Albert Schweitzer gleich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 in französische Internierungshaft gekommen. Sie konnten zwar in ihrem Haus auf der Missionsstation bleiben, wo sie ja erst seit wenigen Monaten wirk­ten, Schweitzer war aber die Arbeit im Spital verboten, so dass er seine liegen gebliebene Arbeit zum Problem von „Kultur und Ethik“ wieder aufnehmen konnte. Ab Ende November 1914 wurde es ihm allerdings wieder gestattet, als Arzt im Spital zu arbeiten, wobei er weiter­hin mit dem Problem des Kraftloswerdens der ethischen Kultur beschäftigt blieb. Albert Schweitzer schreibt in seiner Autobiographie „Aus meinem Leben und Denken“:

„Monatelang lebte ich in einer stetigen inneren Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ ich mein Denken in einer Konzentration, die auch durch die täglich im Spital getane Arbeit nicht aufgehoben wurde, mit dem Wesen der Welt- und Lebensbejahung und der Ethik und mit dem, was sie miteinander gemeinsam haben, beschäftigt sein. Ich irrte in einem Dickicht um­her, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nach­gab. [...]

In diesem Zustande mußte ich eine längere Fahrt auf dem Fluß unternehmen. Als ich - es war im September 1915 - mit meiner Frau ihrer Gesundheit wegen in Kap Lopez am Meere weilte, wurde ich zu Frau Pelot, einer kranken Missionsdame, nach N’Gômô, an die zweihun­dert Kilometer stromaufwärts, gerufen. Als einzige Fahrgelegenheit fand ich einen gerade im Abfahren begriffenen kleinen Dampfer, der einen überladenen Schleppkahn mit sich führte. Außer mir waren nur Schwarze, unter ihnen Emil Ogouma, mein Freund aus Lambarene, an Bord. Da ich mich in der Eile nicht hatte genügend verproviantieren können, ließen sie mich aus ihrem Kochtopf mitessen.

Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken - es war trockene Jahreszeit - hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schlepp­kahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wußte ich, daß die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kultur­idealen im Denken begründet ist.“

Die „unmittelbarste Tatsache des Bewußtseins“ ist für Schweitzer die Einsicht: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Daraus resultiert dann die folgende ethische Konsequenz: „Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grund­prinzip des Sittlichen.“

Nach seiner sogenannten „Entdeckung“ des Begriffs der Ehrfurcht vor dem Leben bei einer Dampferfahrt auf dem Ogowe im September 1915 - tatsächlich findet sich dieser Begriff bereits 3½ Jahre zuvor in einer Hörernachschrift seines letzten Straßburger Kollegs - fasste Schweitzer den Plan, seine Skizzen zur Kulturphilosophie fortzuführen und zu einem Werk auszugestalten, das sich in vier Teile gliedern sollte: „1. Von der gegenwärtigen Kulturlosigkeit und ihren Ursachen; 2. Auseinandersetzung der Idee der Ehrfurcht vor dem Leben mit den bisherigen Versuchen der europäischen Philosophie, die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung zu begründen; 3. Darstellung der Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben; 4. Vom Kulturstaat“.

Als im September 1917 Albert und Helene Schweitzer als französische Kriegsgefangene per Schiff nach Europa in ein Kriegsgefangenenlager gebracht wurden, konnte Schweitzer sein in deutscher Sprache geschriebenes Manuskript nicht mitnehmen, sondern überließ es dem amerikanischen Missionar Edward Ford. Es war ihm nur noch möglich gewesen, einen Auszug auf Französisch anzufertigen. Nach der Internierungshaft in Garaison und Saint-Rémy-de-Provence, in der Schweitzer weiter an seiner Kulturphilosophie arbeitete, kehrte er schwer krank nach Straßburg im August 1918 zurück. Er musste sich zunächst einer Operation unter­ziehen, bevor er eine Assistenzarztstelle an der Hautklinik des Bürgerspitals übernahm und wieder Vikar an der Kirche St. Nicolai wurde.

