Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 181/1 - Januar 2025

 

 

Zum Neuen Jahr - Ulrich Schaffer

Das Problem des Friedens in der heutigen Welt - Karin Klingbeil

»Prüft alles und behaltet das Gute« - Wolfgang Blaich

Wie aus Wilhelma Bnei Atarot wurde - Jörg Klingbeil

Wenn der Friede,

der die Welt wie eine liebende Hand umspannen soll,

nicht in uns beginnt,

wenn wir nicht begreifen,

dass wir zu einer Familie gehören,

dass jeder von uns Bruder und Schwester,

Mutter, Vater und Kind ist,

dann werden keine Reden und Feiern,

keine Formeln und Anrufe

uns retten

vor der Zerstörung,

die auch in uns beginnt.

 

© Ulrich Schaffer (*1942), Fotograf und Schriftsteller

 

Gebietsleitung und Verwaltung wünschen ein gesundes, gutes 2025!

Das Problem des Friedens in der heutigen Welt

In diesem Jahr begehen wir ein ganz besonderes Gedenkjahr, und zwar für Albert Schweitzer, der am 14. Januar 1875 geboren wurde und am 4. September 1965 gestorben ist. Somit den­ken wir in diesem Jahr sowohl an seinen 150. Geburtstag als auch an seinen 60. Todestag.

Das rechtfertigt mehrere Beiträge zu Albert Schweitzer; in dieser Ausgabe wollen wir mit Bezug auf den Friedenswunsch für dieses Jahr auf die Rede zurückschauen, die Albert Schweitzer bei der Verleihung des Friedensnobelpreises, den er für sein Engagement gegen das atomare Wettrüsten erhielt, am 4. November 1954 in Oslo gehalten hat. Darin beschwört er einen ethischen Geist, der allein echten Frieden schaffen kann.

 

Albert Schweitzer (Quelle: Wikimedia Commons)
Quelle: Wikimedia Commons

Zunächst legt Albert Schweitzer die Situation dar, wie sie sich nach den beiden Weltkriegen darstellte. Nach seiner Analyse hatten die verantwortlichen Staatsmänner in ihren Verhand­lungen, die unsere heutige Welt gestalteten, keine glückliche Hand, weil man »dem geschichtlich Gegebenen und damit der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit nicht die gebührende Gel­tung eingestand«. Freilich räumt er ein, dass die Vollstrecker des Willens der Siegervölker genug damit zu tun gehabt hatten, dass nicht die übelsten Forderungen des »siegreichen Volks­willens« Tatsachen würden, und dass dort, wo die Ansichten und Interessen der Sieger auseinandergingen, die erforderli­chen Zugeständnisse gemacht wurden.

Im Blick auf die Entwicklung Europas konstatiert Schweitzer, dass ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die folgen­schwere Ausbildung des nationalen Selbstbewusstseins begon­nen habe, die den Völkern nicht mehr erlaubt habe, »sich von den geschichtlichen Tatsachen und von der Vernunft führen zu lassen.« So sei dann auch nach der Neuordnung nach dem zweiten Weltkrieg Stoff für einen zukünftigen Krieg geblieben, denn die Gewähr des Dauerhaften könne nur durch das Inbe­trachtziehen des geschichtlich Gegebenen und eine in diesem Sinne sachliche und gerechte Lösung gegeben werden.

»In schlimmster Weise vergeht man sich gegen das Recht des geschichtlich Gegebenen, und überhaupt gegen jedes menschliche Recht, wenn man Völkerschaften das Recht auf das Land, das sie bewohnen, in der Art nimmt, dass man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln. Dass sich die Siegermächte am Ende des zweiten Weltkrieges dazu entschlossen, vielen Hunderttausend Menschen dieses Schicksal, und dazu noch in der härtesten Weise, aufzuer­legen, läßt ermessen, wie wenig sie sich der ihnen gestellten Aufgabe einer gedeihlichen und einigermaßen gerechten Neuordnung der Dinge bewußt wurden.

