Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 177/6 - Juni 2021

 

 

Das Trachten nach dem Reich - Otto Hammer

Gerecht durch Werke? - Karin Klingbeil

Zitronen und unser inneres Licht - Herta Uhlherr

Vom Leben in verschiedenen Blasen - Hanna Thaler

Verbannungsorte im Reich der Pyramiden - Peter Lange

Neues aus Sarona - Karin Klingbeil

Das Trachten nach dem Reich

Zum Motto der Tempelgesellschaft

... Christoph Hoffmann hat die Sätze »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen« (Mt 6,31-33) zur Losung des Tempels erkoren. Da ist es angebracht, immer wieder darüber nachzudenken und sich auch über die darin verwendeten Begriffe klar zu werden.

Zuerst einmal, was ist das, das Reich, nach dem wir zuerst trachten sollen?

Was bedeutet Reich Gottes? Reich ist die Übersetzung des griechischen Wortes für König­reich oder Königsherrschaft. Reich ist dort, wo das Wort und die Gesetze des Königs gelten und befolgt werden. Gottes Reich ist da und dann, wenn und wo seine Gebote befolgt werden und die Menschen nach seinem Willen und nach ihrer gottgewollten geistigen Bestimmung leben.

Dieses Bild hatte wohl auch Jesus vor Augen, als er in der Bergpredigt seine Jünger lehrte, wie sie beten sollten: »Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« (Mt 6,9-10). Diese drei ersten Bitten des Vaterunsers haben ein einheitliches Anliegen und erklären sich gegenseitig: Der Name Gottes wird nach frühchristli­cher Sicht dadurch geheiligt, dass seine Gebote, und ganz speziell das Gebot zur Liebe unter den Menschen, gehorsam befolgt werden. Der Name Gottes wird entheiligt dadurch, dass die Menschen seine Gebote nicht befolgen.

Die Bitte »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« geht davon aus, dass in jenen Sphären, die außerhalb unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit liegen, Gottes Wille in seiner Vollkommenheit realisiert ist. Und diese Vollkommenheit - im Bild sprechen wir vom Himmelreich - soll das Vorbild und das Ziel für diese Welt der Menschen sein. Diese Bitte ist so letzten Endes das Gelöbnis zur Aktivität: nämlich nach dem Willen Gottes zu leben.

Die Bitte »Dein Reich komme« fasst die beiden anderen Bitten zusammen. Wir bitten da­rum, dass diese erfassbare Welt den Weg in Richtung auf die Vollkommenheit und den Frie­den Gottes finde. Jesus hat, als er uns dieses Gebet gab, den Himmel für uns auf diese Erde geholt, nicht als derzeitige Wirklichkeit, sondern als zukünftige Verheißung. Und so wird die zweite Bitte des Vaterunsers »Dein Reich komme« zur ethischen Herausforderung für uns.

Dieser Aspekt des Gottesreichs wiederholt sich noch ausdrücklicher in der Formulierung »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes!«. »Trachten«, das ist: anstreben, darauf hinarbeiten, sich dafür einsetzen, das Leben daraufhin ausrichten. »Zuerst« bedeutet: vor allem anderen - vor dem Streben nach irdischen Gütern, vor dem Streben nach Ruhm und der Anerkennung der Leute.

»Trachtet nach dem Reich« ist, so verstanden, ein Kürzel. Es ist der Ruf, nach Gottes Ge­bot zu leben. Gottes Gebot aber ist, dem anderen Menschen in Liebe gegenüberzutreten. Es ist die Konsequenz aus unserem Glauben, dass Gott seine Schöpfung liebt und ihr ein gutes Ziel vorgegeben hat. Wenn aber Gott diese Schöpfung, jeden einzelnen Menschen, liebt, sind wir aufgefordert, auch jedem Menschen mit Liebe zu begegnen. Jesus hat uns dieses Liebes­gebot in den Worten der Bergpredigt vor Augen gestellt. Diese Verkündigung und diese Bot­schaft sind so eindringlich und weitreichend, dass manche sogar sagen, dieses ethische Niveau sei für uns Menschen nicht erreichbar. Hier einige Höhepunkte:

Es ist das Gebot, das Handeln nicht daran auszurichten, wie uns der andere gegenübertritt. Wir sollen nicht vergelten und strafen und es heimzahlen wollen, es den anderen büßen las­sen. Die Liebe sieht über alles hinweg. Die Liebe verzeiht, siebenmal siebzigmal.

Es ist das Gebot: Liebe nicht nur deinen Nächsten, deine Freunde, deine Nachbarn, son­dern ebenso den Fremden, ja deinen Feind. Die Liebe hat keine Grenzen und beschränkt sich nicht auf die, mit denen wir gut auskommen. Das Gebot der Liebe ist grenzenlos. Es gilt auch gegenüber denen, mit denen wir nicht auskommen und die uns Böses getan haben. Es gilt auch gegenüber denen, die wir nicht kennen und die uns fremd sind.

Es ist das Gebot, dem Anderen stets positiv entgegenzutreten. Jesus sagt: Richtet nicht und, vor allem, redet nicht schlecht vom Anderen. Seht ihm den Splitter im Auge nach und ver­sucht zuerst einmal in Bescheidenheit eure eigene Unzulänglichkeit zu bessern.