Von daher erklärt es sich, dass Schweitzer seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben öffent­lich zuerst in Predigten dargelegt hat. In der Zeit vom 16. Februar bis zum 7. September 1919 hielt er in St. Nicolai 15 Predigten über ethische Probleme, in denen er ausgehend jeweils von einem Bibelwort das Grundwesen des Sittlichen bestimmt und dies für eine Reihe von ethischen Fragen fruchtbar macht. Einleitend heißt es dazu in der ersten Predigt über das höchste Gebot (Mk 12,28-34):

„Über diese Frage, was denn das Grundgebot aller Sittlichkeit sei und was die sittliche Grundgesinnung, möchte ich in dieser Stunde mit euch nachdenken, um dann mehrere An­dachten den Fragen der christlichen Sittlichkeit zu widmen, die ich in der Ferne, in der Einsam­keit des Urwaldes, überdacht habe in dem Gedenken an diese Gottesdienste zu St. Nicolai und in der Hoffnung, euch einmal davon reden zu dürfen.“

Schweitzer übersetzt das religiöse Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten in die philo­sophische Sprache der Ehrfurchtsethik mit den Worten:

„Aus Ehrfurcht zu dem unbegreiflich Unendlichen und Lebendigen, das wir Gott nennen, sollen wir uns niemals einem Menschenwesen gegenüber als fremd fühlen dürfen, sondern uns zu helfendem Miterleben zwingen.“

In scharfem Gegensatz dazu steht das ein Jahr später veröffentlichte 62 Druckseiten umfas­sende Büchlein des Leipziger Juristen Karl Lorenz Binding (1841-1920) und des Freiburger Psychiaters und Neuropathologen Alfred Erich Hoche (1865-1943) unter dem sprechenden Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. 1929 fand dieser verhängnisvolle Begriff des lebensunwerten Lebens sogar Aufnahme in die zweite Auflage des renommierten protestantischen Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegen­wart“ - allerdings in einem durchaus kritischen Artikel.

Werner Zager

 

Letzter Teil im nächsten Heft

Detailergebnisse der 6. KMU liegen jetzt vor

Im Januar 2024 hatten wir bereits über die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) berichtet, deren erste Ergebnisse kurz zuvor vorgestellt worden waren. Diesmal waren nicht nur Evangelische und Konfessionslose, sondern auch Katholiken und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften einbezogen worden. Wesentliches Ergebnis war der Rückgang der Kirchenbindung, aber auch der Religiosität überhaupt. Hatte man früher angenommen, dass zwar die Kirchlichkeit zurückgehen werde, aber die kirchenferne Religiosität tendenziell zuneh­men könne, so konnte man nun konstatieren, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur distanziert den Kirchen gegenübersteht, sondern bewusst säkular denkt.

Mittlerweile hat die EKD einen umfangreichen Band mit Analysen zur 6. KMU herausgege­ben, der bei der Evangelischen Verlagsanstalt bestellt oder von der Seite der EKD kostenlos heruntergeladen werden kann.

Der Präsident des Bundes für Freies Christentum, Prof. Dr. Werner Zager, hält die „religiöse Entfremdung“ für mittlerweile so groß, dass Religion von vielen als eine Bedrohung der eige­nen Identität bzw. Freiheit empfunden werde (vgl. Freies Christentum, Nr. 6/2024, S. 145). Bloße Strukturveränderungen seien daher nicht mehr ausreichend und „großflächige Organi­sationsformen“ der falsche Weg, um Menschen an die Kirchen zu binden. Was nicht der Kir­chenbindung diene, könne getrost wegfallen. Der Schwerpunkt müsse in der Arbeit mit Kin­dern, Jugendlichen und Familien liegen, denn nur, wer in jungen Jahren die Relevanz christ­lichen Glaubens erfahre, werde sie auch als Erwachsener wertschätzen. Es bedürfe einer The­ologie, die ihre Botschaft neu durchdenkt und in geeigneter Weise selbst säkular eingestellten Menschen verständlich macht. Insofern sei eine liberale Theologie erforderlich, die nur das an­erkennen könne, was überzeugt, was also im eigenen Wahrheitsbewusstsein einen Widerhall findet.