Überaus bezeichnend für die Lage, in der wir uns nach dem zweiten Weltkrieg befinden, ist, dass auf ihn kein Friedensschluß folgte. Nur in Abkommen, die den Charakter von Waffenstill­ständen hatten, kam er zu Ende. Weil wir einer auch nur einigermaßen befriedigenden Neure­gelung der Dinge nicht fähig sind, müssen wir uns mit solchen von Fall zu Fall geschlossenen Waffenstillständen, von denen niemand weiß, was aus ihnen wird, zufrieden geben.«

Auf die Frage: Wie nun stellt sich uns das Problem des Friedens? geht Schweitzer darauf ein, dass die heutigen Kriege mit ungleich größeren Mitteln des Tötens und Zerstörens als die früheren geführt werden und daher immer ein größeres Übel darstellen als sie es je gewesen sind. Hinzu kommt, dass man meinte, nur noch mit kurzen Kriegen rechnen zu müssen und außerdem aufgrund der Genfer Konvention eine fortschreitende Humanisierung der Kriegs­führung erwartete. Aber in beiden Weltkriegen erwiesen sich beide Theorien als völlig unzu­treffend - Jahre hindurch wurde in inhumanster Weise gekämpft und zerstört. Weil weitere Kriege noch schlimmer würden, müssten sie unbedingt vermieden werden, aber auch aus einem ethischen Grund: »Wir haben uns in den beiden letzten Kriegen grausiger Unmensch­lichkeit schuldig gemacht und würden es in den kommenden noch weiter tun. Dies darf nicht sein.«

Nach Schweitzer ist der Mensch aufgrund seiner Errungenschaften des Wissens und Kön­nens dahingehend zu einem Übermenschen geworden, dass er über eine ins Unberechenbare gehende Zerstörungsgewalt verfügt, die die Existenz der Menschheit in Frage stellt. Aber: »Der Übermensch leidet an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. Dieser bedürfte er, um von der von ihm errungenen Macht nur zur Verwirklichung des Sinnvollen und Guten, nicht auch zum Töten und Vernichten Gebrauch zu machen. Darum sind ihm die Errungenschaften des Wissens und Könnens mehr zum Verhängnis als zum Gewinn geworden.« So sei der Übermensch zum Unmenschen geworden, was sich darin zeige, dass allein im zweiten Weltkrieg an die 20 Millionen Menschen zum Teil auf grausamste Weise vernichtet wurden. In jedem weiteren Krieg würden wir alle uns dieser Unmenschlichkeit schuldig machen. »Das furchtbare gemeinsame Erlebnis muß uns dazu aufrütteln, alles zu wollen und zu erhoffen, was eine Zeit heraufführen kann, in der Kriege nicht mehr sein werden. Dieses Wollen und Hoffen kann nur noch darauf gehen, daß wir durch einen neuen Geist die höhere Vernünftigkeit erreichen, die uns vor dem unseligen Gebrauch der uns zu Gebote stehenden Macht abhält.«

In seiner Rede ging Schweitzer nun auf große Denker ein, die sich mit ethischen Er­wä­gun­gen gegen Krieg und für Frieden auseinandersetzten, wie der große Humanist Erasmus von Rotterdam (1469-1539), Immanuel Kant (1724-1804) und Sully (1560-1641), auf den die Idee eines Völkerbundes mit schiedsrichterlichen Befugnissen zurückgeht. Beim Betrachten des Völkerbundes in Genf und die Organisation der Vereinten Nationen (UNO), die Bedeutendes haben leisten können, stellt er allerdings fest: »Aber den Zustand des Friedens herbeizuführen haben diese beiden Institutionen nicht vermocht. Sie bemühten sich vergeblich darum, weil sie es in einer Welt unternehmen mußten, in der keine auf die Verwirklichung des Friedens gehende Gesinnung vorhanden war. Als juristische Institutionen konnten sie diese Gesinnung nicht schaffen. Dies vermag nur der ethische Geist. ... Entscheidendes für die Sache des Frie­dens muß bald in Angriff genommen und geleistet werden. Auch hierzu ist allein der Geist fähig.«