Das Trachten nach dem Reich ist die Mitte der Botschaft Jesu. Es steht auch am Anfang des Wirkens Jesu. Mt 4,17 berichtet, Jesus habe seine Verkündigung mit dem Aufruf begon­nen: »Denkt um, ändert euren Sinn, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!«. Das Trachten nach dem Reich ist so gesehen eine Neuordnung der Prioritäten in unserem Leben: weg von der naturgegebenen und in den Genen verankerten Ich-Bestimmtheit des Menschen und hin zu dem, was diese Welt zur Liebe und zum Frieden führt, zur Du-Bestimmtheit.

Der Tempel und der Weg zum Reich

Der Tempel sieht ebenso wie die Jesusworte im Vaterunser die zwei Ausformungen der Got­tesherrschaft. Da ist zunächst das jenseitige, das transzendentale Reich, das Gott selbst und seinen Willen repräsentiert. Es ist die Idee der Vollkommenheit, es ist das Geheimnis seiner Allmacht. Dieses Reich liegt außerhalb unserer Denk- und Vorstellungsfähigkeit. Wir sollten das Geheimnis in Demut akzeptieren.

Wenn die Lehre des Tempels vom Reich Gottes redet, so ist es immer die Herrschaft Gottes in dieser Welt, das Reich Gottes auf Erden. Hinter dieser Vorstellung steht der Glaube, den schon die Propheten des Alten Testaments gepredigt hatten und der auch Gegenstand der Verkündigung Jesu ist, nämlich, dass diese Welt nach dem Schöpfungsplan Gottes dazu bestimmt ist, ein Reich des Friedens und der Liebe zu werden. Wir glauben, dass diese Welt keine Schöpfungsruine ist, sondern von Anfang an zielgerichtet auf den Weg der allmählichen Vervollkommnung auf den Weg gebracht wurde.

Wir glauben, dass der Schöpfer dieser Welt zum Ziel gesetzt hat, sich in Richtung auf die Vollkommenheit zu entwickeln und sein Reich zu werden, und dass es dem Menschen be­stimmt ist, dazu beizutragen. An diesem Punkt, nämlich dem Beitrag des Menschen zum Werden des Gottesreichs, haben sich schon vor zweihundert Jahren die Geister geschieden, und sie scheiden sich heute noch. Alle, Kirche und Pietismus waren sich einig, dass die Welt auf dem Wege zum Reich Gottes sei. Der Pietismus wartete auf die Wiederkehr Christi, der dann das Reich endgültig und in Vollkommenheit aufrichte. Reich Gottes war für sie eine end­zeitliche Vorstellung. Johann Albrecht Bengel rechnete vor mehr als 250 Jahren anhand der Weissagungen in der Offenbarung das voraussichtliche Datum dieser Wiederkehr aus. Ein Schüler Bengels fomulierte: Wir können zum Werden des Reichs nichts beitragen; es ist allein Sache des Herrn Jesus. Unsere Aufgabe ist es, auf sein Kommen vorbereitet zu sein.

Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also vor über 200 Jahren, setzte sich in den Rei­hen einiger weltoffener Pietisten die Überzeugung durch, dass es gottgewollte Aufgabe des Menschen sei, sich für das Werden dieser besseren Welt einzusetzen und dem Reich den Weg zu bereiten. Sie verstanden die Jesusworte »Denkt um, ändert euren Sinn, das Reich ist nahe herbeigekommen!« als Aufruf, die unbegrenzte Liebe zum Mitmenschen zu lernen und den Hass zu verlernen nach dem Vorbild der Urgemeinde. Sie sahen darin die Bestimmung des Menschen.

Philipp Matthäus Hahn hatte diese Verpflichtung gepredigt und Gottlieb Hoffmann hatte sie bei der Gründung Korntals eingebracht. Christoph Hoffmann hatte dieses Gedankengut aufge­griffen und zur Mitte des Tempelglaubens gemacht: Nicht das passive Glauben an die Göttlich­keit Christi und das Streben nach dem individuellen Seelenheil führen zur Vervollkommnung und zur Gottnähe, sondern der tätige Glaube an den Kern der Botschaft Jesu, eben das Reich Gottes. Dieser Glaube beinhaltet den Glaubensgehorsam, die Ethik der Bergpredigt zu leben und so beizutragen zum langsamen Wachsen des Reichs, zur allmählichen Vervollkommnung dieser Welt. Im Bericht der Versammlung zur Gründung des Deutschen Tempels 1861 auf dem Kirschenhardthof heißt es dazu wörtlich: »Die Versammlung war einig darüber, dass es zwar einzig die Sache des Herrn Jesu selbst ist, seinen Tempel zu bauen und sein Reich aufzurich­ten, dass er es aber nicht tut, wenn sich nicht Menschen zur Ausführung seiner Pläne ent­schließen« (»Geschichte des Tempels«, S. 239).

Für die Damaligen, die diesen Satz schrieben und ihn der Tempelgründung voranstellten, war es selbstverständlich, dass der Mensch allein und aus sich heraus die »Ausführung seiner Pläne« nicht zu leisten vermag. Die Freiheit des Menschen, das Gute zu tun, ist einge­schränkt, weil wir ein Teil der Natur sind, die primär nicht auf Liebe, sondern auf Selbstbehaup­tung ausgerichtet ist. Der Schöpfer, der seine Schöpfung begleitet, muss immer wieder eingrei­fen und immer wieder neue Kraft und neue Impulse geben. Auch hier gilt das Urprinzip des Lebens: das Zusammenwirken von Gottes Gaben und dem Wollen und Trachten des Men­schen. Die Idee vom Reich Gottes ist ein Angebot Gottes für seine Schöpfung. Es ist Sache der Menschen, dieses Angebot zu ergreifen.