Jörg Klingbeil

 

Zu dieser Untersuchung und ihrer Beurteilung passt ein Artikel von Pfarrer i.R. Dr. Andreas Rössler schon aus dem Jahr 2009 in der Zeitschrift „Freies Christentum“:

Religiöse Gleichgültigkeit

Heutzutage wird die „Wiederkehr der Religion” viel beschworen. Doch wird diese Renaissance zumindest in großen Teilen Europas von der religiösen Gleichgültigkeit überlagert. Ein Muster­beispiel dafür ist der Osten Deutschlands. Der katholische Religionsphilosoph Professor Eberhard Tiefensee (Erfurt) berichtet von einem studentischen Umfrageprojekt 1999 auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage „Sind Sie eher christlich oder atheistisch eingestellt?” antwortete eine Gruppe Jugendlicher: „Weder noch, normal halt”. Es ist auch schick geworden, sich selbst - mit dem Soziologen Max Weber (1864-1920) und dem Philosophen Jürgen Ha­bermas - als „religiös unmusikalisch” zu bezeichnen.

Für gläubige Christen ist die religiöse Gleichgültigkeit ein gravierenderes Phänomen als ein entschiedener Atheismus, der selbst eine Art Religion oder Anti-Religion darstellt. Mit solchen Atheisten, für die schlicht die Natur, also die Materie und die Energie in ihrem Verbund, der Urgrund und das Ziel von allem ist, kann man streiten und um tieferes Wahrheitsverständnis ringen, wenn man selbst Gott als transpersonale kosmische Kraft glaubt, die durch „Wille der Liebe” (Albert Schweitzer) charakterisiert ist. Die religiöse Gleichgültigkeit dagegen zeigt sich nicht von der Frage nach dem unbedingt Gültigen und Verpflichtenden bewegt und rafft sich nicht einmal zu einem „Agnostizismus” auf, der eine stichhaltige Antwort auf die Frage nach dem Absoluten für ganz oder wenigstens teilweise unmöglich hält. Wer religiös gleichgültig ist, interessiert sich einfach nicht für diese ganze Thematik, wie jemand, der unmusikalisch ist, sich für Musik nicht interessiert.

Wenn aber der Mensch als „unheilbar religiös” (so Nikolai Berdjajew) zu verstehen ist und auf eine (wie auch immer vorgestellte) absolute Instanz hingeordnet ist, dann ist religiöse Gleichgültigkeit ein Mangel an Menschsein - so wie eine nur geringfügige Ausprägung des Ge­wissens ein erheblicher Mangel ist.

Aber kann man Leute als besonders defizitär bezeichnen, die ohne jede religiöse Erziehung aufgewachsen sind und nun in aller Naivität „religiös unmusikalisch” zu sein scheinen, dabei aber - wie Tiefensee beobachtet - mit sich und ihrer Umgebung im Reinen und zu allen mögli­chen guten Taten fähig sind? Abgesehen davon, dass alle ihre jeweils besonderen Defizite haben, auch die noch so religiös Interessierten und Engagierten? Vielleicht muss man diese „naive Unschuld”, in der man noch nicht zu religiöser Suche aufgeweckt ist, unterscheiden von einem Rückfall aus einer religiösen Betroffenheit in die selbst gewählte Gleichgültigkeit gegen­über dem Unbedingten.

Allerdings besteht für religiös Engagierte kein Grund zur Überheblichkeit. Religiöse Gleich­gültigkeit kann man am besten dann von innen her verstehen, wenn man sich klar macht: Ich selbst setze ja oft genug Vorläufiges, Augenblickliches an die Stelle Gottes. Ich selbst lasse mich oft genug von gegenwärtigen Sorgen und Wünschen in Beschlag nehmen und finde dann keine Kraft, nach der bleibenden Wahrheit und nach dem wahrhaft Guten zu fragen.

Wie finde ich aus einer religiösen Gleichgültigkeit heraus, in die ich hineingeschlittert bin, von den täglichen Anforderungen überfordert oder durch bestimmte Ereignisse gefangen ge­nommen oder einfach durch Lustlosigkeit?