Das führt ihn zu der Frage: Kann aber der Geist wirklich ausrichten, was wir ihm in unserer Not zutrauen müssen? Dass man von dieser Kraft nicht zu gering denken darf, zeigt der Ver­lauf des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen er die Völker, bei denen er auftrat, aus dem Mittel­alter herausführte und Aberglauben, Hexenprozessen, Folter und so mancher überlieferten Grausamkeit und Torheit ein Ende machte: »An die Stelle des Alten hat er ein neues gesetzt, welches den, der diese Geschehen verfolgt, immer wieder erstaunen läßt. Was wir an wahrer, innerlicher Kultur je besessen haben und noch davon besitzen, geht auf jenes Auftreten des Geistes zurück.« Dass dieser Geist an Kraft eingebüßt hat, führt Schweitzer darauf zurück, dass er in der Welterkenntnis, wie sie sich aus der naturwissenschaftlichen Forschung ergab, sein ethisches Wesen nicht begründen konnte. Niedrigere Ideale hätten ihn abgelöst. »Nun muss er, sollen wir nicht zugrunde gehen, wieder die Führung übernehmen. Wiederum hat er ein Wunder zu vollbringen, wie zu der Zeit, als er die europäischen Völker aus dem Mittelalter herausführte, und noch ein größeres als das damalige.«

Schweitzer ist davon überzeugt, dass dieser Geist nicht tot ist, sondern in der Verborgenheit lebt und sich aus nichts anderem zu begründen hat, als aus dem eigentlichen Wesen des Menschen. Außerdem hat das Mitempfinden, in dem die Ethik wurzelt, seine rechte Tiefe und Weite nur, wenn es nicht einzig um Menschen, sondern um alle lebendigen Wesen geht. »Neben die bisherige, der letzten Tiefe und Weite und Überzeugungskraft ermangelnde Ethik ist die der Ehrfurcht vor dem Leben getreten und findet Anerkennung.«

Nach wie vor sieht Schweitzer im Nationalismus eine Gefahr für den Frieden. Dieser könne nur durch Humanitätsgesinnung überwunden werden. »Alle Menschen ... tragen in ihrer Eigen­schaft als mitempfindende Wesen die Fähigkeit zur Humanitätsgesinnung in sich. Sie ist ihnen als ein Brennstoff gegeben, der darauf wartet, durch eine hinzukommende Flamme entzündet zu werden.

In einer Reihe von Völkern, die zu einer gewissen Kultur gelangt waren, ist die Idee, dass einmal ein Friedensreich kommen müsse, zur Ausbildung gelangt. In Palästina tritt sie zum erstenmal beim Propheten Amos im 8. Jahrhundert v.Chr. auf und lebt sich dann als Hoffnung auf ein Reich Gottes in der jüdischen und christlichen Religion aus. Sie gehört der Lehre an, die die großen Denker Chinas Lao Tse und Kung Tse im 6. Jahrhundert v.Chr., Mi Tse im 5., Meng Tse im 4. und ihre Schüler vertreten. Sie findet sich bei Tolstoi (1828-1910) und anderen europäischen Denkern. Man hat sie als Utopie angesehen. Heute aber liegen die Dinge so, daß sie irgendwie zur Wirklichkeit werden muß, wenn die Menschheit nicht untergehen soll. ... Nur in dem Maße, als durch den Geist eine Gesinnung des Friedens in den Völkern aufkommt, können die für die Erhaltung des Friedens geschaffenen Institutionen leisten, was von ihnen verlangt und erhofft wird.«

Schweitzer ist klar, dass wir noch in der Zeit der Friedlosigkeit leben. Er schließt seine Rede mit den Worten »Mögen die, welche die Geschicke der Völker in den Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger ge­stalten und uns noch weiter gefährden könnte, mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: So viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. Es gilt nicht nur den Einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie in dem Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, daß dem Geiste zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben bleibe!«

Karin Klingbeil, Quelle: Albert-Schweitzer-Rundbrief 2024, S. 10-23

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

»Prüft alles und behaltet das Gute«

Das ist die Jahreslosung für das Jahr 2025. Sie stammt aus dem Vers 21 im fünften Kapitel des 1. Thessalonicherbriefes. Dieser Brief an die Gemeinde in Thessalonich, eine neu gegrün­dete Gemeinde (im heutigen Saloniki), stammt wahrscheinlich von Paulus. Er hatte sich dort wohl einige Zeit aufgehalten und mit seinen Predigten einige ortsansässige Griechen zum Christentum bekehrt. Der Brief enthält eine ganze Anzahl von Weisungen an diese junge Gemeinde, Ratschläge für ein gutes Zusammenleben und Zusammenwirken im Bemühen um eine christliche Lebensführung, individuell und gemeinschaftlich. Auch ist diese kleine Gemein­de angefochten in ihrem christlichen Glauben und muss um ihren Zusammenhalt und ihr Be­stehen kämpfen.