Die Damaligen standen in der Naherwartung der eschatologischen Wende, der Wiederkunft Christi, der das Reich endgültig aufrichten wird. Wir Heutigen können diese Sicht nicht mehr teilen, auch und gerade wir Templer nicht. Diese Verschiebung der Naherwartung in eine nicht absehbare Zukunft hat schon beim älter gewordenen Christoph Hoffmann angefangen und vie­le seiner Äußerungen und auch ein Teil der Differenzen mit Hardegg werden erst unter diesem Aspekt verständlich.

Aber das Aufgeben der Naherwartung hatte für die Tempellehre und die Ethik des Tempels keine grundsätzlichen Verschiebungen gebracht. Auch die frühen Templer hatten einkalkuliert, dass sie selbst möglicherweise den Anbruch der Endzeit nicht mehr erleben würden. Es ging für sie nicht in erster Linie darum, den Umbruch zu erleben, sondern diesen durch ihr aktives Trachten nach dem Reich zu ermöglichen. Sie hatten, wie es in dem Bericht zur Tempelgrün­dung heißt, sich zur »Ausführung seiner Pläne« entschlossen. Diese Ausführung der Pläne besteht aber darin, die grandiose, ja fast perfektionistische Ethik der Bergpredigt als Richtlinie für das eigene Leben anzuerkennen. Die Ethik der Bergpredigt beginnt mit dem Erlernen und der Einübung der Liebe zum anderen Menschen, einer Liebe ohne Falsch und ohne Vorbehal­te. Weil wir uns in Gott geborgen wissen und weil wir glauben, dass er uns führt, wollen wir uns getrost auf diesen Weg begeben.

Christian Rohrer, der 1934 in Jerusalem verstorbene Tempelvorsteher, hat diese Ausrich­tung des Tempels in ganz einfachen Worten so beschrieben: »Wir glauben, dass die Liebe zu den Mitmenschen und die Barmherzigkeit gegen alle Geschöpfe Gottes die beste Art ist, Gott zu lieben und zu dienen, und der einzige Weg, das Ziel zu erreichen, nämlich: ein Reich des Glücks und des inneren Friedens aufzurichten, ein Reich, das dem Willen Gottes entspricht, das wir deshalb ‚Reich Gottes‘ nennen«.

Otto Hammer, aus der Dankfestansprache vom 24. September 2000

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Gerecht durch Werke?

»So seht Ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.« (Jakobus 2,24)

Die Diskussion darüber, ob der Mensch durch Werke vor Gott gerecht werden kann oder ob allein durch seinen Glauben, durchzieht die christliche Theologie von Anbeginn. Ob Paulus im Römerbrief sagt: »Der Mensch wird gerecht ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«, ob Jakobus genau gegenteilig argumentiert oder ob Luther sich in seiner Recht­fertigungslehre damit auseinandersetzt - immer geht es um die Frage, wie der Mensch in seiner Sündhaftigkeit vor Gott bestehen kann. Doch Paulus und Jakobus haben ihre Aussagen vor einem unterschiedlichen Hintergrund gemacht: Paulus sprach zu Gläubigen, die aus dem Judentum kamen, nach dem das Einhalten von Ordnungen und Geboten den Weg zu Gott ebneten, und ihnen sagte er: nur der Glaube! Jakobus hatte Menschen vor sich, die sich der Gnade Gottes zu sicher waren, und ihnen sagte er: der Glaube muss praktische Auswirkungen haben, wenn es sich um wirklichen Glauben handeln soll. Das bei Jakobus folgende Beispiel beschreibt diese Situation genau: was hilft es einem, der Hunger hat, wenn ein Christ zu ihm sagt: Gott segne dich! In diesem Fall wäre die einzig richtige christliche Haltung, etwas zu tun, nämlich dem Hungernden etwas zu Essen zu geben.

Das, worum es hier geht, ist kein dogmatisches Problem. Es geht - sowohl bei Paulus, als auch bei Jakobus und auch bei Luther - nicht darum, dass wir uns nach einem Schema verhalten sollten, um ‚selig‘ zu werden - wir alle sind auf Gottes Gnade angewiesen. Es geht darum, dass unsere Glaubensüberzeugung, die wir von Jesus haben, aus sich selbst heraus zu einer bestimmten Haltung, zu einem bestimmten Tun führen sollte. Aus diesem Grund haben die frühen Templer für sich das Jesuswort vom Trachten zum Motto erkoren, aus diesem Grund sind sie, ihrem Glauben folgend, in das Heilige Land ausgewandert und haben versucht, dort das umzusetzen, was für sie aus dem Hören des Wortes folgte. Denn zuerst kommt das Hören - und dem maß Jesus eine große Wichtigkeit bei, wie aus der Erzählung von Maria und Martha hervorgeht -, dann kommt das Verinnerlichen und daraus erwächst das Tun.

Aber auch Humanisten und Philanthropen folgen ihrer Überzeugung und tun anderen Gutes - und dieses Tun ist keineswegs geringer zu schätzen als das Handeln aus christlichen Moti­ven.

Aber denjenigen, die sich in der Nachfolge Jesu sehen, gibt der trachtende Glaube erfüllen­de Kraft und macht sie zum Tempel, zu jener Gemeinschaft, in der der Geist Gottes Wohnung findet.