Wer, durch Gottes Geist gestärkt, aus dieser Gleichgültigkeitsfalle wieder herausgefunden hat zu persönlichem Gottvertrauen oder wenigstens zu ernsthaftem Gottsuchen, mag vielleicht für Menschen, die nun einmal religiös gleichgültig sind, ein Anstoß zu eigenem religiösem Fra­gen werden - wenn, wann, wo und wie Gott es will.

Religiöses Betroffensein kann man niemandem aufdrängen. Jemandem zu sagen: „Jetzt nimm dich zusammen und sei religiös interessiert”, ist grotesk und würde auch die Freiheit ei­nes solchen Menschen antasten. Man muss frei dazu sein, religiös gleichgültig oder engagiert zu sein.

Man kann aber auch argumentieren. Wenn es mir gleichgültig ist, was mich „unbedingt an­geht”, dann ist das so, wie wenn es mir gleichgültig ist, ob ich überhaupt lebe oder nicht und wie es anderen Menschen ergeht. Der Philosoph Volker Gerhardt (Berlin) schrieb: „Dem Ganzen des Daseins gegenüber kann niemand gleichgültig sein - es sei denn, er ist gleichgül­tig gegenüber seiner Existenz.” Religion im weitesten Sinn ist kein Einzelbereich wie Musik, Sport, Politik, Familie, Technik, Wissenschaft oder auch Kirche, sondern sie ist die „Dimension der Tiefe” (so Paul Tillich). Religion in diesem weitesten Sinn ist etwas anderes als Theologie. „Theologisch unmusikalisch” kann man auch als gläubiger Christ sein, indem man einfach andere Interessengebiete hat als eben die Theologie. Man wird im persönlichen Zeugnis reli­giös (mehr oder weniger) Gleichgültige auf die Wahrheitsfrage ansprechen können, wenn sich dazu Gelegenheit gibt. Sinngemäß etwa so: „Ich selbst versuche zu erfassen, was der wahre Sinn meines Lebens ist. Ich kann zwar diese Fragen auch auf sich beruhen lassen, wie ich auch ungesund drauflos leben kann. Aber damit sind diese Fragen doch nicht erledigt!”

Andreas Rössler in „Freies Christentum“ 61(2009), S. 1-2 und „Denkwege eines freien Chris­tentums“, S. 43-45

 

Außerdem wies uns der Verfasser auf eine Neuerscheinung des katholischen Theologieprofes­sors Jan Loffeld zum Thema hin: „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz“, Herder Verlag Freiburg 2024, 22 Euro (ISBN 978-3-451-39569-7). Es ist vor allem aus der niederländischen Situation geschrieben und sehr aktuell.

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Verlasst euch nicht auf Lügenworte...

(Jeremia 7,4)

Es sind die letzten Jahrzehnte vor der Zerstörung von Jerusalem im Jahre 587 v. Chr. durch die babylonische Großmacht. Das Nordreich Israel war bereits zuvor von den Assyrern einge­nommen worden. Nun droht Juda dasselbe Schicksal. In dieser politisch aufgeheizten Zeit tritt der Prophet Jeremia als Bote Gottes auf. Wie alle Propheten interpretiert er die aktuellen politischen Konflikte vor dem Hintergrund der besonderen Beziehung zwischen Gott und sei­nem Volk. In seinen Augen ist Juda nicht deswegen in Gefahr, weil es zwischen den Macht­blöcken Babylonien, Assyrien und Ägypten zerrieben wird, sondern weil die Verantwortlichen und das Volk die Gebote ihres Gottes missachtet, ihr Heil in fragwürdigen Bündnissen gesucht und sich fremden Göttern zugewandt hatten. Das Volk wiegt sich aber weiter in Sicherheit, denn es betrachtet die Zusage Gottes, er wolle im Tempel gegenwärtig sein, als Garantie für die Unversehrbarkeit von Tempel und Stadt.