»Prüft alles und behaltet das Gute.« Wie ist dieses Wort zu verstehen? Was und wie ist zu prüfen und zu welchem Ziel? Was legt Paulus den Gemeindegliedern ans Herz? Das geht aus den vorhergehenden Worten des Textes hervor - sich achten, den Schwachen helfen, geduldig sein im Umgang miteinander, sich bemühen, einander und dem Ganzen Gutes zu tun.

In diesem Sinne prüfen heißt dann wahrnehmen, was wir sehen, hören oder fühlen. Keine voreingenommene Haltung, kein voreiliges Urteil. Prüfen heißt dann nichts anderes als mit Herz und allen Sinnen eine Sache betrachten, um dann zu einer Entscheidung zu kommen - zu einer guten und sinnvollen Entscheidung zum Wohle meiner persönlichen Lebensgestal­tung als auch der Gemeinschaft, in welcher ich lebe. Das wird von uns zum neuen Jahr gefordert. Wir treten in ein Jahr 2025 und wissen nicht genau, was auf uns zukommen wird. Es stehen Ereignisse in naher Zukunft an, die wir nicht wirklich einschätzen können, ob sie Gutes oder Schwieriges bringen. Im politischen wie im gesellschaftlichen Geschehen stehen Verän­derungen an; wir erleben eine Welt mit teils chaotischen Zuständen, mit Krieg und Leid. Ge­schehen, die von uns Stellungnahme und Entscheidung verlangen - »Prüft alles und behaltet das Gute...«

Das Wort von Paulus ist zugleich eine Warnung und ein Zeichen der Hoffnung. Es erinnert nicht nur an das, was schwierig, was schädlich sein kann, sondern es ist gleichzeitig eine Aufforderung, auf das Gute zu achten, das uns widerfährt. Denn nicht alles, was uns in dieser Welt und in diesem Jahr begegnen wird, ist negativ. Es braucht also Mut und Neugierde und Besonnenheit und einen klugen Blick, der Gut und Böse unterscheiden kann. Paulus wirbt somit um Zuversicht und Mut im Blick nach vorne.

Wolfgang Blaich

AUS DEM ARCHIV

An der Schnittstelle deutsch-israelischer Siedlungsgeschichte -
wie aus Wilhelma Bnei Atarot wurde

(Fortsetzung aus der »Warte des Tempels«, Dezember 2024)

Auf der Grundlage eines Aufsatzes des israelischen Architekten Danny Goldman haben wir in der letzten »Warte« über die Entwicklung der Templersiedlung Wilhelma bis zu deren Räu­mung im Mai 1948 berichtet. Im zweiten Teil geht es nun um die jüdische Siedlung Atarot bei Jerusalem, deren Bewohner im selben Jahr im Verlauf des Unabhängigkeitskrieges gewaltsam vertrieben wurden; sie durften sich später in Wilhelma niederlassen. Ihrer neuen Siedlung ga­ben sie den Namen Bnei Atarot (»Söhne von Atarot«). Uns hat in der Zwischenzeit eine Foto­dokumentation über die jüdischen Siedler erreicht, die uns dankenswerter Weise von Ruth Danon zur Verfügung gestellt wurde. Sie wohnt mit ihrer Familie in Bnei Atarot im ehemaligen Haus der Familie Sawatzky und befasst sich schon seit vielen Jahren intensiv mit der Ge­schichte ihres Wohnortes.

Die Geschichte der jüdischen Siedlung Atarot begann zehn Jahre nach der Gründung Wil­helmas. 1912 gelang es der jüdischen Siedlungsorganisation Palestine Land Development Corporation (PLDC), ein großes Stück Land etwa 10 km nördlich von Jerusalem (in Richtung Ramallah) zu kaufen; in den Folgejahren konnten weitere Grundstücke erworben und der Bo­den urbar gemacht werden. Große Anstrengungen verlangte insbesondere eine ausreichende Wasserversorgung für das steinige Land. Dennoch war die Siedlung zunächst recht erfolgreich und konnte ihre landwirtschaftlichen Produkte in Jerusalem verkaufen. Die jüdischen Landwirte wurden hierbei von Yitzhak Wilkanski angeleitet, der zuvor moderne Agrartechniken der Temp­ler in Wilhelma kennengelernt hatte. 1921 gründete er das Institut für Naturwissenschaften und eine landwirtschaftliche Versuchsstation und wurde so zum Wegbereiter einer modernen israe­lischen Agrarwissenschaft. Nachdem die ersten jüdischen Siedler während des Ersten Welt­kriegs aufgegeben hatten, unternahm eine andere Gruppe 1919 einen neuen Anlauf.