Karin Klingbeil

 

In der aktuellen Ausgabe der ‚Templer Reflections‘, die in Anlehnung an ein Sprichwort lautet ‚When life gives you lemons...‘ (Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus!) schreibt Herta Uhlherr als Mitverantwortliche für diese Ausgabe über

Zitronen und unser inneres Licht

Die menschliche Existenz scheint von mehr Katastrophen bedroht zu sein als jemals zuvor. Harmonie, Wohlwollen und friedfertige Wechselbeziehungen scheinen seltener - oder ist es nur so, dass die Medien uns vornehmlich mit Tod und Unglücksfällen konfrontieren? Wie werden wir zu unserem besseren Selbst, frohgemut und ruhig, mutig und liebenswürdig?

Eine Katastrophe, eine ’bittere Zitrone’, kann unsere Selbstherrlichkeit und Selbstzufrieden­heit, unsere häufig unbewussten Angewohnheiten infrage stellen und uns motivieren, innerlich zu wachsen - das ist die Kunst, das beste menschliche Wesen zu werden, das wir sein können. Novalis schrieb: »Mensch werden ist eine Kunst.« Reif zu werden erfordert das Wissen um sich selbst. Oft entdecken wir erst in einer kritischen Situation Fähigkeiten, von denen wir keine Ahnung hatten, dass wir sie besaßen, wie Ausdauer, Stärke, Geduld, Vertrauen in die höhere Weisheit ..., nur weil keine Alternative zu sehen ist. Wenn du dich nicht selber kennst, wirst du gar nichts wissen - könnte das wahr sein?

Wenn die Umstände von uns ein umfassendes ‚reset‘ (Zurücksetzen) erfordern, können wir unvorstellbarer Möglichkeiten oder Gelegenheiten gewahr werden, wenn wir ‚Augen haben zu sehen‘. Manchmal bringt das Schlimmste in der menschlichen Natur das Beste hervor. In Dunkelheit und Chaos können wir lernen, unser eigenes Licht zu finden oder bereitzustellen, oder es in verschiedenen Menschen zu sehen, die uns dazu inspirieren, weiter durchzuhalten.

Inmitten der andauernden Angst und Ungewissheit des Todeslagers von Auschwitz fanden Menschen heraus, dass sie einen inneren Zufluchtsort heraufbeschwören konnten, so wie der Psychiater Dr. Viktor Frankl (1905-1997), Autor von »Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn«, 1946, und die junge Edith (später die Psychologin Dr. E. Eger, die 2017 das Buch »The Choice«, deutscher Titel: »Ich bin hier, und alles ist jetzt - warum wir uns jederzeit für die Freiheit entscheiden können«) schrieb. Indem sie sich auf etwas Schönes in ihrer Erinnerung oder in ihrer Vorstellung fokussierten, erlebten sie Momente der Linderung, sogar Freude. Ediths Mutter, die am Tage ihrer Ankunft in Auschwitz vergast wurde, hatte zu ihr gesagt: »Was du als Gedanke in deinem Kopf hast, kann dir niemand nehmen.« Als der gefürchtete Dr. Mengele sie im Alter von 16 Jahren für sich tanzen ließ, versetzte sie sich in ihrer Vorstel­lung in die wunderschöne Oper von Budapest und trat ‚dort‘ auf. Wir können uns oft nicht aus­suchen, im Dunkel zu sitzen, aber wir können uns dafür entscheiden, ein Licht zu entzünden.

Viktor Frankl, etwa doppelt so alt wie Edith, konzentrierte sich auf das geliebte Gesicht sei­ner Frau, als er versucht war, zermürbt von Hunger und Entsetzen, aufzugeben. Manchmal stellte er sich vor, wie er an der Universität in Wien über die Psychologie des Freiheitsentzugs sprach. Das half ihm, (kurzzeitig) gegenwärtige Angst und Schmerz auszublenden, und verlieh ihm Hoffnung und Sinnhaftigkeit - die Grundlage dafür zu überleben. Er kam zu der Überzeu­gung, dass das Überleben darauf beruht, dass man Sinn auch in einer hoffnungslosen Situa­tion findet. »Auch wenn das Leid nicht zu verhindern und unentrinnbar ist, können sie (deine Peiniger) dir niemals die innere Freiheit nehmen, diesem mit Mut und Würde zu begegnen.« Die Gedanken sind frei - du kannst wählen, was du denkst, du kannst dich inmitten von Ver­dorbenheit vornehm verhalten.

Heute können wir diese Einsicht insofern für uns anwenden, als wir bewusst wählen kön­nen, ob wir der Meinung in unserer bevorzugten Echo-Kammer zustimmen oder entrüstet da­rüber sein wollen, und ob wir uns lieber davon absetzen wollen.

Manche Überlebende bleiben in ihrem Trauma psychologisch gefangen, auch wenn sie längst befreit worden sind. Manche entscheiden sich ein Leben zu führen, um zu hassen und die Vergangenheit zu rächen, und brauchen möglicherweise eine Zeitlang professionelle Hilfe, um zu lernen, ein anderes Leben zu führen, das bereichert, indem man den gegenwärtigen Moment genießt. Vielleicht einen Zitronenbaum pflegen, um die Früchte, die er trägt, mit an­deren zu teilen?

Wachsende Selbsterkenntnis beinhaltet, dass wir damit aufhören, die Teile in uns, die wir nicht mögen, auf andere zu projizieren. Wenn uns bei jemandem auf Anhieb etwas irritiert, sollten wir uns selbst fragen (vorsichtig, denn wir tendieren dazu, sofort abwehrend zu reagie­ren): ‚Was stört mich so sehr?‘ Wenn wir das herausgefunden haben, sollten wir fragen: ‚Bin ich genauso?‘ Eine sofortige Abwehr verdient weiteres Nachdenken und vielleicht Verände­rung.