Nun stellt sich Jeremia im Auftrag Gottes an eines der großen Tore des Tempelvorhofs, re­det den Gottesdienstbesuchern ins Gewissen und fordert sie zur Umkehr auf. Anstatt sich blind auf eine Errettung durch den Tempelkult zu verlassen, sollen sie wirklich innerlich umkeh­ren und ihr Verhalten ändern: Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des Herrn Tempel... Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen... Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige und opfert dem Baal und lauft fremden Göttern nach... Und dann kommt ihr und tretet vor mich... und sprecht: Wir sind geborgen - und tut weiter solche Gräuel.

„Lügenworte“ haben auch heutzutage Konjunktur. Heute wie damals sollen durch sie Zuhö­rer in Sicherheit gewiegt und zu falschen Schlussfolgerungen verleitet werden. Demgegenüber propagiert Jeremia - wie später Jesus - den Vorrang ethischer Prinzipien und insbesondere der Nächstenliebe gegenüber den Schwachen und Benachteiligten. Eine besondere Pointe ist dabei, dass Gott (durch Jeremia) als Kritiker der formalen Religion auftritt und gerade jene angreift, die sich selbst als fromm verstehen und deshalb den Tempel aufsuchen. Ihnen - und zugleich uns - wird ins Stammbuch geschrieben, dass die Gegenwart Gottes sich nicht mit Mauern, Traditionen und Dogmen erzwingen lässt. Jesus hat uns gezeigt, was Gott von uns wirklich will: Bessert euer Leben - das bleibt auch unsere Aufgabe. Die Unzulänglichkeit der Welt ist keine Ausrede - sie ist das Feld, auf dem die Besserung zu beginnen hat. Dazu sollte auch die Auseinandersetzung mit „fake news“ gehören.

Jörg Klingbeil

Reisebeschreibungen aus Palästina

Schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit regte der Orient die Neugier der Menschen an. Er war seit den Kreuzzügen weitgehend unbekanntes Terrain. Mutige Einzelreisende planten Reisen, schrieben Berichte darüber, die von jüngeren Zeitgenossen gelesen wurden. Diese machten sich ihrerseits auf ins Morgenland und schrieben darüber. Das Land blieb trotzdem weitgehend ein Geheimnis und verharrte weit außerhalb europäischen Einflusses.

Das europäische politische Interesse am Morgenland - und damit ein durchaus imperialisti­scher Expansionsdrang - erwachte in der Folge von Napoleons erfolglosem Feldzug 1799, bei dem u.a. Jaffa zerstört wurde, und insbesondere nach den napoleonischen Kriegen. Zwischen 1830 und 1840 erlebte das Land auch von der Seite seiner ägyptischen Besatzer her eine Öffnung nach Europa. Juden und Christen wurden Muslimen rechtlich gleichgestellt. Ab 1838 konnten europäische Konsulate eingerichtet werden. Die Arbeit europäischer Missions- und Wohltätigkeitsinstitutionen geriet in Fahrt. 1846 wurde Conrad Schick nach Jerusalem ge­schickt mit dem Ziel, ein Brüderhaus aufzubauen.

1841 war auf Anregung Friedrich Wilhelms IV. von Preußen das englisch-preußische Bistum Jerusalem ins Leben gerufen worden. Zweiter Bischof war ab 1846 Samuel Gobat. In dieser Eigenschaft gründete er evangelische Gemeinden und Schulen, Waisen- und Krankenhäuser in Jerusalem, Haifa, Beit Dschala, Bethlehem, Jaffa, Ramle, Nablus und Nazareth. Im Zuge der hiermit sich anbahnenden erweiterten Missionstätigkeit vorwiegend protestantischer euro­päischer Christen entstanden im Heiligen Land Unterbringungsmöglichkeiten für Pilger. Dies erleichterte die Reisetätigkeit im Land. Das Interesse wuchs.

Die Verbesserung der Verkehrswege sowie die Gründung von komfortablen Hotels wurden nicht zuletzt durch die seit 1868 ins Land gekommenen württembergischen Templer gefördert. Die Besucherströme wuchsen, Reise- und Pilgergruppen erreichten das Heilige Land mit schnellen Kursschiffen übers Mittelmeer. Manche Besucher erstellten nach ihrer Rückkehr Rei­seberichte, die in der Heimat auf wachsendes Interesse stießen, und berichteten dabei auch über die Templer und ihre Siedlungen. Was die Reisenden aus ihrer jeweiligen Sicht über diese dachten und aufschrieben, soll Gegenstand einer lockeren Reihe von Beiträgen in den kommenden Warte-Ausgaben sein. Ergänzend werden Zeitungsberichte vorgestellt. Es wird dabei der Zeitraum von 1880 - 1940 erfasst.