1931 enteigneten die britischen Mandatsbehörden 200 von 375 Dunam (entsprach ca. 200.000 qm), um einen kleinen Flugpatz anzulegen; dabei wurden etliche Gebäude abgeris­sen und Obstplantagen verwüstet. In dieser Zeit hatte Atarot ungefähr 250 Einwohner.

In Wikipedia kann man nachlesen, dass der von den Briten damals erbaute Flughafen Atarot (auch Kalandia Airport oder Jerusalem Airport genannt) bis zur Errichtung des Flughafens in Lod der einzige Flughafen Palästinas war.

Von 1948 bis 1967 war er unter jordanischer Ver­waltung auch der internationale Flughafen für Ostje­rusalem; danach wurde er zum reinen Inlandsflug­hafen. Ein Großteil der angrenzenden Flächen wur­de damals zu einem Industriegebiet mit etwa 200 Firmen und 4000 Arbeitsplätzen entwickelt. Mit Be­ginn der zweiten Intifada wurde jedoch der Flugha­fen geschlossen. Nur am Rande sei bemerkt, dass ein prominenter Templer, der Reisebüroinhaber Waldemar (Walde) Fast aus Jerusalem, in den 1930er Jahren maßgeblich an der Auswahl eines geeigneten Geländes für den neuen Flug­hafen bei Lod durch die Briten beteiligt war. Genauer müsste man eigentlich sagen: bei Wil­helma, denn wie gering die Entfernung vom heutigen Großflughafen Ben Gurion Airport nach Bnei Atarot ist, wird jeder akustisch wahrnehmen, der einmal die frühere Templersiedlung besucht.

Vom Atarot British Airport bei Jerusalem flog auch der britische Hochkommissar am 14. Mai 1948, einen Tag vor Ablauf des Mandats, ab. Auf diesen Moment hatten die Araber der Umge­bung und die jordanische Armee nur gewartet, um die Invasion Israels durch die arabischen Armeen zu starten - nur wenige Stunden nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung. Nun waren Atarot und die benachbarte Siedlung Neve Yaakov (1925 gegründet) die einzigen Hin­dernisse, die zwischen der jordanischen Armee und Jerusalem standen. Die Briten hatten den jüdischen Siedlern zuvor dringend geraten, ihre Siedlungen zu evakuieren. In Erwartung des Angriffs der jordanischen Armee beschlossen die Siedler, zunächst nur alle Kinder und die Alten zu evakuieren und einen Versuch zur Eroberung des Flughafens zu starten. Sie war­teten, bis die Briten den Flughafen verlassen hatten, und nahmen ihn dann ein, wohl wissend, dass die Araber auf den umliegenden Hügeln dasselbe Ziel hatten. Kurz darauf wurden aber die Siedler von Atarot vom Oberkommando der Haganah angewiesen, zusammen mit den Siedlern von Neve Yaakov ihre Siedlung zu räumen und den Verteidigungsring um Jerusalem zu verstärken. Entgegen den Weisungen verließen sie die Siedlung aber nicht tagsüber, son­dern heimlich bei Nacht. Sie ließen das Licht brennen, um Anwesenheit vorzutäuschen, verminten einige Gebäude, zerstörten die Einrichtung und schlichen sich zu Fuß in Richtung Neve Yaakov davon. Bei Morgenanbruch beschossen die Araber das (bereits verlassene) Moshav und - als sie auf keine Gegenwehr stießen - plünderten und zerstörten die Gebäude. Die Siedler von Atarot mussten von Neve Yaakov aus tatenlos zuschauen, wie ihre Heimat zerstört wurde.