Wir können auch positiv vorgehen, wenn wir fragen: ‚Was finde ich an dieser Person so at­traktiv? Ist das eigentlich ein unterentwickelter Teil von mir?‘

Wenn wir lernen, den Tag über unsere Projektionen wahrzunehmen, beginnen wir, uns und die anderen klarer zu sehen, und können daher auch viel authentischer auf sie eingehen, mit weniger Missverständnissen. Ein Schritt zu umfassenderer Harmonie.

Es ist schwierig, der ‚Bittere-Zitronen-Dunkelheit‘ negativer Stimmen um uns herum zu be­gegnen: du bist ein Verlierer, dumm, du wirst nie glücklich werden, du verdienst es nicht, du bist nicht gut genug! Aber nicht diese Stimmen sind das Problem - wir können uns dafür entscheiden, sie zu ignorieren. Das Problem entsteht dann, wenn wir ihnen Glauben schen­ken, denn dann geben wir ihnen Macht über unsere Gedanken und dadurch auch über unsere Gefühle. Gefühle kommen und gehen, sie gehen vorüber. Sie geschützt auszudrücken kann uns davor bewahren, depressiv zu werden. Sie zu unterdrücken hat den gegenteiligen Effekt.

Wir können unsere Einstellung, unsere Gedanken ändern, und uns immer wieder versi­chern: Ich bin in meinem ‚Tempel‘ mit der göttlichen schöpferischen Lebenskraft verbunden. Ich bin in Verbindung mit der liebenden Weisheit des Universums und habe zahllose Gelegen­heiten, die beste Ausgabe meiner selbst zu sein. Ich kann einen positiven Unterschied bewir­ken. Stephanie Dowrick sagt: »Sich dafür zu entscheiden, das kleinste bisschen großzügiger zu sein, ist ein Akt der Ermächtigung.« Wollen wir es versuchen?

Wir können lernen, helle, sprudelnde ‚Limonade‘ zu machen, um Nahrung und Licht bereit­zustellen, zumindest in unserem kleinen Bereich der Welt. Wir können uns wieder vorstellen, was es heißt, ein Leben zu leben, das eine Bedeutung hat. Es ist wichtiger, (für) die Möglich­keiten zu leben, die vor uns liegen, als in Verzweiflung darüber zu sterben, was verloren ist.

Wir ‚gewöhnlichen‘ und doch einzigartigen Menschen können ein Leben voller Licht, Sinn­haftigkeit und Harmonie führen, wenn wir genug Glauben haben, großherzig zu lieben, andere, uns selbst und unsere Erde. Wenn wir mehr lieben, ergibt sich alles andere; das ist die effek­tivste, kunstvollste und befriedigendste Art und Weise, die Einheit des Lebens umzusetzen. Mögen wir einen Weg finden, das zu tun.

Herta Uhlherr, Übersetzung Karin Klingbeil

 

»Ich habe überlebt und kann daher meine innere Arbeit tun. Überleben zu lernen, streben und anderen zu helfen, dasselbe zu tun.«

Edith Eger

Vom Leben in verschiedenen Blasen

Schon im vergangenen Jahr hatten wir unsere Leser dazu aufgefordert, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Corona-Zeit - positiver oder negativer Art - zu berichten. Nun hat Hanna Thaler diese Anregung aufgegriffen und lässt uns teilhaben an ihrer nachdenklich stimmenden Auseinandersetzung mit dem Thema.

In letzter Zeit werde ich immer mehr darauf gestoßen, wie die Menschen um mich und ich selbst in verschiedenen Blasen, teilweise fast schon »Parallelwelten« leben. Das erschüttert mich manchmal sehr. Die Menschen, mit denen ich Kontakt habe, haben unterschiedliche Formen von Unzufriedenheit, von »Krisen«. Da gibt es Künstler, die darunter leiden, dass sie durch die Corona-Maßnahmen ihren Beruf kaum ausüben können. Manche ältere Menschen würden gerne etwas auf die schützende Isolation verzichten. Jugendliche wollen endlich mit mehreren Freunden feiern. Dagegen stehen diejenigen, die kein Verständnis für »Querdenker« haben und sich wünschen, dass die Politik härter durchgreift.

Das Sich-Abschotten von anderen ist ja ohnehin eine Tendenz, die es auch schon vorher gab. Allerdings wurde sie ganz offensichtlich durch die Pandemie verstärkt. Die »social bubble« sollte eine Möglichkeit darstellen, die Corona-Lockdowns zu überstehen, ohne sich anzustecken, aber gleichzeitig im Kontakt mit wenigen Freunden oder Familienangehörigen nicht zu vereinsamen. Natürlich kann man auch offen und empathisch bleiben für andere, ohne sich mit vielen Menschen zu treffen. Aber wenn man sich über einen längeren Zeitraum von anderen isoliert, werden die anderen, von denen man nur in den Nachrichten liest oder hört oder Filme sieht, doch etwas schemenhafter, fremder, passen sich der flachen Oberfläche des ständig vor uns befindlichen Bildschirms doch ein bisschen an.