Den Anfang bilden sollen die frühen Eindrücke von Ferdinand Gregorovius, Eine Reise nach Palästina im Jahre 1882, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Unsere Zeit“ 1883 und 1884, Neuauflage 1995 bei C.H. Beck.

Gregorovius (1821-1891) war ein deutscher Journalist, Historiker und Schriftsteller, der viele Jahre seines Lebens in Italien verbrachte und dort eine 1871 erschienene Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter verfasste. 1881 veröffentlichte er die Biographie der byzantinischen Kaiserin Eudokia, die von ihrem Gatten Theodosius II. nach Jerusalem in die Verbannung geschickt worden war. Danach wollte Gregorovius das Heilige Land aus eigener Anschauung kennenlernen, eine Unternehmung, die er in tagebuchähnlichen Notizen festhielt. Diese Reise trat er 1882 an. Die Templer waren erst knapp 14 Jahre im Land, und doch kam man offenbar an ihrer Präsenz - ihren Siedlungen und ihren wirtschaftlichen Leistungen (erwähnt wird die Fahrstraße nach Sarona) - kaum noch vorbei.

Gregorovius beschreibt das Heilige Land ausgehend vom Bibelstudium, vergleicht seine Eindrücke mit Berichten über alttestamentarische Ereignisse. In Jaffa wandelt er außerdem auf den Spuren Napoleons. Für die damalige einheimische Bevölkerung, Juden und Araber, findet er kaum gute Worte. Seine Bemerkungen über die Templer und ihre Siedlungen sind spöttisch, ja sogar herablassend. Er nennt die gemeißelten Hausinschriften „nichtssagende Sprüche“, spart nicht mit Worten wie „Propheten“, „mystisch“, „religiöse Phantasie“ und „Sekte“. Seine Betrachtungen gipfeln in dem Satz: „Der Geist dieser Pietisten im freiwilligen Exil unter fanati­schen Türken und raubgierigen Arabern erscheint mir gedrückt und freudlos.“ Ihre religiösen Ziele erwähnt er nur am Rande und ordnet die Ausgewanderten als exotische Ableger des Tempels in Württemberg ein. Nichts als „Ackerbauern und Viehzüchter“ seien sie nach seiner Einschätzung. Die Gastfreundschaft dieses „halbkommunistischen Vereins“ nimmt er jedoch gerne in Anspruch: „Ich habe selten mit so viel Behagen an einem gastlichen Tische gesessen als hier in Palästina bei schwäbischen Bauern.“

Auf seiner Reise kommt er - von Port Said aus mit dem Schiff - erst nach Jaffa, dann noch nach Ramle und Jerusalem. Gleich in Jaffa trifft er auf deutsche Landsleute (S. 33f):

„Meine Stuttgarter Freunde hatten ihr Eintreffen einem Landsmann hier zuvor angemeldet, und das ist jetzt ein Glück für uns. Der Arzt der Tempelkolonie holt uns mit einem Boot ab. Wir werden in dasselbe vom Bord des Dampfers unter dem Gedränge vieler Pilger von Arabern eher hinabgeworfen als hinabgelassen, und es gilt, mit Geschick die Glieder zu wahren. Am Kai steht dichtgeschartes, schreiendes Volk; wir müssen uns den Durchgang zwischen aufge­türmten Baumwollenballen erkämpfen, und dazu versperrt noch ein niederkniendes Lastkamel den engen Paß. Der Doktor führt uns unbelästigt der Douane vorbei. Wir durchwandern erst einen Teil der untern Stadt, schmutzige, malerische Viertel, die von zerlumpten, bronzefarbe­nen und schwarzen Menschen wimmeln. Der erste Eintritt in das Gelobte Land verheißt wenig Gutes.