Am nächsten Tag (16. Mai) brachen in Neve Yaakov heftige Kämpfe aus. Die Verteidiger verzeichneten vier Tote und zahlreiche Verwundete. Munition und Lebensmittel gingen zur Nei­ge, die Verbindung zum Oberkommando war abgebrochen. Die Siedler beschlossen daher, den Ort aufzugeben und sich zum Mount Scopus bei Jerusalem durchzuschlagen. Um 23 Uhr abends begruben sie ihre vier Toten, zerstörten Waffen und Munition, legten die Verwundeten auf Tragbahren und brachen auf. Die beiden Siedlungen waren verloren, aber alle Überleben­den wurden in Sicherheit gebracht.

Die meisten Siedler verließen Mount Scopus schon kurz nach der Ankunft, während die Verwundeten weiter im Hadassa-Krankenhaus behandelt wurden. Die Flüchtlinge wurden nach dem zweiten Waffenstillstand (ab 19. Juli 1948) vorübergehend in Jaffa untergebracht. Sie begannen sich zu organisieren und nahmen Verhandlungen mit den Unterbringungsbehörden auf. Einer der angebotenen Orte für eine erneute Ansiedlung war Wilhelma, was sie gerne annahmen. Dem Projekt schlossen sich weitere jüdische Flüchtlinge an, die aus mehreren - teilweise erst in den 1940er Jahren gegründeten - Siedlungen im nördlichen Galiläa kamen, wo sie im Unabhängigkeitskrieg unter schweres Geschützfeuer der syrischen Armee geraten waren und aufgeben mussten. Ähnlich erging es den Bewohnern des Kibbutz Be’erot Yitzhak in der Nähe von Gaza, die erhebliche Verluste bei Angriffen der ägyptischen Armee erlitten und ihre Siedlung aufgegeben hatten. Soweit die Flüchtlinge nicht in Häusern der früheren Templersiedlung Wilhelma, die nun Bnei Atarot hieß, untergebracht werden konnten, durften sie neue, eigene Siedlungen auf der Gemarkung von Wilhelma gründen.

Gedenkstein am Massengrab in Old Atarot (Quelle: Atarot Archive/Ruth Danon)
Quelle: Atarot Archive/Ruth Danon

Mit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Staat Israel und dem Königreich Jordanien vom April 1949 wurden die alte Siedlung Atarot und der Flugplatz zum jordanischen Hoheitsgebiet. Die Ruinen und der Friedhof der Siedlung fie­len später einer Flughafenerweiterung zum Opfer; Grabsteine und menschliche Überreste wurden abgeräumt. Als das Gebiet im Sechstagekrieg von 1967 wieder unter israelische Kontrolle kam, begaben sich frühere Einwohner von Atarot auf die Suche nach Gräbern und anderen Überbleibseln ihrer alten Heimat. Nach langer Suche fanden sie 1969 schließlich menschliche Überreste von 18 Personen (darunter fünf Ha­ganah-Mitglieder), beschlossen aber, sie an Ort und Stelle zu belassen. Der Fundort wurde zum militärischen Massengrab erklärt und vom Oberrabbiner der Armee eingesegnet. Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein an die hier begrabenen Siedler von Old Atarot.

Danny Goldman berichtet abschließend knapp über die Entschädigungen, die nach zähen Verhandlungen an die Templer in Australien und Deutsch­land gezahlt wurden (eingehend zum Genfer Abkommen siehe Beitrag in der Juni-Warte 2022, S. 90). In Israel sei mittlerweile die Erkenntnis gewachsen, dass die Templersiedlungen einen erheblichen Einfluss auf den jüdischen Siedlungsbau im Heiligen Land hatten. Die Bemü­hungen zum Erhalt des verbliebenen baulichen Erbes seien verstärkt worden, auch mit Unter­stützung von historisch interessierten Templern in Australien und Deutschland. Zahlreiche Templer hätten die verbliebenen Friedhöfe gepflegt und die ehemaligen Siedlungen besucht, die ihre Vorfahren mit viel Optimismus und Glaubensstärke errichtet hatten, so wie es auch die jüdischen Siedler im Heiligen Land taten.

Anmerkung: Der Aufsatz von Danny Goldman (in englischer Sprache, mit zahlreichen Fotos, Zitaten und Quellenangaben) ist übrigens hier nachzulesen.

Jörg Klingbeil

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