Zusätzlich befanden und befinden wir uns in unserer »Filterblase«. Durch die Speicherung unserer Datenspur werden uns im Netz personalisierte Inhalte angeboten, was einerseits prak­tisch und notwendig ist, andererseits unseren Blick auf die Welt einschränken kann. Uns wer­den die Ergebnisse angezeigt, die unserem bisherigen Suchverhalten, Wohnort, politischem Interesse entsprechen (eine Alternative ist www.startpage.com, eine von Datenschützern empfohlene Suchmaschine, die die eingegebenen Suchanfragen an die Google-Suchmaschi­ne weiterleitet und dadurch anonymisiert die Suchergebnisse anzeigt).

Das Phänomen der Filterblase alleine dafür verantwortlich zu machen, dass unsere Gesellschaft »auseinanderdriftet«, ist natürlich viel zu kurz gegriffen. Es bildet vielmehr unsere ohnehin schon bestehenden Blasen ab. In unserer sozialen Blase und Filterblase eingerichtet, fehlt es uns an Resonanz und Reibung mit anderen Menschen und wir werden müde, träge und energielos, wie Harmut Rosa das auch beschreibt. Unser Geist braucht aber dringend kleine Provokationen und Interaktionen. Es hat mich selbst überrascht, wie ungewohnt und aufreibend es sich anfühlt, wenn ich nach längerer Zeit wieder mit einem Menschen rede, der im weitesten Sinne nicht meiner Blase angehört. Oft bin ich schon zu träge für eine Auseinan­dersetzung. Das liegt einerseits an meinen Gewohnheiten und meiner Bequemlichkeit, manch­mal finde ich es aber auch schwierig, die Situation des anderen, besonders momentan in die­ser Pandemiezeit, so gar nicht einschätzen zu können, und vermeide es tunlichst, in ein Fett­näpfchen zu treten. Manche Gespräche kommen gar nicht zustande, weil meine Schubladen »Corona-Leugner«, »Verschwörungstheoretiker«, »Rechtes Gedankengut« schnell auf- und wieder zugeschoben werden. Ich habe in letzter Zeit aber wieder länger zugehört, weil mir manche Menschen auch viel zu sagen hatten, zum Beispiel ein Cafébesitzer, der seit Monaten nicht öffnen kann. Je länger das Virus uns beherrscht, werden Menschen sich mehr zu beklagen haben und das auch zurecht, weil die Situation vor allem auch für die Jüngeren immer noch teilweise sehr negative Nebenwirkungen hat. Manchmal hatte ich nach solchen Gesprächen das Gefühl, überflutet worden zu sein von Negativität. Aber dadurch wurde ich angestoßen, über meine eigene Situation nachzudenken. Es war unangenehm für mich, mir meiner Privilegien und meines eingeschränkten Blicks bewusst zu werden. Allerdings hatte ich auch gegenteilige Erlebnisse. So dachte ich zeitweise, ich lebe als bereits geimpfte Lehrerin und Nicht-Alleinlebende auf der »Insel der Seligen«, während es anderen schlecht gehe, merkte dann aber, dass einige weniger unter der Krise zu leiden schienen, als ich angenom­men hatte - dass manche, die alleine leben, doch gut mit ihrem Alltag klarkamen und so weiter. Umso schöner war es, im Austausch zu sein, sich wieder den anderen zuzuwenden und auch mal über Themen zu sprechen, die über Corona hinausgehen.

Mir wird im Laufe dieser Zeit der Wert des kontroversen Austauschs besonders bewusst und ich frage mich, wie gesamtgesellschaftlich die Widersprüchlichkeit und Vielfalt der Meinun­gen so behandelt werden können, ohne die Gräben noch zu vertiefen und rechthaberisch zu werden. Unsere Gesellschaft bestand auch vor dem Internetzeitalter aus unterschiedlichen Kräften, die Tendenz der Abschottung unterschiedlicher Gruppen gab es auch zuvor. Aller­dings wird heute in den Debatten von verschiedenen Seiten ein moralisierender Ton verwen­det, der teilweise eher kontraproduktiv ist. Wenn dann noch der direkte, spontane, ver­söhn­liche Kontakt mit Menschen fehlt, kann das schon zu einer unguten gesellschaftlichen Stimmung führen. Ich bin so froh über den Kontakt mit anderen, die anders leben als ich und andere Meinungen haben, und würde mir wünschen, dass das hoffentlich nicht ganz so ferne Ende der Kontaktbeschränkungen auch wieder zu mehr aktivem Austausch führt, ohne dass gleich moralische Kategorien und Vorurteile ihn unmöglich machen.

Hanna Thaler

Verbannungsorte im Reich der Pyramiden

Im Gedenken an die Verschleppung der Palästina-Templer vor 100 Jahren

Es waren dunkle Stunden, die die deutschen Siedler in Palästina am Ende des Ersten Welt­kriegs erlebten, als durch die von Westen vordringenden britischen Truppen in den südlich gelegenen Kolonien der Templer Kriegshandlungen gegen die zurückweichenden osmanisch-deutschen Heeresverbände begannen, die die blühenden Siedlungen am Ende zu wüsten Kriegs­schauplätzen werden ließen. Der Erste Weltkrieg war mit der Kapitulation Deutschlands 1918 zwar schon zu seinem Ende gekommen, die Auseinandersetzungen um eine Vormacht­stellung im nahöstlichen Raum hielten jedoch noch einige Jahre an, zumindest die Umstellung der Bevölkerung auf die neue politische Verwaltung des Landes durch Großbritannien.