Wir haben zwanzig Minuten weit bis zum Hotel Hardegg in der deutschen Tempelkolonie, nordöstlich von Jaffa. Wir gehen auf einem sandigen Wege neben hohen Kaktushecken und ummauerten Gärten hin, aus denen der Duft der Orangenblüten quillt. Auch Jaffa und sein Kul­turland ist nur eine Oase im Wüstensande Palästinas. Seltsam mutet mich der Gegensatz der Kolonie, in welche wir einziehen, zu Jaffa an: ein württembergisches Dorf; neben der Jahrtau­sende alten schwarzen Philistäerstadt. Schwäbische Kinderlaute, schwäbische Menschen, breitschulterig und schwerfällig in ihren Bewegungen, gekleidet wie ihre Brüder am Neckar, empfingen uns. Nichts ist uns hier fremd als der Name Jerusalem auf dem saubern Gast­hause, in welches uns sein Besitzer führt, Herr Hardegg, der Sohn des Gründers der Tempelkolonie. Ich übersehe aus meinem Zimmer die Oberstadt Jaffa, das phönizische Meer, die in der Sonne leuchtenden weißen Dünen, üppige Orangenhaine, Gärten voll Palmen und Bananen. Dies Land könnte wohl ein Paradies sein unter einer mächtigen Regierung, die den Hafen wieder bauen und Straßen in das Innere ziehen würde. Es ist kaum begreiflich, daß Jaffa, der Hafen Jerusalems, trotz seiner Lage zwischen Alexandria, Beirut, dem Sinai- und Jordanlande noch immer einer der am meisten vernachlässigten Orte Syriens geblieben ist. ...“

„Die Vermehrung der Kolonisten ist schwach; zumal die Sterblichkeit der Kinder groß ist. Ich empfange hier nirgends einen Eindruck von Dürftigkeit, sondern überall den eines genügenden Zustandes; doch wirkliche Wohlhabenheit und voller Lebensgenuß treten mir nicht entgegen. Der Geist dieser Pietisten im freiwilligen Exil unter fanatischen Türken und raubgierigen Ara­bern erscheint mir gedrückt und freudlos. Die dämonische Macht einer religiösen Phantasie hat diese Schwaben nach Kanaan getrieben, aber die harte und gemeine Wirklichkeit spottet der messianischen Ideale. Als die alten Phönizier von Sidon und Tyrus ihre Kolonien gründe­ten, bauten sie wohl als deren Mittelpunkt einen Tempel der Astarte, aber ihre Faktoreien und Handelsschiffe waren das Reale dabei.

Ich lese auf dem Hause eines Sattlers Müller - denn auch in Kanaan entrinnt man diesem Namen nicht mehr - folgenden Spruch geschrieben: ‚Dein Wort sei meines Fußes Leuchte und ein Licht auf unserm Weg‘; Psalm 119. Dann fällt mir die Gemeindetafel ins Auge mit einem Aufruf der vereinigten deutschen Kolonien Jaffa und Sarona zur Feier des Geburtstages des Kaisers morgen, am 22. März. Auf der Kolonie Jaffa soll um 6 Uhr frühe Tagwehr stattfinden vom jaffaer Musikchor, sodann Empfang auf dem Konsulat und Festgottesdienst; nachmittags Festversammlung in und vor dem Gemeindesaal: Nationalhymne und Gesangvorträge vom Männerchor Sarona und vom jaffaer Sängerbund. Um 5 Uhr abends Schluß durch eine Ansprache des Gemeindevorstandes Klenk. Also auch nach Kanaan haben die Schwaben aus der Heimat Uhlands die Luft zum Gesange mit sich gebracht. Wenn nichts anderes mehr diese Träumer zum Heimweh aufregen kann, wird es noch das deutsche Lied vermögen. Auch sie hängen noch immer am fernen Vaterlande. Wenn irgendwo sonst, kann ich mich in Philistäa davon überzeugen, daß wir Deutsche endlich an Kaiser und Reich ein festes Band besitzen, und daß keine Zone der Welt so weit vom Vaterlande entfernt liegt, wo dessen nationale Einheit nicht von Deutschen empfunden und gesegnet wird. (S. 36f) ...