Durch persönliche Erinnerungsschriften oder Erzählungen haben die meisten Templer wohl immer wieder von einem bestimmten Ort in Ägypten gelesen oder gehört, nämlich von He­lou­an, bei Kairo gelegen, wohin die neuen Herren über Palästina die Bewohner der Tempel-Sied­lungen Jaffa, Sarona, Wilhelma und Jerusalem im Sommer 1918 verschleppt hatten. In den Lebenserinnerungen meiner Großmutter Anna Bulach heißt eine entsprechende Kapitel-Über­schrift: »Unsere Abfahrt in die Gefangenschaft«. Sie erzählt dort:

Internierte Frauen und Kinder in Helouan (Foto: TGD-Archiv)
Foto: TGD-Archiv

»Große leere Lastautos ohne Sitzgelegenheit warteten in der frühen Morgenstunde des 14. Juli, als es noch dunkel war, auf uns in Jaffa in unserer Straße. Wir ließen uns darin auf unserem Handge­päck nieder und wurden nach Lydda gefahren, wo wir in den Zug nach Ägypten verladen wurden. Wir fuhren, bis wir am nächsten Morgen Helouan er­reichten. Dort wurden wir auf andere Lastautos ver­laden und eine kurze Strecke bis vor ein großes Ho­tel »Al Hajat« gebracht, das für zwei Jahre unser Aufenthaltsort werden sollte. Müde und hungrig waren wir alle und recht froh, nun am Ziel angekommen zu sein. Sehr gespannt waren wir, wie sich unser Leben nun gestalten würde. Wir wurden in fünf Sektionen eingeteilt, jede hatte ihre eigene englische Schwester, eine Kommandantin hatte das Ganze unter sich. Wir waren etwa 800 Deutsche. Die Männer und Jungens über 9 Jahren kamen ins Männerhaus, die Mädchen in Schlafsäle. Zu den Mahlzeiten waren wir etwa 600 Personen in einem großen Speisesaal. Männer und Buben aßen in einer großen überdachten Veranda. Wir waren am Rand der Wüste und sahen in der Ferne den Nil und die Pyramiden. Beim Essen wurden wir zuerst von einer Anzahl Ägypter bedient. Das Ge­schirr bestand aus abgestoßenen Email-Bechern und -Tellern und ebensolchen Waschkrügen, in denen die Suppe aufgetragen wurde, sehr wenig appetitlich und schmackhaft. Die Küche besorgte ein Grieche, der sicher stark in seine eigene Tasche arbeitete. Allmählich nahmen aber unsere deutschen Männer alles selbst in die Hand, nachdem eine Anzahl derselben aus dem Kriegsgefangenen-Lager in Sidi-Bischr zu uns gekommen waren. Da ging es uns viel besser. Die Frauen hatten abwechselnd Küchendienst, und die Kakerlaken, die in Millionen vorhanden waren, starben dadurch allmählich aus.«

Die Palästina-Siedler mussten ihr Gemeinschaftsleben so gut es ging in Helouan weiterfüh­ren wie bisher. Es gab Gottesdienste, Sportveranstaltungen, Schulunterricht und vieles andere mehr, was von leitenden Personen organisiert wurde. Zugesetzt hat den Verbannten vor allem das heißere Klima am Nil, das zum Ausbruch zahlreicher Krankheitsfälle führte. Marie Lorch, Ehefrau von Sanitätsrat Karl Lorch aus Jaffa, schreibt darüber in ihrem Tagebuch:

»An den Zimmern entlang geht ein breiter Korridor mit großen Fenstern, die wir nachts meist offen halten, wie auch unsere Türen, da wir sonst nicht schlafen könnten. In der ersten Woche war es schrecklich heiß. Viele, besonders ältere Leute, bekamen Herzklopfen und son­stige Störungen, auch schwarzblaue Flecken am Körper infolge von Blutstauung. Kinder hat­ten Fieber und massenhaft Augenentzündungen. Im obersten Stock sind verschiedene Zim­mer als Spital eingerichtet, und dieses ist immer gut belegt. Die Augenkrankheiten arten hier scheints gerne aus, es ist eine eigene Abteilung für Trachom eingerichtet worden, und es muss da hingehen, wer nur einen Anflug davon hat. Junge Frauen und Mädchen, die geeignet sind, müssen beim Pflegen helfen, eine Schwester hat die Oberaufsicht.«

Es kamen auch zahlreiche Fälle der »Spanischen Influenza« vor, die in der damaligen Welt zwischen 1918 und 1920 überall viele Opfer dieser Pandemie forderte. Dies waren die schlimmsten Begleiterscheinungen der Verschleppung der Deutschen an den Nil. Im Mittel­punkt des täglichen Lebens der Verbannten stand stets die Ungewissheit über ihre weitere Zu­kunft. Es bewegte die Siedler ständig die Frage, wann sie wieder in ihre Kolonien zurückkeh­ren könnten.

Statt einer positiven Meldung von Seiten der britischen Regierungsstellen, die inzwischen vom Völkerbund ein Mandat über Palästina erhalten hatten, machten Nachrichten die Runde, dass die Regierung in London eine Rückkehr der Siedler in ihre Häuser und Höfe ablehne. Stattdessen sollten die in Ägypten Internierten nach Deutschland abgeschoben werden. Ein erster Transport von 270 Lagerinsassen verließ dementsprechend am 13. April 1920 Helouan und wurde trotz vieler Proteste im württembergischen Bad Mergentheim untergebracht (siehe auch: Paul Sauer, »Uns rief das Heilige Land«, 1985). Auch durch die Intervention internatio­nal anerkannter Hilfsorganisationen, wie der Quäker und der Unitarier, gelang es nicht, die Entscheidung Großbritanniens zu ändern. In einem Protest-Appell in Bad Mergentheim an die deutsche Reichsregierung hieß es: »Wir erachten es als unabweisbare Pflicht der Menschlich­keit wie des Christentums, dass Leuten, die im Heiligen Land geboren sind und die dort, in Fortführung des von ihren Vorfahren begonnenen religiösen Werks, ihr ganzes Leben hindurch zum Besten des Landes gearbeitet haben, unverzüglich die Rückkehr dorthin gestattet und so die Möglichkeit der Weiterführung ihres religiösen Werks gegeben werde.«

Statt einer Heimkehr nach Palästina mussten die noch in Helouan verbliebenen etwa 400 Internierten im Juni 1920 eine Verlegung ihrer Unterkunft in das Gebäude des ehemaligen österreichisch-ungarischen Hospitals in Schubra am Nildelta hinnehmen, wo sie ein weiteres halbes Jahr des Wartens hinter sich bringen mussten (Tempelvorsteher Christian Rohrer fand die Unterkunft dort »leidlich«, wenn auch beengter als in Al Hajat). Erst Ende Juli 1920 gab das Londoner Oberhaus dann seine Entscheidung bekannt, dass eine Rückkehr der Siedler, auch der nach Mergentheim transportierten, in ihre Kolonien gestattet würde. Der Aufenthalt in Schubra dauerte für die Verschleppten ein rundes halbes Jahr, ehe sie dann im September ihre vom Krieg stark mitgenommenen Häuser und Höfe in den Siedlungen wieder beziehen konnten.

Die literarisch Interessierten unter unseren Le­sern werden bei der Erwähnung des Ortsnamens »Schubra« an den Gründer der Deutschen Land­wirtschafts-Gesellschaft erinnert, den Schriftsteller-Ingenieur Max Eyth (Romane »Hinter Pflug und Schraubstock«, »Der Kampf um die Cheops-Pyra­mide«, »Der Schneider von Ulm«), der durch seine Entwicklungen und Verbesserungen in der Landwirt­schaft, besonders in der Einführung von Dampfpflü­gen, bekannt wurde, die er als Oberingenieur in Ägypten in der Zeit bis 1866 am Nildelta bei Schu­bra auf ihre Tauglichkeit hin getestet hatte.

Wer sich schon mal mit der Geschichte der Tempelgesellschaft befasst hat, wird durch die hier erfolgte Erwähnung der drei ägyptischen Nil-Orte Helouan, Sidi-Bischr und Schubra um einiges an Wissen bereichert werden, wenn auch nur in Stichworten.

Peter Lange

Neues aus Sarona

In der Maiausgabe der »Warte« von 2019 haben wir - ebenfalls unter dieser Überschrift - über die Restaurierung der alten Gemeindehausglocken von Sarona berichtet. Nun, im April, sind diese Glocken wieder auf dem ehemaligen Gemeindehaus installiert worden, worüber auch in der größten israelischen Zeitung »Ha‘aretz« berichtet wurde.

Der frühere General und Minister Mosche Dayan (1915-1981) hatte sich dieser Glocken bemächtigt und sie in seinem Garten untergebracht. Vor etli­chen Jahren hatte seine Frau Ruth die junge israeli­sche Wissenschaftlerin Sary Mark, die über das Aberle-Haus in Sarona gearbeitet hat, besucht und ihr erzählt, dass sie sich daran erinnere, dass ihr Mann die Glocken in Besitz genommen habe. Auf die Frage, wo die Glocken denn seien, antwortete sie, dass sie in ihrem Garten gewesen seien, sie das Haus aber nach dem Tod ihres Ehemannes ver­kauft und somit keinen Zugriff mehr auf die Glocken habe. Das Haus hatte ein bekannter Anwalt gekauft; dieser sei aber vor kurzem gestorben.

Gemeindehausglocken Sarona (Foto: Shay Farkash)
Foto: Shay Farkash

Shay Farkash, der uns gut bekannte Restaurator, hatte begonnen, mit der Familie über die Herausga­be der Glocken zu verhandeln, und bezog die Stadt­verwaltung von Tel Aviv und Geldgeber für die Re­stauration der Glocken in diese Verhandlungen mit ein. Shay Farkash verpflichtete sich, dafür zu sor­gen, dass die Glocken wieder an ihrem ursprüngli­chen Platz läuten würden. Die Verhandlungen zo­gen sich über sechs Jahre hin, dann konnte Shay Farkash sie in seiner Werkstatt restaurieren (Bilder siehe Mai-Warte 2019). Er schickte sie zur Uhren­manufaktur Perrot nach Calw, wo die Uhr 1877 her­gestellt worden war. Dort wurden die Glocken für das elektronische System der bereits restaurierten Uhr aufgerüstet. Zwar dauerte es etwas länger als von Shay Farkash geplant, aber nun, im April 2021, nach insgesamt acht Jahren, sind die Glocken wieder auf dem Gemeindehaus von Sarona installiert worden. Nun können sie nach 80 Jahren des Schweigens wieder erklingen - und inzwischen ist auch entschieden worden, dass sie an das Uhrwerk angeschlossen werden und so mehrmals am Tag zu hören sein werden. Wir sind Shay Farkash sehr dankbar, dass er sich auch bei diesem Projekt mit so viel Energie und Zeit für das historische Erbe der Templer in Sarona eingesetzt hat.

Karin Klingbeil

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