Die deutschen Ansiedler haben eine gute Fahrstraße nach Sarona angelegt, und wir besu­chen auch diese Kolonie von Ackerbauern und Viehzüchtern. Sie steht auf einer wohlbebauten Hochfläche, eine Straße von freistehenden Häusern bildend, wie aus der nürnberger Schach­tel. Eine Kirche gibt es hier nicht; die Frommen versammeln sich im Gemeindesaal, und jeder kann predigen, wenn er vom Heiligen Geist ergriffen ist. Herr Dreher aus Meyringen ist seit sieben Jahren Vorstand der Kolonie und zugleich ihr Schullehrer. Er zeigte uns den Betsaal, der auch Schulsaal ist; Säulen stützen ihn; auf einer steht geschrieben: ‚Von Zion wird das Gesetz ausgehen‘. ‚Selig ist der da hält die Worte der Weissagung‘. Dieselben nichtssagenden Sprüche sind in arabischer Schrift wiederholt; denn auch diese schwierige Landesprache wird, wie das Französische, in der Schule gelehrt. Der Sohn des Vorstandes zeigte uns seine sau­ber geschriebenen arabischen Hefte.

Ich habe selten mit so viel Behagen an einem gastlichen Tische gesessen, als hier in Palä­stina bei schwäbischen Bauern. Der Honig, den man uns vorsetzte, erschien mir schon des­halb köstlich, weil ich mir vorstellte, daß er aus den Blumen Sarons gezogen sei. Wenn Milch und Honig noch der Inbegriff des Reichtums des Gelobten Landes sind, so scheint hier davon genug zu fließen.“ (S. 39)

Auch das Gasthaus Reinhardt in Ramle lernt er kennen (S. 43-46):

„Selten erscheint ein Fuhrwerk mit Reisenden, ein jüdisches oder armenisches: denn Juden und Armenier sind jetzt die Konkurrenten der deutschen Templer geworden, welche früher allein die Gefährte gestellt haben. ...

Zwei Türme steigen links und rechts von unserer Straße auf über grünen Baumgruppen und anscheinend reich bebauten Gefilden. Jener ist das Minarett von Lydda, dem alten Lod der Hebräer, und dieser der große Turm von Ramle. Wir wollen Lydda und die Ruine der Grab­kirche des Drachentöters Georg auf unserer Rückkehr von Jerusalem besuchen und lassen es deshalb liegen, um nach Ramle zu fahren.

Dieser durch die Kreuzfahrer berühmte Ort, durch welchen eine Karawanenstraße von Ägypten nach Damaskus geht, sieht mit seinen Häuserreihen und jenem mächtigen Turm von fern sehr ansehnlich aus. Einige hohe Palmen steigen aus ihm empor. Für unsere Vorstellung ist die Palme vom Morgenlande unzertrennbar. ...

Ramle heißt Sand; vom Sande hat auch dieser Ort seinen Namen, wie jener bei Alexandria. Aber die Wüste ist hier durch Wasseradern und Wasserleitungen der Kultur zugänglich ge­macht, sodaß sich die Umgebung der kleinen Stadt als Oase darstellt, bedeckt von Kaktus­hecken, von Orangen-, Oliven- und Feigenbäumen, von Frucht- und Melonengärten. Ein fremdartiges Wesen empfängt mich hier: malerische Gassen mit würfelförmigen, überkuppel­ten Häusern, von einem seltsamen Volk bewohnt, welches bunte Gewänder und den Turban trägt. Eine Bazargasse mit ärmlichem Trödelkram; ein paar Moscheen; ein kleiner wüster Platz mit einem ummauerten Garten, woran das Gasthaus eines deutschen Templers steht. Nahe davor lagern Aussätzige, ihr Anblick ist grauenvoll; sie strecken ihre verstümmelten Hände aus und betteln in gurgelnden Tönen um eine Gabe. Zerlumpte Negerkinder umringen uns mit dem Geschrei ‚Bakhschisch‘.“

Birgit Arnold

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